Anthony Marra: Die niedrigen Himmel

Mit diesem Buch verbindet mich eine längere Geschichte. Nachdem das Buch viele Jahre im Regal stand, schien mir im März, kurz nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine, der richtige Zeitpunkt dafür. Denn es ist ein Buch über den Krieg – den ersten und zweiten Tschetschenienkrieg.
Doch schon nach den ersten Kapiteln musste ich es erstmal zur Seite legen und danach auch immer wieder, so dass sich das Lesen über viele Monate hingezogen hat. Mich hat das Lesen unterschwellig so belastet, dass ich es mir innerlich vom Leib halten musste und so nicht wirklich in die Geschichte reingekommen bin. Dazu kommt, dass das Buch in den Zeiten hin- und herspringt, so dass man schon recht aufmerksam lesen muss. Und das möglichst auch ohne größere Pausen, damit man nicht den Faden verliert, denn die Geschichte ist in ihrem historischen Kontext schon komplex. Spätestens im letzten Drittel hab ich jedoch gemerkt, dass ich hier etwas ganz Besonderes in den Händen halte. Und so hab ich nach der letzten Seite an den Anfang zurückgeblättert und von neuem begonnen. Und diesmal erst wirklich erlebt, was dieses Buch für ein ungeheurer Schatz ist.

Es ist die Geschichte von Achmed, der die Tochter seines Freundes Dokka vor den russischen Besatzern in Sicherheit bringt. Dieser ist in die berüchtigte Deponie verschleppt worden – ein Folterlager der Föderalen, das kaum einer lebend verlässt.
Es ist die Geschichte der Ärztin Sonja, die in einem verfallenen Krankenhaus Minenopfer verarztet und verzweifelt nach ihrer verschollenen Schwester Natascha sucht.
Und es ist die Geschichte Nataschas, die als Sexsklavin nach Italien verschleppt wird.

Dieses Buch hat mich in jeder Beziehung an meine Grenzen gebracht. Ich habe sehr mitgelitten, gleichzeitig aber auch die Hoffnung und die Mitmenschlichkeit gespürt, die den Protagonist:innen auch unter den schlimmsten Bedingungen nicht verlorengeht. Es gehört zu den bewegensten Büchern, die ich jemals gelesen habe und hat mich mehrfach zu Tränen gerührt. Und das umso mehr, da ein wesentlicher Teil dieser fiktiven Geschichte auf Tatsachenberichten beruht.

Ein Buch, dass noch lange in mir nachhallen wird und dem ich viele Leser:innen wünsche.

Bewertung: 4.5 von 5.

Antony Marra: Die niedrigen Himmel. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2014

Thomas Ziebula: Abels Auferstehung

Leipzig 1920: Neben den politischen Unruhen, denen das Land nach dem Krieg ausgesetzt ist, muss Kriminalinspektor Stainer auch noch den gewaltsamen Tod seiner Frau verkraften. Als wäre das nicht schon genug, fordert der mysteriöse Mord eines Soldaten seine ganze Aufmerksamkeit. Die Ermittlungen führen ihn in das Milieu schlagender Studentenverbindungen…

Ich hab ja nun mittlerweile alle drei Bände der Reihe gelesen und was mir unheimlich gut gefällt ist die Art, wie der Autor das Lebensgefühl dieser Zeit einfängt. Und zwar genau dieser Zeit. Sind die Kutscher-Krimis überwiegend in den 30er Jahren angesiedelt, dreht Ziebula die Uhr um 10 Jahre zurück. Und diese ebenso ereignisreiche Zeit ist so spannend wie der Kriminalfall selbst. Wie bei den anderen Bänden stellt der Autor die Probleme der Kriegsheimkehrer in den Vordergrund, die ja auch im Leben des Kommissars eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Dabei zeigt er ein gutes Gespür für die psychologische Ausgestaltung seiner Figuren und macht seine Romane dadurch sehr authentisch. Gut gewählt und historisch sehr passend finde ich auch das Milieu der Studentenverbindungen, in das man in diesem Roman eintaucht. Kriminalfall und zeitgeschichtliche Entwicklungen sind hier sehr geschickt miteinander verbunden.

