Donna Leon: Venezianisches Finale

Tragödie in Venedigs berühmten Opernhaus: Der Stardirigent Helmut Wellauer stirbt während der Aufführung, in seiner Garderobe der unverkennbare Duft nach Bittermandeln.
Brunetti und seine Kollegen beginnen fieberhaft mit den Ermittlungen, wer den Opernstar vergiftet haben könnte und stellen fest: erstaunlich viele hatten ein Motiv…

Eigentlich hatte ich das Buch schon aussortiert, denn Donna Leon hatte ich gedanklich in die Kitschschublade einsortiert. Kurz vor dem Bücherschrank hat mich jedoch meine spätere Lesepartnerin aufgehalten, mit der ich das Buch dann doch zusammen gelesen habe. Und ich muss sagen, ich bin positiv überrascht und auf jeden Fall eines besseren belehrt.
Es wird jetzt zwar nicht meine Lieblingskrimireihe werden, aber ist ein durchaus solider Krimi in alter Erzähltradition.
Ein Mord, viele Verdächtige, das Ganze weitgehend unblutig und ohne großes Aktionspektakel.
Ich hatte anfangs Mühe mit der venezianischen Kulisse – automatisch ist bei mir der traditionelle Krimi in England verortet. Da muss man erstmal umdenken. Auch war für mich die Figur des Brunetti zunächst etwas farblos und ich hatte Mühe, in das Buch reinzukommen. Das italienische Temperament und die farbenfrohe Lebendigkeit der Stadt kam für mich nicht stark genug rüber.
Trotzdem war die Geschichte gut erzählt, überwiegend spannend und in der Auflösung plausibel.
Auch wenn ich mir die Figuren und die venezianische Kulisse noch kraftvoller gewünscht hätte, kann ich mir doch vorstellen, Brunetti noch eine zeitlang zu begleiten..

Bewertung: 3.5 von 5.

Donna Leon: Venezianisches Finale. Zürich: Diogenes, 1995 (Orig. 1993)

Stefanie vor Schulte: Junge mit schwarzem Hahn

Ein namenloses Dorf im Mittelalter: Nach einem Massaker, begangen vom eigenen Vater, ist der elfjährige Martin der einzige Überlebende seiner Familie. Gemeinsam mit seinem schwarzen ist der Junge sich selbst überlassen, denn die abergläubischen Dorfbewohner sehen in dem Hahn den Teufel. Als ein wandernder Maler in das Dorf kommt, entschließt sich Martin mit ihm zu ziehen. Auf seinem Weg muss er mit ansehen, wie ein schwarzer Reiter ein Neugeborenes entführt – so wie schon viele Jahre zuvor. Martin begibt sich auf die Spur der verschwundenen Kinder und begegnet ungeahnten Abgründen…

Ich lese ja gerne Geschichten, die im Mittelalter spielen und auch hier ist die Stimmung und die Lebensumstände der damaligen Zeit sehr eindrücklich eingefangen. Erschreckend, wie verbreitete die schlimmsten Formen der Gewalt, Armut und Krankheit zu dieser Zeit waren. Erschreckend aber auch die Grausamkeit und Willkür der zum Teil völlig verrückten Adligen.
Die Geschichte um den unerschrockenen Martin, der sich trotz aller Widrigkeiten nicht unterkriegen lässt und mit seiner Intelligenz auch den Stärksten trotz, hat mir sehr gut gefallen. Die Geschichte ist durch ihren Erzählstil im Präsens sehr intensiv, wozu auch die kurzen Sätze und der vergleichsweise geringe Seitenumfang des Buches beiträgen. Das lässt die Geschichte noch stärker wirken.
Besonders gefallen hat mir auch das Erlkönig-Motiv, das hier aufgegriffen wird.
Ein sehr gelungenes Debüt!

Bewertung: 4.5 von 5.

