
Eine namenslose Insel, wie aus der Zeit gefallen. In dieser archaisch-patriarchalischen Dorfgemeinschaft herrschen eigene Traditionen und Gesetze, eine eigene Religion. Die Errungenschaften der modernen Gesellschaft finden zwar gelegentlich den Weg übers Meer, werden aber vom Ältestenrat abgelehnt, man wähnt sich im Mittelalter. Frauen haben hier keine Stimme, sie sind in erster Linie fürs Arbeiten zuständig. Lesen und Schreiben lernen ist den Männern vorbehalten. Wer aufbegehrt, kommt an den Pfahl. Von dieser Insel entkommt man nicht.
Hier erzählt uns die Außenseiterin des Dorfes ihre Geschichte. Als Findelkind vom Bethausvater, dem religiösen Oberhaupt der Gemeinde, aufgezogen, wird sie von den Dorfbewohnern geächtet, den Kindern verspottet und für Schicksalschläge jeglicher Art verantwortlich gemacht. Ohne Familie ist sie nicht in den Stammbüchern verzeichnet, hat keinerlei Rechte und noch nicht einmal einen Namen, denn dazu müsste man nach den Gesetzen des Dorfes die Eltern kennen. Sie wächst in dem Bewusstsein auf, dass niemand sich für ihr Leben interessiert und dass niemand ihr nach dem Tod ein Miroloi singen wird, das traditionelle Totenlied der griechisch-orthodoxen Kirche, dass das Leben des Verstorbenen zusammenfasst. Und so singt sie es selbst, ein Totenlied für sich selbst, in 128 Strophen.
Über ihr Leben als Ausgestoßene, aber auch über erste Schritte hinaus aus der Unmündigkeit, denn heimlich lernt sie lesen und schreiben. Und sie lernt mit dem Bethausschüler Yael die Liebe kennen, die ungeahnte Kräft freisetzt.
Als ich die Kritiken über dieses Buch gelesen habe, dachte ich einen kurzen Moment, das Buch wäre noch gar nicht zu Ende, denn interessanterweise stammten die negativsten Statements ausnahmslos von Männern. Und tatsächlich ist das ein Buch, dass man nicht nur mit dem Kopf lesen kann. Auf dieses Buch muss man sich auch gefühlsmäßig einlassen, sonst findet man keinen Zugang. Dieses Buch muss man fühlen. Und wer das tut, dem eröffnet sich eine ganze Welt.
Mich hat das Buch von der ersten bis zur letzten Seite gehabt. Gerade die einfache, zum Teil etwas infantile Sprache, die ja vielfach kritisiert wurde, macht das Buch für mich so authentisch. So spricht ein 15jähriges Mädchen in einer geschlossenen Gesellschaft, das von jeglichem Weltwissen abgeschnitten ist. Alles andere wäre falsch gewesen.
Ich habe mit der namenlosen Erzählerin mitgelebt, mitgefühlt und mitgekämpft und es hat mich sehr, sehr berührt. Ein Buch voller Traurigkeit, aber gleichzeitig voller Mut und Würde. Es ist keine Übertreibung wenn ich sage, dass es zu den besten Büchern gehört, die ich bisher gelesen habe.
Karen Köhler: Miroloi. München: Hanser Verlag, 2019