Ein in jeder Beziehung lesenswerter Kriminalroman und eine wirklich empfehlenswerte Reihe.

Bewertung: 4.5 von 5.

Thomas Ziebula: Abels Auferstehung. Hamburg: Rowohlt Verlag, 2021

Gabriele Tergit: Effingers

Ein Buch mit 885 Seiten ist eine Herausforderung und hat etwas Anlaufzeit gebraucht. Und um es gleich vorweg zu sagen: diesen groß angelegten Familienroman liest man am besten am Stück. Denn er enthält jede Menge verwandschaftliche Verzweigungen, bei denen man schnell den Überblick verlieren kann. Der Stammbaum am Ende des Buches ist zwar hilfreich, ersetzt aber nicht den inhaltlichen Lesefluss.

In diesem umfangreichen Roman entwickelt Tergit die Geschichte dreier jüdischer Familien, die es in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen zu Wohlstand und Ansehen bringen. Dem wechselhaften Familienleben mit seinen alltäglichen und persönlichen Dramen folgt man auf der historischen Kulisse Berlins, beginnend im Jahre 1884 mit der ersten Fabriksgründung Paul Effingers bis zum Frühling 1948, mit dem das Buch endet.
Wie man sich bei der großen und ereignisreichen Zeitspanne denken kann, entfaltet sich hier Weltgeschichte in sehr greifbarer Form. Nicht abstrakt, sondern in ihren unmittelbaren Auswirkungen auf den Einzelnen.
Das hat mir ausgesprochen gut gefallen. Sehr gut herausgearbeitet fand ich das Aufeinanderprallen der Generationen, dem Festhalten an Traditionellem auf der einen und dem Streben nach Fortschritt und Moderne auf der anderen Seite. Das spiegelt nicht nur die gesellschaftliche Entwicklung, sondern auch die relevanten Themen der Zeit wider. Ähnlich gut dargestellt ist der immer stärker anwachsende Antisemitismus, der in der Machtübernahme der Nationalsozialisten und dem Holocaust seinen Höhepunkt findet. Diese Entwicklung aus der Innenansicht einer jüdischen Familie zu betrachten, war sehr authentisch und macht dieses Buch zu einem so eindrucksvollen, wie beklemmenden Zeitzeugnis.

Inhaltlich war das Buch auf jeden Fall ein Gewinn, auch wenn es in den bürgerlichen Alltagsszenen doch deutliche Längen hatte. Da wurden zu viele Seiten mit Nebensächlichkeiten gefüllt, die zum Fortgang oder Gehalt der Geschichte wenig beigetragen haben. Der Roman wirkte dadurch leicht aufgebläht und hat bei mir die Lesefreude zwischenzeitlich etwas getrübt.

Bewertung: 3.5 von 5.

Gebriele Tergit: Effingers. München: btb Verlag, 2020 (Original 1951)

Max Bentow: Das Bernsteinkind

Im mittlerweile 10. Fall dieser Reihe ermittelt Kommissar Trojan in einer Mordserie, in der die Opfer augenscheinlich nichts verbindet, bis auf ein grauenvolles Detail: ihre Augen leuchten golden wie Bernstein.
Bei seinen Ermittlungen stößt Trojan auf eine weitere Gemeinsamkeit. Vor ihrem Tod scheinen alle Opfer in den Besitz eines mysteriösen Buches gekommen zu sein – geschrieben von einem anonymen Verfasser, das den Namen ‚Nachland‘ trägt.
Und das scheint nicht nur der Titel des Buches zu sein…