Stefanie vor Schulte: Junge mit schwarzem Hahn. Zürich: Diogenes, 2021

Andreas Moster: Kleine Paläste

„Es ist nicht das erste Mal, dass der Hund versucht, mich umzubringen.“
Manchmal spürt man bereits beim ersten Satz: Das könnte ein Buch für mich werden…


Nach dem Tod seiner Mutter kehrt Hanno nach vielen Jahren in sein Elternhaus zurück, dass er nach einem Zerwürfnis verlassen hat, um seinen dementen Vater zu pflegen – den Mann, der ihn einst aus dem Haus getrieben hat.
An der Seite des hilflosen Altenpflegers: die Nachbarin Susanne, einst Hannos Jugendfreundin, die nach dem Tod ihrer Eltern dort wohnen geblieben ist. Nachdem sie jahrelang das Geschehen im Nachbarhaus durch das Fernglas beobachtet hat, hat sie nun freie Bahn, sich um die Person ihres gesteigerten Interesses zu „kümmern“: Hannos Vater Carl. Dass hier nicht pure Nächstenliebe im Spiel ist, merkt man spätestens bei den Rückblenden ins Jahr 1986, die regelmäßig in die Geschichte eingestreut werden. Ein Ereignis aus dieser Zeit lässt auch die Verstorbenen der beiden Familien nicht ruhen…

In meiner kleinen Leserunde haben wir uns schon gefragt, wie man die Vielschichtigkeit und feinen Nuancen in diesem Buch beschreiben soll. Tatsächlich eine Herausforderung. Vielleicht reicht es einfach zu sagen, dass der Autor ganz viele wichtige Themen in diesem Buch anschneidet und zwar nicht, indem er alles auf einen Haufen kippt und den Leser darunter erschlägt, sondern daraus ein Art Teppich webt, den man staunend beschreitet. Sprachlich geschickt hat er die Themen Generationenkonflikt, stereotype Geschlechterrollen, Pflege von Familienangehörigen, Demenz, Alkoholismus und dysfunktionale Familien miteinander verknüpft. Das große Thema des Romans ist jedoch ein anderes: das Wahren der gutbürgerlichen Fassade um jeden Preis. Für das große Schweigen hat Moster großartige Worte gefunden. Sehr eindringlich und absolut lesenswert.

Bewertung: 4.5 von 5.

Andreas Moster: Kleine Paläste. Hamburg: Arche Verlag, 2021

Fjodor Dostojewski: Der Idiot



Fürst Myschkin reist nach einem längeren Kuraufenthalt in der Schweiz in seine Heimatstadt St. Petersburg zurück. Nach dem Tod seines Ziehvaters steht der an Epilepsie leidende Myschkin mittellos vor einer ungewissen Zukunft und sucht zunächst Unterschlupf bei einer entfernten Verwandten. In dem vornehmen Familienkreis gilt er aufgrund seiner gutmütigen Art schon bald als Idiot und wird zur Zielscheibe zahlreicher Intrigen. Zudem rückt ihn eine unerwartete Erbschaft in den Fokus zwielichtiger Gestalten…

Diesen Klassiker hab ich vor einiger Zeit als Hörbuch versucht, kam aber nicht so richtig rein in die Geschichte mit dem Fazit, dass ich es an anderer Stelle nochmal mit der Lesefassung versuche. Und das war jetzt.

Tja, und so richtig warm geworden bin ich mit ‚Der Idiot‘ immer noch nicht. Passenderweise vereinigen sich darin die zwei Seiten meiner Einstellung zu Klassikern, denn dieses Buch hat mich sehr zwiegespalten zurückgelassen.
Gerade die erste Hälfte des Romans hat mir von der Thematik und Stimmung her gut gefallen. Die Figur des Fürsten Myschkin, der in seiner naiv-gutmütigen Art von seiner Umgebung nicht ernst genommen und ausgenutzt wird, ist von Dostojewski als Prototyp des Gutmenschen sehr gut in Szene gesetzt worden. Das Besondere daran ist, dass der vermeintliche ‚Idiot‘ im Kontrast zu der völlig überdrehten großbürgerlichen Familie und den moralisch fragwürdigen Figuren ihres Umfeldes eigentlich als der einzig ‚Normale‘ erscheint. Dieser gesellschaftskritische Aspekt ist für mich die große Stärke dieses Romans.

