
Ein Ort, der nicht gefunden werden will.
Das ist der Schauplatz dieses Debütromans, der uns in eine surreale Parallelwelt entführt. Ruth ist nach dem Unfalltod ihrer Eltern auf der Suche nach Groß-Einland, deren Geburtsort, an dem sie nach ihrem letzten Wunsch auch beerdigt werden möchten. Doch dieser Ort ist nirgends verzeichnet, es scheint ihn gar nicht zu geben. Ohne Karte und Navigation macht sich Ruth auf die Suche, geleitet von Erinnerungen an Erzählungen über diesen Ort und trifft auf ihrer tagelangen Reise schließlich auf zwei Männer, die genau dorthin wollen: nach Groß-Einland. Über Stock und Stein, tief in den Wald führt der Weg und man fühlt sich ein bisschen wie bei Alice im Wunderland, denn dies ist wahrlich kein gewöhnlicher Ort. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, über der mittelalterlich anmutenden Stadt herrscht eine Gräfin, die alle Fäden des gesellschaftlichen und politischen Lebens in der Hand hält. Sie ist die uneingeschränkte Herrscherin der auf den ersten Blick idyllisch anmutenden kleinen Gemeinde.
Doch der Schein trügt. Beim genaueren Hinsehen stellt man fest: Der Kirchturm steht schief, Straßen und Plätze senken sich ab und tiefe Risse zeichnen die Häuser, notdürftig verborgen durch die Reparaturversuche der Bewohner, die dem fortschreitenden Verfall der Stadt nicht wirklich Herr werden. Denn die Ursache sitzt viel tiefer.
Unter dem Ort befindet sich ein gigantischer Hohlraum, die weit verzweigten Überreste eines Bergwerks, in dem jahrhundertelang Rohstoffe abgebaut und unfachmännisch ausgeführte Grabungen vorgenommen wurden, die die Statik des Ortes nachhaltig beeinträchtigt haben. Die Erde bricht zunehmend auf, wird unterspült, das Land verflüssigt sich und ganz Groß-Einland droht im Loch zu versinken.
Die Gräfin sieht in der Physikerin Ruth die Retterin für den drohenden Untergang des Dorfes: sie soll einen Füllstoff entwickeln, der das Loch verschließt. Sie bietet Ruth eine Arbeit im Schloss und eine Unterkunft an, dass sich als Haus ihrer Großeltern entpuppt. Ruth nimmt das Angebot an und taucht ein in diesen unwirklichen Ort, in das bizarre Leben seiner Bewohner, aber auch in seine Vergangenheit. Sie beginnt, in der Geschichte des Ortes und ihrer Vorfahren zu recherchieren und entdeckt, dass sich in Groß-Einland während des Zweiten Weltkriegs eine Außenstelle des Konzentrationslagers Mauthausen befand und dass viele Zwangsarbeiter dort ums Leben kamen. Und wie konnte sich die selbsternannte Gräfin nach dem Krieg in den Besitz der gesamten Kleinstadt bringen?
Anfänglich hatte ich Mühe, in das Buch reinzukommen. Gerade die ersten Seiten fand ich sprachlich holperig, die Namensgebung im Dorf übertrieben albern (Ingenieur Heinzelmann…) und das Verhalten der offenbar medikamentenabhängigen Protagonisten schlichtweg unverständlich. So weiß man letztlich auch nicht, ob die gesamte Geschichte nicht einem eskalierten Drogenrausch entsprungen ist. Wer fährt schon los zu einem Ort, den es gar nicht gibt und schmeißt auch noch unterwegs sein Handy weg?
Aber als sich erstmal herauskristalliert hat, worum es da eigentlich geht, nämlich um eine Parabel über ein ganz dunkles Kapitel in der Geschichte Österreichs, da war ich wach. Und zunehmend begeistert über die Genialität dieser Konstruktion.
Das fiktive Groß-Einland als Sinnbild für den immer noch tabuisierten Umgang Österreichs mit der eigenen Vergangenheit. Bis heute wird die Mitverantwortung an den Verbrechen der NS-Zeit geleugnet oder verharmlost, die Schuldfrage an die deutsche Wehrmacht weitergereicht. So wie in Groß-Einland betrieb das Konzentrationslager Mauthausen im Zweiten Weltkriegs 40 Außenstellen in unterirdischen Anlagen.
Hier begegnet uns dieser schwarze Fleck in der Vergangenheit in der Form des schwarzen Lochs wieder, dass die mühsam aufrechterhaltene Fassade der heilen Welt in die Tiefe zu reißen droht. So wie die Bewohner versuchen, die Risse und Löcher in ihren Häusern zuzuspachteln und den drohenden Untergang ihres Dorfes zu ignorieren, so funktioniert noch heute bei vielen Österreichern die kollektive Verdrängung. Der wunden Stelle in der Vergangenheit, auf die Edelbauers Protagonistin ganz direkt verweist:
„Ein letztes Teilrätsel bestand in der Frage, wie zehn Wachmänner das Töten von achthundert Menschen zustande gebracht hatten. Ich vermutete längst, dass man dem Wachpersonal geholfen haben musste, doch auch das wurde unter einer formelhaften, pittoresk bedauernden Standardversion der Dinge verborgen: Die Wehrmacht hatte das getan, die Wehrmacht, die Wehrmacht, die Wehrmacht hatte alles beschlagnahmt.“ (S.189)
Das Loch wird zur Metapher für das Begraben der eigenen Schuld, an der sich alle Dorfbewohner beteiligen. In der Nacht kommen sie aus ihren Häusern, man hört den Aufprall von Gegenständen, die in das Loch geworfen werden. „Was man in das Loch warf, waren Dinge, für die man sich schuldig fühlte.“ (S. 315).
Ein wichtiges Buch gegen das Verdrängen und Vergessen und völlig zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.
Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land. Stuttgart: Klett-Cotta, 2019