Wie man an dem Foto bereits unschwer erkennen kann: Ich bin Fan und das schon seit vielen Jahren. Seinen ersten Band hatte ich zufällig als Neuerscheinung in meiner Bibliothek entdeckt und habe seitdem jedem neuen Band entgegengefiebert.
Ich mag den Charakter Nils Trojan und finde insgesamt, dass Bentows Figuren gut ausgearbeitet sind. Das trifft insbesondere auf die Täterpersönlichkeiten und ihre Motive zu, die psychologisch sehr ausdifferenziert sind. Häufig entsteht die besondere Spannung der Geschichten aus den sehr speziellen psychischen Eigenarten der Täter selbst, die sie mit ihren Opfern verbindet und ihr Handeln antreibt. Plottwists und Action am laufenden Band sind hier gar nicht nötig, um ein Höchstmaß an Spannung zu erzeugen.
Dazu kann Bentow ganz wunderbar schreiben: einmal angefangen ist es nur schwer, wieder aufzuhören. Man fliegt förmlich durch die Seiten.
Und als Berlinerin freue ich mich immer wieder, meine Stadt in seinen Büchern wiederzufinden. Auch in diesem Band war Trojan an vielen sehr vertrauten Orten unterwegs, unter anderem in dem Lichtenberger Kiez, in dem mein Freund wohnt. Sowas macht Spaß!

Obwohl ich nun sehr viel Lobendes über diese Thrillerreihe geschrieben habe, die zu weiten Teilen auch auf dieses Buch zutrifft, kann ich in den allgemeinen Jubel zum Bernsteinkind nicht einstimmen, so leid es mir tut.
Es ist für mich leider der schwächste Band der Reihe.

Was ich an Bentow so liebe, nämlich das seine Geschichten logisch gut aufgebaut und komplett nachvollzubar sind, fehlt mir hier streckenweise. Die Grundmotivation des Täters, von der er in eingeschobenen Passagen selbst berichtet, ist zwar gewohnt stimmig und überzeugend, aber zwischendurch waren für mich einige Dinge nicht logisch. Achtung: möglicher Spoiler – die spezielle Buchkonstruktion ist ja sehr aufwändig und vieles seiner ebenfalls aufwändigen Planung hängt davon ab, das genau diese Personen das Buch finden, mitnehmen und genau das damit tun, was sie tun. Wie wahrscheinlich ist sowas, beispielsweise in der U-Bahn Szene? Da waren für mich eindeutig zu viele (für die Geschichte notwendige) Konstruktionen von zu viel unwahrscheinlichen Zufällen abhängig und das hat meine Lesefreude etwas getrübt. Auch vom Schreibstil habe ich Bentow hier teilweise gar nicht wiedererkannt. Es war zwar wie immer gut zu lesen, aber gerade zu Beginn und zum Ende hin fand ich die Dialoge zum Teil regelrecht hölzern. Dass Trojan und seine Kollegin sich (und den Leser:innen) gegenseitig den Fall haarklein erklären, damit das dann auch jeder verstanden hat, musste für meinen Geschmack nicht sein. Insgesamt ist es aber Jammern auf hohem Niveau, denn ich mag die Reihe natürlich auch weiterhin und freue schon auf Band 11!

Bewertung: 3.5 von 5.

Max Bentow: Das Bernsteinkind. München: Goldmann, 2022

Sebastian Fitzek: Mimik

Als die Mimikresonanzexpertin Hannah Herbst, Spezialistin für unbewusste mimische Reaktionen und Beraterin der Kriminalpolizei, nach einer Operation erwacht, steht sie vor einem bekannten Problem. Sie leidet nach Narkosen unter Gedächtnisverlust und auch jetzt ist ihr Erinnerungsvermögen schwer gestört. Was die Situation extrem erschwert. Sie befindet sich in der Gewalt eines Schwerverbrechers und Soziopathen. Und sie soll sich ein Video anschauen, in dem eine Frau den Mord an ihrer Familie gesteht. Nur..diese Frau ist sie selbst…

Warum lese ich immer wieder Fitzek? Für manche eine völlig unverständliche Frage, aber tatsächlich ernst gemeint. Denn gerade das letzte Buch fand ich nicht gut und man hat den Eindruck, dass Inhalt und Tiefe der Geschichten immer mehr in den Hintergrund geraten. Zugunsten von aufwändigem Design und Marketing.