Nur leider ist es mir hier ähnlich ergangen wie bei ‚Schuld und Sühne‘. Nach einem guten Start flacht die Geschichte in der zweiten Hälfte deutlich ab. In diesem Fall zog sich das Geschehen unnötig in die Länge, ohne dass wesentlich Neues beigesteuert wurde. Stattdessen verliert sich die Geschichte in endlosen Diskussionen und Streitereien, die zu nichts führen. Das war auf die Dauer sehr anstrengend und hat meine Lesefreude doch deutlich getrübt. Dazu muss man sagen, dass Dostojewski nicht gerade die einfachste Lektüre ist. Die Figuren haben durchgängig dreiteilige Namen, die jedoch nicht einheitlich verwendet werden. Mal wir nur der Nachname verwendet oder auch nur die ersten beiden Namen, die sich häufig auch noch stark ähneln. Also schon dabei muss man sich höllisch konzentrieren, wer überhaupt wer ist. Ohne meine Aufzeichnungen wäre ich komplett aufgeschmissen gewesen.

Bewertung: 3 von 5.

Fjodor Dostojewski: Der Idiot. Klagenfurt: Neuer Kaiser Verlag, 1986 (Original 1889)

Dagegen die Elefanten

Im Zentrum dieses Romans steht Herr Harald und er ist so ziemlich genau das, was man unter diesem Namen vermutet: ein unauffälliger, etwas farbloser Zeitgenosse ohne Ecken und Kanten, jedoch mit jeder Menge schrulliger Eigenschaften. Passend zum Namen hat er einen langweiligen Job an der Garderobe eines Theaters. Und es wundert nicht, dass er damit ganz zufrieden zu sein scheint.
Was passiert nun, wenn dieser spezielle Charakter in einer Tasche eines hängengelassenen Mantels eine Waffe findet?

Tatsächlich hat mich das so interessiert, dass es eines der wenigen Bücher der Longlist ist, die ich mir gekauft habe. Und grundsätzlich mag ich schräge Charaktere.
Allerdings muss diese Schrägkeit auch irgendwie in Szene gesetzt sein. Entweder durch subtilen Humor, Sprachwitz oder vereinzelte Charaktereigenschaften, in denen man sich irgendwie wiederfinden kann. Leider konnte ich nichts davon in diesem Roman entdecken. Ich fand die Figur des Herrn Haralds in seiner manirierten Art einfach nur sterbenslangweilig und kein bisschen unterhaltsam. Dass liegt sicherlich daran, dass diese Figur so ziemlich das Gegenteil von mir ist und ich da gar keine Anknüpfungspunkte finden konnte.

Zusätzlich zur farblosen Figur des Herrn Harald passiert in diesem Roman zumindest in der ersten Hälfte auch nicht besonders viel. Damit habe ich grundsätzlich erstmal kein Problem, wenn der Charakter selbst interessant ist. Ist er für mich allerdings nicht.
Dazu muss man ein gutes Drittel des Buches lesen, damit der Protagonist überhaupt die bereits im Klappentext beschriebene Waffe findet – was ja eigentlich das besondere Ereignis des Buches ist und auch mein Interesse geweckt hatte.
Leider war ich nach dieser langen Anlaufzeit schon so gelangweilt, dass ich mich nicht überwinden konnte, noch weiterzulesen. Irgendwie habe ich von Herrn Harald nicht mehr so viel Neues erwartet, ob mit oder ohne Pistole.

Möglicherweise tue ich ihm damit jetzt Unrecht, aber vielleicht ist es auch einfach ganz normal, dass nicht jedes Buch zu einem passt. Das heißt aber auch, dass es für andere durchaus passend sein kann, denn dieses Buch hat auch seine Stärken und das ist die ausgefeilte Sprache, in der es verfasst ist. Für mich hatte das leider zum Weiterlesen nicht gereicht, so dass ich meine Begegnung mit Herrn Harald nach der Hälfte des Romans beendet habe.

Allerdings muss man sagen, dass es sprachlich durchaus gut ist und sicher auch mit dazu beigetragen hat, dass es auf die Longlist des Buchpreises zu kommen. Nur hat das in meinem Fall nicht gereicht.

Bewertung: 1.5 von 5.

