
Ein Buch mit 885 Seiten ist eine Herausforderung und hat etwas Anlaufzeit gebraucht. Und um es gleich vorweg zu sagen: diesen groß angelegten Familienroman liest man am besten am Stück. Denn er enthält jede Menge verwandschaftliche Verzweigungen, bei denen man schnell den Überblick verlieren kann. Der Stammbaum am Ende des Buches ist zwar hilfreich, ersetzt aber nicht den inhaltlichen Lesefluss.
In diesem umfangreichen Roman entwickelt Tergit die Geschichte dreier jüdischer Familien, die es in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen zu Wohlstand und Ansehen bringen. Dem wechselhaften Familienleben mit seinen alltäglichen und persönlichen Dramen folgt man auf der historischen Kulisse Berlins, beginnend im Jahre 1884 mit der ersten Fabriksgründung Paul Effingers bis zum Frühling 1948, mit dem das Buch endet.
Wie man sich bei der großen und ereignisreichen Zeitspanne denken kann, entfaltet sich hier Weltgeschichte in sehr greifbarer Form. Nicht abstrakt, sondern in ihren unmittelbaren Auswirkungen auf den Einzelnen.
Das hat mir ausgesprochen gut gefallen. Sehr gut herausgearbeitet fand ich das Aufeinanderprallen der Generationen, dem Festhalten an Traditionellem auf der einen und dem Streben nach Fortschritt und Moderne auf der anderen Seite. Das spiegelt nicht nur die gesellschaftliche Entwicklung, sondern auch die relevanten Themen der Zeit wider. Ähnlich gut dargestellt ist der immer stärker anwachsende Antisemitismus, der in der Machtübernahme der Nationalsozialisten und dem Holocaust seinen Höhepunkt findet. Diese Entwicklung aus der Innenansicht einer jüdischen Familie zu betrachten, war sehr authentisch und macht dieses Buch zu einem so eindrucksvollen, wie beklemmenden Zeitzeugnis.
Inhaltlich war das Buch auf jeden Fall ein Gewinn, auch wenn es in den bürgerlichen Alltagsszenen doch deutliche Längen hatte. Da wurden zu viele Seiten mit Nebensächlichkeiten gefüllt, die zum Fortgang oder Gehalt der Geschichte wenig beigetragen haben. Der Roman wirkte dadurch leicht aufgebläht und hat bei mir die Lesefreude zwischenzeitlich etwas getrübt.
Gebriele Tergit: Effingers. München: btb Verlag, 2020 (Original 1951)