Aber um die Eingangsfrage zu beantworten: Fitzek schreibt einfach gut. Ein sehr eingängiger Schreibstil, man ist sofort drin in der Geschichte und fliegt förmlich durch die Seiten. Einfach gute, spannende Unterhaltung, die Spaß macht.
Wenn man sich darauf einlässt, dass die Geschichten von Fitzek häufig völlig überkonstruiert sind, wie man auch hier schon an der kurzen Einleitung sieht. Da kommt gleich zu Beginn einiges zusammen und setzt sich in ähnlicher Weise fort. Für mich ist es auch hier an einigen Stellen wieder drüber, wie auch schon in seinen letzten Büchern. Zu viel Action und Plottwists, zu viel Um-die-Ecke-gedacht und zu wenig Tiefe in den Charakteren und der Geschichte. Auch wenn ich hier die überraschende Wendung am Ende gut gelungen finde.

Wie wahrlich nicht alles an diesem Thriller. War da ernsthaft wieder dieser Schneemann? Spontan fallen mir gleich zwei Thriller mit genau diesem Szenario ein und vermutlich gibt es noch viel mehr. Originell ist das nicht. Allerdings haut dieses Defizit die besondere Thematik der Mimikresonanz wieder raus.

Man merkt, ich bin bei diesem Buch hin- und hergerissen.

Mimik gefällt auf jeden Fall besser als das letzte Buch, ist allerdings weit von dem Eindruck entfernt, den damals ‚Die Therapie‘ bei mir hinterlassen hat.

Bewertung: 3.5 von 5.

Sebastian Fitzek: Mimik. München: Droemer Knaur, 2022

Elisa Levi: Anderes kenne ich nicht

„Es gibt keinen Ort, der universeller ist als das kleinste Dorf.“

Bereits der erste Satz des Klappentextes beschreibt, worum es in diesem Buch geht. Dem ganz besonderen Mikrokosmos in einem kleinen spanischen Dorf mit nur vier Straßen, einer Kirche und einem Einkaufsladen. Ein Ort, an dem jeder jeden kennt. Und an dem die Zeit stehenzubleiben scheint.

Welch eine willkommene Abwechslung, als ein Mann im Dorf erscheint, dem sein Hund entlaufen ist. Ausgerechnet im angrenzenden Wald will er den Hund suchen. Wo doch jede*r im Dorf weiß, dass keiner aus diesem Wald lebend wieder herauskommt.
Von dieser und anderen Universalitäten ihres Dorfes erzählte Lea dem ahnungslosen Fremden – bei einer Zigarette auf der Bank in der Nachmittagssonne. Oder auch zwei oder drei…

Tatsächlich besteht das gesamte Buch aus Leas Monolog mit dem Fremden, in dem sich das gesamte gesellschaftliche Leben des Dorfes ausbreitet. Das könnte auf den ersten Blick ziemlich handlungsarm wirken, die Konstruktion ist aber erstaunlich tragfähig. Das liegt vor allem an den interessanten Themen, die im Rahmen dieses Monologs angerissen werden. Den Abhängigkeiten, Wünschen und Sehnsüchten Leas und der anderen Dorfbewohner*innen, ihren Beziehungen untereinander, den überholten Traditionen, der geistigen Enge und dem Wunsch, alles hinter sich zu lassen. Und die Angst davor.
„Lieber das bekannte Übel, als das unbekannte Gute“ ist das Motto des Dorfes, mit dem sich Lea immer weniger abfinden kann.
Wäre da nicht ihre Schwester, die aufgrund schwerer geistiger und körperlicher Beeinträchtigungen auf Leas tägliche Hilfe angewiesen ist…

Was mir an dem Buch so gut gefallen hat, sieht man eigentlich schon am Cover – es strahlt ganz viel Wärme aus. Als würde man selbst in der Nachmittagssonne sitzen und einer (etwas längeren Erzählung lauschen). Trotz Leas Distanz zur dörflichen Enge und vieler negativer Gedanken spürt man immer wieder ihre Zuneigung und Verbundenheit gegenüber den Dorfbewohner*innen.