Dagmar Leupold: Dagegen die Elefanten. Salzburg: Jung und Jung, 2022

Marc Voltenauer: Wer hat Heidi getötet?

Ganz ehrlich, würde ich den Autor nicht schon kennen, hätte ich dieses Buch vermutlich nicht gelesen, denn ich finde den Buchtitel ausgesprochen unglücklich. Nun hatte ich aber bereits vor zwei Jahren den Vorgängerband des mir damals noch unbekannten Autors gelesen und war auf das Positivste überrascht. Und auch dieser hat mich nicht enttäuscht, um es gleich vorweg zu sagen…

Erneut wird das beschauliche Bergdorf in den Schweizer Alpen der Schauplatz einer Mordserie und Kommissar Andreas Auer ist wieder gefordert. Der unbekannte Täter entführt nacheinander mehrere Frauen, die sich auffallend ähneln. Doch das ist nicht das einzig Merkmal, das die Frauen verbindet…

Auch in diesem Band bin ich wieder sehr angetan von der Atmosphäre in diesem abgelegenen Bergdorf, die in diesem Krimi sehr gut in Szene gesetzt wird. Die Menschen kennen sich, haben aber ihre kleinen oder auch größeren Geheimnisse. Die Kulisse ist sehr idyllisch und bildet einen guten Kontrast zu den Mordfällen.
Auch Voltenauers Schreibstil finde ich wieder sehr angenehm und gut zu lesen.

Darüber hinaus gelingt ihm, woran viele Krimiautoren scheitern, nämlich eine sehr komplexe Geschichte verständlich, nachvollziehbar und ohne logische Schwachstellen zu erzählen. Denn hier gibt es von Beginn an zwei Fälle, die abwechselnd in zwei Erzählsträngen erzählt werden. Das macht die Geschichte sehr dynamisch und spannend – vor allem, weil die Ereignisse und Charaktere sehr unterschiedlich sind. In dem einen Fall kommt direkt ein bisschen Bond-Feeling auf.

Besonders angenehm finde ich auch die Figur des Ermittlers selbst. Er hat keine Sinnkrise, keine Alkoholprobleme, sondern ist eigentlich ein ganz normaler Typ, der gutes Essen und ein gutes Glas Wein liebt. Und er hat einen Partner.
Eigentlich sollte das nicht extra erwähnenswert sein, aber ich kenne bisher keinen Krimi oder Thriller mit einem homosexuellen Ermittler. Nun hat der Autor die Figur nicht deshalb so entworfen, weil das zur Zeit besonders gut ankommt und er einen Trend bedienen möchte, sondern weil es für ihm ganz natürlich zum Leben dazu gehört. Das macht den Kommissar und seinen Partner, der auch immer wieder an den Ermittlungen beteiligt ist, so authentisch. Und so sympathisch, dass man am liebsten selbst mit ihnen ein Glas Wein trinken würde.

Bewertung: 4 von 5.

Marc Voltenauer: Wer hat Heidi getötet? Köln: Emons Verlag, 2022

Jahreshighlights 2022

Wie im letzten Jahr habe ich meine Highlights in Belletristik und Thriller/Krimi (Bild 2) aufgeteilt und da gibt es doch deutliche Unterschiede.

Bei beiden Genres hatte ich Mühe, meine Top 5 auszuwählen – aber aus ganz unterschiedlichen Gründen. Während ich bei der Belletristik die Qual der Wahl hatte, aus vielen sehr guten Büchern die fünf besten rauszusuchen, kam ich bei den Thrillern gar nicht auf fünf. Es waren zwar eine Reihe guter Bücher dabei, aber wirkliche Highlights waren für mich nur drei. Daher habe ich konsequenterweise diesen Stapel etwas abgespeckt und hoffe auf ein glücklicheres Händchen 2023.

Wie im letzten Jahr ist mein absolutes Jahreshighlight im Bereich Belletristik ein älteres Buch, das schon länger bei mir im Regal gestanden hat, unerklärlicherweise…

📚 Anthony Marras: Die niedrigen Himmel – ein so ergreifendes und dazu hochaktuelles Buch über die Tschetschenienkriege, für das ich ganz ausdrücklich Werbung machen möchte!

