Thomas Hettche: Herzfaden

Hettche erzählt in diesem Roman die Geschichte der Augsburger Puppenkiste. Entstanden in den Kriegsruinen verbindet der Gründer Walter Oehmichen damit einen Neuanfang: „Das ist unser Theater. Diese Kiste. Sie ist alles, was uns geblieben ist. Sie steht in den Ruinen. In sie sperren wir alles ein, was war. Verwandelt wird es wieder herauskommen.“ (S. 161)
Und so werden die alten Hakenkreuzfahnen zu Vorhängen verarbeitet und etwas Neues beginnt.
Oehmichens bahnbrechendes Theaterprojekt ist in seinen Kriegserlebnissen begründet. Schon dort baute er für seine Kameraden ein Marionettentheater und ließ sie für eine kurze Zeit die Schrecken des Krieges vergessen. Seinen Mitabeitern erklärt er die Motivation seines Vorhabens folgendermaßen: „Viele würden ihn fragen, beginnt er, weshalb er kein richtiges Theater machen wolle. Aber ihm sei klar geworden, dass Puppentheater noch mehr Theater sei als Menschentheater. Marionetten seien die ehrlicheren Schauspieler. Sie ließen sich nicht verführen, und die Freude an ihnen sei eine wahre, unschuldige Freude.“ (S. 158)
Und er beendet seine Rede mit den Worten: „Als der Krieg vorbei war, sagte ich mir: Je stärker ich die Menschen aus dem Elend führen kann, desto mehr helfe ich ihnen.“ (S. 158)


Das Puppentheater wird ein Familienprojekt, an dem vor allem seine Tochter Hannelore, genannt Hatü, maßgeblich beteiligt ist. Ihr Sohn wird später ihr Werk fortsetzen,was er bis zum heutigen Tage tut.
Eingebettet wird die Geschichte in eine fiktive Rahmenhandlung: ein zwölfjähriges Mädchen gelangt nach einer Vorstellung auf einen alten Dachboden und trifft dort auf die bereits verstorbene Hatü und ihre Marionetten…

Mir hat die Geschichte der Augsburger Puppenkiste sehr gefallen, vor allem der Beweggrund ihres Entstehens. Der Wunsch, dem Kriegselend und der Naziideologie etwas entgegenzusetzen, ist hier gekonnt herausgearbeitet worden.
Der Ehrgeiz, als erfolgreicher Schauspieler diesen ungewöhnlichen Weg zu gehen und daraus ein Familienprojekt zu machen, war sehr beeindruckend und hat den Aufbruchswillen in dieser schwierigen Zeit gut zum Ausdruck gebracht. Da steckt ganz viel Hoffnung drin und das ist schön zu lesen.
Sehr bezeichnend ist auch der Titel des Buches, denn das ist in der Tat etwas, was das Marionetenspiel vermag: das Herz zu bewegen.

Die Rahmenhandlung fand ich im Kontrast eher schwach. Die Idee ist gut, aber mir war das mit den vielen agierenden Marionetten zu überfrachtet. Als alter Freund der Augsburger Puppenkiste, insbesondere auch von Jim Knopf, war es zwar schön, die bekannten Figuren wieder auftauschen zu sehen. Das weckt wohlige Kindheitserinnerungen. Aber für den erzählerischen Zweck wäre Hatü und ihre (unbelebten) Marionetten völlig ausreichend gewesen. Dass diese dann ein Eigenleben entwickeln, war für mich eher befremdlich, insbesondere die Figur des bösen Kaspers.
In diesem Fall wäre weniger mehr gewesen.

Bewertung: 3.5 von 5.

Thomas Hettche: Herzfaden. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2020

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