Und das in einer wunderbar klaren, bildhaften Sprache, die gerade in ihrer Einfachheit viele starke Sätze und Passagen produziert. Dazu passt auch ihre zum Teil derbe Art, bei der sie auch kein Blatt vor den Mund nimmt. Gerade ihre abwertenden Gedanken in Bezug auf ihre Schwester haben Kritik ausgelöst, vielleicht auch nicht zu Unrecht. Aber ich denke, dass es durchaus Gedanken sind, die in solchen Situationen aufkommen können. Nur sind sie gesellschaftlich extrem tabuisiert. Ich finde es im Kontext der Geschichte jedoch durchaus passend. Und sie spricht auch immer wieder ausgesprochen liebevoll über ihre Schwester, was man dabei nicht außer acht lassen sollte. Wahrscheinlich hat man in einer solchen Belastungssituation wirklich diese widersprüchlichen Gefühle in sich. Allerdings hat mich das Ende auch etwas irritiert, muss ich sagen. Das ist schon ziemlich harte Kost. Aber letztlich bleibt vieles auch offen und der Fantasie der Leser*innen überlassen.

Bewertung: 3.5 von 5.

Elisa Levi: Anderes kenne ich nicht. Berlin: Trabanten Verlag, 2022

Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe

Letztes Jahr hat Alex Schulman mit ‚Die Überlebenden‘ in Deutschland auf sich aufmerksam gemacht. Mit diesem Roman gelang ihm 2018 in Schweden der Durchbruch, der nun in der deutschen Übersetzung vorliegt.

Dies ist ein sehr persönliches Buch, denn der Autor schreibt hier über ein Gefühl, unter dem er zunehmend leidet und das die Beziehung zu seiner Familie vergiftet: das Gefühl der Wut.
Um der Ursache dieser Wut auf den Grund zu gehen, taucht der Autor tief in seine eigene Familiengeschichte ein und stößt auf eine tragische Liebesgeschichte, in deren Zentrum seine Großeltern und ein bekannter Schriftstellerkollege des Großvaters stehen.
Schulmans Großvater, ebenfalls eine bekannte literarische Größe, war nicht nur unter den Kollegen, sondern auch im Familienkreis wegen seiner Wutausbrüche und Scharfzüngigkeit gefürchtet.
Anhand von authentischen Tagebuchauszügen und Briefen rekonstruiert Schulman eine dramatische Liebesgeschichte, die die Stimmung in der Familie über Generationen nachhaltig beeinflussen wird.

Wow, was für ein Buch!
Mir hatte ja schon ‚Die Überlebenden‘ gut gefallen, von daher hatte ich auch hier mit einem guten Buch gerechnet, aber nicht damit. Zumindest nicht bei dieser Thematik.
Denn dieses Buch ist spannender als mancher Krimi und von einer ganz besonderen Intensität. Der Autor baut die Geschichte ganz langsam auf, ausgehend von seiner eigenen Verzweiflung an sich selbst. Die Passagen der Gegenwart wechseln sich mit den Erinnerungen des Autors an seine Großeltern und den Briefen und Tagebucheinträgen ab. Dabei dringt der Autor immer mehr zu den damaligen Ereignissen vor und das hat durchaus eine detektivische Komponente, die mich völlig in den Bann gezogen hat. Ich hab das Buch mehr oder weniger in einem Zug durchgelesen.

Sehr vieles ist mir dabei durch den Kopf gegangen. Ich war beeindruckt von der Grundmotivation des Autors, der eigenen Betroffenheit. Traurig über das Schicksal der Großmutter, empört über das Verhalten des Großvaters und sehr, sehr berührt von der Tragik dieser Liebesgeschichte.

