Tom Rob Smith: Kind 44

Als in Moskau die Leiche eines kleinen Jungen auf den Bahngleisen entdeckt wird, lässt die Auffindesituation eigentlich keinen Zweifel zu: hier handelt es sich um ein Gewaltverbrechen. Doch das ist im Jahre 1953 im sowjetischen System nicht vorgesehen. Der Geheimdienstoffizier Leo Demidow bekommt den Auftrag, das Verbrechen als Unfall einzustufen und das auch unmissverständlich den verzweifelten Angehörigen klarzumachen, die weitere Ermittlungen fordern.
Die Angelegenheit scheint für Leo bereits erledigt, bis er aufgrund interner Machtkämpfe degradiert und in ein kleines Dorf versetzt wird. Dort stößt er überraschend auf neue Spuren des Verbrechens und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln…

Wir haben in der Leserunde festgestellt, dieses Buch zu bewerten, ist nicht einfach. Denn es geht dermaßen gut los, dass man denkt, das könnte ein Highlight werden. Die gesellschaftlichen Bedingungen und der Überwachungsapparat der Sowjetunion in den 50er Jahren sind sensationell gut herausgearbeitet und gibt einen guten Einblick in die Mechanismen eines Polizeistaates, in dem der Einzelnen völligster Willkür ausgesetzt ist. Was heute richtig ist, kann morgen schon falsch sein.
Unter diesen Bedingungen einen Mord aufzuklären – in einem Staat, in dem es offiziell gar keine Mörder gibt -, ist wahrlich eine Kunst und dieses Dilemma ist hier richtig gut herausgearbeitet worden.

Nur leider hat man spätestens ab der Hälfte begonnen, den eigentlichen Kriminalfall schmerzlich zu vermissen, der eigentlich bis zum Schluss eher im Hintergrund geblieben ist. Selbst als der Mörder irgendwann auf der Bildfläche erscheint, bleibt weiterhin Leo im Zentrum des Geschehens. Statt mehr über den Mörder oder die Taten selbst, dreht sich die Geschichte überwiegend um Leos Machtspiele mit seinem Kollegen, seine schwierige Ermittlungsarbeit und seine verkorkste Beziehung.

Das ist zwar nicht uninteressant und mit den vielen dramatischen Verwicklungen auch durchweg spannend, aber ich hätte mir da noch ein bisschen mehr Kriminalfall gewünscht. Das hätte mich aber alles nicht sonderlich gestört, wäre da nicht die Auflösung gewesen. Die Motivation des Täters fand ich doch sehr fragwürdig und wenig überzeugend. Vor allem wenn man denkt, dass die Geschichte auf einer wahren Begebenheit basiert und welche Motivation der reale Täter hatte. Unter diesem Blickwinkel wirkt es ein stückweit verharmlosend und wird der eigentlichen Geschichte nicht gerecht. Muss man in einer fiktiven Darstellung zwar nicht, aber wenn man einen realen Fall in dieser Deutlichkeit aufgreift, sollte man ihn nicht durch eine gänzlich andere Motivation des Täters verharmlosen. So bekommt dieser eigentlich gute Thriller durch das Ende einen etwas bitteren Nachgeschmack.

Bewertung: 3.5 von 5.

Tom Rob Smith: Kind 44. München: Goldmann Verlag, 2010

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