
„Eines Morgens wachte ich auf und sah die Welt verschwinden.“ Wer hinter diesem ersten Satz den Auftakt einer mystischen Erzählung vermutet, muss leider enttäuscht werden, denn hinter der verschwommenen Wahrnehmung steckt eine vergleichsweise profane Augenerkrankung. Die steht allerdings symbolisch Pate für das eigentliche Thema dieses Buches, nämlich den Blick zu schärfen auf die zentrale Frage: Wie kann ich als Tochter kurdischer Einwanderer einen Platz in dieser Gesellschaft finden, jenseits aller Erwartungen und nur in Übereinstimmung mit sich selbst?
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Diesen Prozess der Selbstverortung darf der Leser auf 128 Seiten begleiten. Thematisch erinnert es an Deniz Ohdes Streulicht, denn auch hier geht es um eine Bildungsaufsteigerin kurdischer bzw. türkischer Abstammung, wenn auch unter anderen familiären Bedingungen. Um es gleich vorab zu sagen, mir hat Kiyaks Version der Geschichte deutlich besser gefallen. Die Schilderungen waren für mich kraftvoller, die Widersprüche genauer herausgearbeitet.
Beispielsweise der Wunsch der Eltern, dass die Tochter in der Gesellschaft Fuß fasst, eine gute Ausbildung bekommt und beruflich erfolgreich ist. Gleichzeitig bedeutet das aber auch eine Entfremdung von der Familie, denn die Tochter taucht damit in eine Welt ein, zu der die anderen Familienmitglieder keinen Zugang haben. Das ist oft schmerzlich, für beide Seiten.
Trotz aller Aufbruchsstimmung hat mir die Verbundenheit mit den eigenen kulturellen Wurzeln sehr gefallen. Die Schilderung der kurdischen Großfamilie mit ihren ganzen Tanten und Cousinen, die sich lebhaft in alles einmischen, hatte etwas sehr liebevolles.
Trotz vieler lohnenswerter Themen konnte mich das Buch nicht wirklich überzeugen, was eindeutig dem Schreibstil geschuldet ist. Dieser stakkatohafte Stil, in dem ein kurzer Hauptsatz nach dem anderen abgefeuert wird, und der analytische Unterton halten den Leser auf Abstand. Man schaut stattdessen von außen drauf, nickt ein paarmal zustimmend mit dem Kopf, aber eine wirkliche Verbindung entsteht so nicht.
Mely Kiyak: Frausein. München: Hanser, 2020