Das Wissen, dass der Roman auf wahren Begebenheit beruht, macht diese Geschichte noch intensiver. Ein Buch, dass ich aus vollem Herzen empfehlen kann.

Bewertung: 4.5 von 5.

Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe. München: dtv, 2022 (Schwedische Originalausgabe 2018)

Fatma Aydemir: Dschinns



Als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, hat Hüseyin nur einen Traum: einmal mit der Familie zurückzukehren, in eine Eigentumswohnung in Istanbul. Und nach dreißig Jahren scheint sich dieser Traum zu erfüllen. Doch am Tag des Einzugs stirbt er völlig unerwartet.
Zur Beerdigung reisen seine mittlerweile erwachsenen Kinder an, sowie seine Frau Emine. Und jeder von ihnen hat seine ganz eigene Geschichte im Gepäck…

Bereits der Anfang dieser Geschichte hat mir die Tränen in die Augen getrieben, denn es ist so unfassbar tragisch. So viele Jahre arbeitet der Familienvater hart für seinen Traum und dann zerplatzt er in dem Moment, wo er endlich am Ziel angekommen ist.
Doch auch die ganz unterschiedlichen Lebenswege seiner vier Kinder und seiner Frau haben mich sehr berührt. Jedes Familienmitglied bekommt in einem Kapitel seine eigene Bühne und Raum für seine ganz persönliche Geschichte. Jede ist dabei sehr individuell und besonders.
Daran hat es teilweise Kritik gegeben. Es wurde in einigen Rezensionen bemängelt, dass hier zu viel Ungewöhnliches, zu viel Konfliktpotential in einer Familie zusammengefasst wurde. Wahrscheinlich ist es in der Form auch nicht die durchschnittliche türkische Familie. Aber für mich ist es genau richtig so, denn die Thematik bekommt dadurch einen ganz speziellen Fokus.
Der Roman beleuchtet in sehr eindrücklicher Weise, was passieren kann, wenn man bei der Verwirklichung seiner Träume nicht mit den ganz anderen Lebenswelten und Bedürfnissen seiner Kinder rechnet. Und mit denen seiner Frau.
Natürlich kennt man diese Geschichten über Gastarbeiterfamilien, die Konflikte der nächsten Generation. Aber durch dieses Buch beginnt man auch im Herzen zu verstehen, was das bedeutet. Mir ist diese Geschichte sehr nahe gegangen und hat einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.

Über das Ende kann man geteilter Meinung sein. Für einige ist es übers Ziel hinausgeschossen und dieser Gedanke kam mir auch. Aber letztlich schließt sich hier der Kreis und führt wieder an den Anfang zurück. Und unter dem Blickwinkel ist es sogar ausgesprochen stimmig. Ein großartiges Buch und mein persönlicher Siegertitel.

Bewertung: 4.5 von 5.

Fatma Aydemir: Dschinns. München: Hanser Verlag, 2022

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter

Das Gewicht der Mutter ist das dominierde Thema in Elas Kindheit, der Erzählerin dieser Geschichte. Genauer, ihr Übergewicht – Ursache allen Übels, das dem Vater wiederfährt. Der fehlenden Anerkennung im Beruf und Kollegenkreis, dem zu geringen Ansehen innerhalb der Dorfgemeinschaft.
Die Vielgescholtene quält sich durch diverse Diäten und stemmt nebenher nicht nur Beruf, Familie und Weiterbildung, sondern auch die Pflege der dementen Mutter und die Sorge für ein Pflegekind. Doch die verdiente Anerkennung bleibt aus.

