Elif Shafak: Unerhörte Stimmen

Die Erzählssituation ist einigermaßen ungewöhnlich, denn hier spricht jemand, der bereits gestorben ist. Ermordet und in eine Mülltonne geworfen erinnert sich die Prostituierte Leila an die wichtigen Stationen ihres Lebens und an ihre Freunde, die so wie sie am Rande der Gesellschaft leben.

Man hört ja hier und da, dass im Moment des Todes nochmal das Leben an einem vorbeiziehen soll. Auch sind offenbar nach dem Herztod vereinzelt noch Gehirnaktivitäten messbar. Diese beiden Thesen greift der Roman auf geniale Weise auf. Jede Minute nach dem Tod eine Erinnerung an bedeutsame Momente auf ihrem Lebensweg, kombiniert mit einem für die Situation typischen Geruch. Das finde ich erzählerisch ausgesprochen gut gemacht.
Die Flucht vor einem entrechteten und fremdbestimmten Leben als Frau in der streng islamischen Dorfgemeinschaft trennt Leila schon früh von ihrer Familie und treibt sie in das Nachtleben Istanbuls. Dort trifft sie auf Weggefährten und Seelenverwandte und über all die Stationen auf diesem Weg berichtet dieser Roman.
Es ist eine Anklage an das Unrecht, dass den Frauen im Namen der Religion angetan wird, aber auch ein Appell, sich seinem Schicksal nicht zu ergeben.
Und es ist ein Buch über die Kraft der Freundschaft. Die Aktion ihrer Freunde rund um ihr Begräbnis war eins der vielen Highlights in diesem Buch, das Ende sehr bewegend und versöhnlich. Lediglich mit den letzten Seiten hatte ich so meine Probleme, da konnte ich dann nicht mehr so ganz mitgehen, obwohl es ein schönes und rundes Bild ergibt.

Schön ist, dass dieses Buch alles hat: von tiefer Traurigkeit bis zu ausgesprochen komischen Momenten ist alle dabei. Dass es nicht die volle Punktzahl von fünf Sternen bekommen hat, liegt daran, dass es bei mir eine nicht so starke emotionale Reaktionen ausgelöst hat. Das ist eine schmale Gratwanderung und trotz allem ein ganz großartiges Buch!

Bewertung: 4.5 von 5.

Elif Shafak: Unerhörte Stimmen. Berlin: Kein und Aber Verlag, 2019

2 Gedanken zu “Elif Shafak: Unerhörte Stimmen

  1. Elif Shafak fand ich schon ganz großartig bei „Der Geruch des Paradieses“, in dem sie sich mit drei völlig verschiedenen Ansätzen, den Islam zu leben anhand dreier Freundinnen beschäftigt. Vielleicht würde dir das Buch auch gefallen (http://wissenstagebuch.com/2018/03/21/elif-shafak-der-geruch-des-paradieses-2016/ ). Aber auch hier war ich nicht hundertprozentig überzeugt, ebenso, wie du es oben beschreibst. Ein Funken fehlte noch, trotzdem würde ich jederzeit wieder etwas von der Autorin lesen. Die Geschichte oben klingt einigermaßen drastisch, aber wenn sie dir so gut gefallen hat, glaube ich, dass Shafak aus der Ausgangssituation oben eine Menge herausgeholt hat. Danke für den Tipp.

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