Meine vier weiteren Highlights, die mich auf ganz unterschiedliche Weise berührt haben, sind:

📚 Esther Kinsky: Rombo
📚 Fatma Aydemir: Dschinns
📚 Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe
📚 Alena Schröder: Junge Frau am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid



Bester Thriller des Jahres war für mich:

📚 Chris Carter: Blutige Stufen – maximal spannend UND intelligent gemacht, was nicht ganz unwichtig ist… Auf jeden Fall weiß ich jetzt, dass 2023 mein Carter-Jahr wird, ich hab nämlich Band 2-11 noch nicht gelesen – Mut zur Lücke…

Ein weiteres Highlight hat mich auf den letzten Metern erreicht:

📚 Peter Grandl: Turmgold – auch Band 2 konnte mich total begeistern und hätte ich Turmschatten nicht schon vor einiger Zeit in der Originalausgabe gelesen, hätte ich es direkt dazu gepackt.

Das dritte Buch ist ein Krimi aus einer wirklich empfehlenswerten Reihe, die ich dieses Jahr neu für mich entdeckt habe:

📚 Thomas Ziebula: Engel des Todes (Band 3 der Reihe)

Und nun bin ich gespannt, welche Highlights mich 2023 erwarten!

Nino Haratischwili: Das mangelnde Licht

Anlässlich eine Fotoretrospektive treffen die drei alten Freundinnen Keto, Nene und Ira wieder aufeinander. Gezeigt werden Bilder aus ihrer gemeinsamen Zeit in Georgien – aufgenommen von der Vierten im Bunde, die nicht mehr bei ihnen sein kann.
Beim Betrachten reflektiert Keto die Geschichte hinter den Bildern und entwirft so ein Bild von einem Staat im Umbruch, der ersten großen Liebe und einer tiefen Freundschaft.

Spätestens seit ‚Das achte Leben‘ kennt man Haratischwili als Autorin monumentaler Geschichten mit großem Seitenumfang. Tatsächlich erschlägt es einen aber nur vorab, als Respekt vor der Aufgabe sozusagen. Denn erstmal angefangen, spürt man eigentlich nur noch an der Schwere des Buchs, dass es so viele Seiten sind. Denn Haratischwilis Sprache ist so schön, dass es eine Freude ist und sich kein bisschen wie Arbeit anfühlt.

Auch in diesem Roman schafft sie es, einem die Figuren sehr nahe zu bringen. Und das nicht nur die Hauptpersonen, sondern auch die Nebenfiguren erwachen in diesem Roman quasi zum Leben und das ist für mich die ganz große Stärke der Autorin: die gute Ausarbeitung der Charaktere.
Gleiches gilt für die Darstellung der gesellschaftlichen Entwicklungen in ihrem Heimatland Georgien, das eng mit der eigenen Geschichte verknüpft ist. Ich denke, dass hier auch sehr viele eigene Erlebnisse eingeflossen sind und das macht diesen Roman so authentisch.

Auch wenn mich ‚Das mangelnde Licht‘ nicht ganz so berührt hat, wie ‚Das achte Leben‘, hat dieses Buch wieder bestätigt, dass Harataschwili für mich zu den besten deutschsprachigen Autorinnen gehört.

Bewertung: 4.5 von 5.

Nino Haratischwili: Das mangelnde Licht. Frankfurt/Main: Frankfurter Verlagsanstalt, 2022

Viveca Sten: Kalt und still

Nach einigen persönlichen Schicksalsschlägen sucht die Polizisten Hannah Ahlander Zuflucht im Ferienhaus ihrer Schwester im Norden von Schweden. Doch die gewohnte Ruhe in dem verschneiten Bergdorf ist in hektischen Aufruhr umgeschlagen. Bei minus 20 Grad ist eine Schülerin nach einer Party verschwunden und jede Minute zählt. Hannah beteiligt sich an den Suchaktionen und entdeckt schon bald mysteriöse Dinge in diesem so harmlos wirkenden Dorf…

Dieses Buch zu bewerten fällt mir echt schwer, denn wie das beschriebene Bergdorf hatte es für mich Höhen und Tiefen.
Ganz klar für das Buch spricht, dass es einen sehr angenehm flüssigen Schreibstil hat und es sich wirklich gut lesen lässt. Kombiniert mit den kurzen Kapiteln und den Perspektivenwechseln flutscht man nur so durch die Seiten und ich habe mich trotz der inhaltlichen Mängel gut unterhalten gefühlt. Auch wenn sich vieles schon angedeutet hat, war ich doch bis zum Schluss auf die Auflösung gespannt. Auch die Atmosphäre in diesem verschneiten Bergdorf hat mir gut gefallen. Soweit ein angenehm und gut zu lesender, solider Krimi und alles könnte so schön sein.

Nur leider gab es für mich auch einige handwerkliche und inhaltliche Stolpersteine, die meine Lesefreude etwas getrübt haben. Einige Charaktere waren für mich schon sehr klischeehaft und auch einzelne Szenen ziemlich plump entworfen, einschließlich der verschiedenen gelegten Fährten. Dass wir den Täter in der Leserunde eigentlich schon spätestens nach der Hälfte im Verdacht hatten, hat mich dabei gar nicht so gestört, sondern die vielen doch recht unwahrscheinlichen Ereignisse in diesem Krimi.
Immer wieder musste man sich fragen: Wer macht sowas? Wie wahrscheinlich ist das? Auch bei einem Krimi sollte es nicht allzu viele dieser Momente geben, finde ich.
Gerade zum Ende kam da einiges zusammen. Die dramatische Entwicklung rund um Hannah am Schluss war ja nochmal sehr spannend, aber die Auflösung…

Wie gesagt, für mich ein Krimi mit Höhen und Tiefen, aber im Großen und Ganzen habe ich mich gut unterhalten gefühlt.

Bewertung: 3.5 von 5.

Viveca Sten: Kalt und still. München: dtv, 2022

Anna Yeliz Schentke: Kangal

Dilek lebt mit ihrem Freund Tekin in Istanbul und leidet zunehmend unter den politischen Verhältnissen. Als ‚Kangal 1210‘ ist sie in den sozialen Medien aktiv und äußert sich kritisch über die Regierung. Doch die Repressionen gegenüber politischen Weggefährt:innen lösen große Ängste in ihr aus.

In Istanbul haben wir gelernt, anonym zu sein, anonym unter vielen und anonym im Netz. Aber das reicht nicht mehr, das habe ich begriffen. Sie können die Wohnung stürmen, dich festhalten, mitnehmen und du kannst noch nicht mal die Polizei rufen. Sie sind die Polizei.

Um dem zu entkommen und ohne ihren Freund einzuweihen, beschließt Dilek nach Deutschland zu fliegen – zu ihrer Cousine Ayla, mit der sie viele schöne Kindheitserinnerungen teilt, auch wenn sich ihre Mütter inzwischen verstritten haben.
Doch in Deutschland trifft sie auf treue Anhänger:innen besagter Regierung und eine Cousine, die mit der Türkei nur noch ein Urlaubsparadies verbindet…

Noch ein Buch der diesjährigen Longlist, was für meinen Geschmack zu wenig Beachtung erfahren hat. Denn das Thema, um das es hier geht, ist nach wie vor hochaktuell. Das macht für sich erstmal kein gutes Buch aus. Aber wie genau die Autorin die Problematik herausarbeitet, wie fokussiert sie die Konflikte beschreibt, wie vielschichtig sie dabei vorgeht – das ist für mich gute Literatur.
Ihre Schilderungen bewegen sich zwischen den Innenansichten Dileks, ihres Freundes und ihrer Cousine hin und her und auch wenn sich ihre Standpunkte unterscheiden, kann man doch vieles sehr gut nachvollziehen. Für mich war die Ausnahmesituation, in der sich Dilek befindet sehr greifbar, insbesondere das Gefühl einer permanenten Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die zitierte Passage bringt es für mich sehr gut auf den Punkt.
Für mich ein Buch, dass trotz seiner Kürze einen großen Eindruck hinterlassen hat.

Bewertung: 4 von 5.

Anna Yeliz Schentke: Kangal. Frankfurt/Main: Fischer Verlag, 2022