Ein wahres Feuerwerk an Gefühlen hat dieses Buch bei mir ausgelöst. Mir hat es ausgesprochen Spaß gemacht, in diesen Mikrokosmos der 80er Jahre einzutauchen. An vieles konnte ich mich noch aus meiner Kindheit erinnern. Bestimmte Fernsehsendungen oder Süßigkeiten, Radiohits, die plötzlich aufkommende Tenniseuphorie nach dem Sieg von Boris Becker. Da kommen nostalgische Gefühle hoch. Allerdings kommt auch gleich der bittere Nachgeschmack hinterher angesichts der trügerischen bürgerlichen Familienfassade. Wichtig ist der Blick der anderen, was andere über einen denken könnten. Und auch, wenn ich nicht auf dem Dorf, sondern in der Großstadt aufgewachsen bin, kommt mir das ebenfalls sehr bekannt vor.

Das viel stärkere Gefühl, das beim Lesen hochkam, war jedoch das der Wut. Vor allem, weil der ständig kritisierende Vater selbst so wenig auf die Reihe kriegt. Die wesentlichen Arbeiten erledigt seine Frau, die spätestens nach ihrer Erbschaft auch den Wohlstand der Familie sichert. Geld, das ihr Mann gerne und mit vollen Händen ausgibt. Trotzdem ist alles, was sie tut, nie richtig, nie genug.

Aber ebenso wie das Verhalten des Vaters hat mich das der Mutter aufgeregt. Es hat bei mir fast körperliche Schmerzen verursacht, dass sie sich das alles hat gefallen lassen und ihn nicht direkt verlassen hat.

Sicher ist es Teil des traditionellen Frauenbildes, aber auch schön immer haben sich Frauen dagegen zur Wehr gesetzt und das hätte ich mir so gewünscht. Ihre Tochter hat ihr genau diese Frage gestellt. Sie wäre zu schwach gewesen, sagt sie daraufhin. Und das ist für mich das Tragische an diesem Buch. Dass sie alle Möglichkeiten gehabt hätte und doch so wenig davon für sich selbst genutzt hat. Gerne hätte ich noch mehr von der Mutter selbst erfahren, ihre Sicht der Dinge. Es wird viel über sie geredet, aber ihre eigene Stimme hört man nicht. Aber vielleicht ist es im Rahmen des Buches auch einfach nur konsequent.

Bewertung: 4 von 5.

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2022

Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins



Ksenia ist Russin, sie ist Deutsche, sie ist Jüdin, sie ist unter Zeugen Jehovas aufgewachsen, sie ist eine junge Frau, Mutter, Schriftstellerin und Wissenschaftlerin – das alles ist sie und gleichzeitig nichts davon.

Schon der erste Satz des Klappentextes umreißt ziemlich genau, worum es in diesem Romandebüt geht – um die Suche nach der eigenen Identität. Dabei fließt Vergangenes und Gegenwärtiges ineinander, fällt der Blick auf Familienmitglieder und Freunde, aber auch Fremdes, dessen Verbindung lediglich in ähnlichen Wurzeln besteht.
Daher besteht der Text nicht nur aus Erinnerungen und Gedanken, sondern auch Rechercheergebnissen aus dem Internet zum Stichwort ‚russisch‘, aus Zitaten religiöser Schriften und Notizzetteln. Eine Collage der Selbstverortung.

Das Buch lässt mich ein wenig zwiegespalten zurück. Einiges hat mir wirklich gut gefallen, beispielsweise ihre Beschreibung, wie sie als Kind nach Deutschland gekommen ist. Das Gefühl des Fremdseins und der Sprachlosigkeit, in die man sich gut hineinfühlen kann. Persönlich haben mich die Abschnitte zum Einfluss der Zeugen Jehovas auf ihre Familie und ihre Erziehung besonders gefesselt, da meine beste Freundin aus Kindertagen einer ähnlichen religiösen Gruppierung angehörte. Da kam mir vieles sehr bekannt vor.

Trotzdem konnte mich das Buch nicht so richtig in seinen Bann ziehen. Vielleicht lag es an der fragmentierten Erzählform, vielleicht an dem (für meinen Geschmack) doch zu distanzierten Blickwinkel. Der Begriff ’sezierend‘ auf dem Klappentext trifft das ganz gut.

Dafür ist es aber ganz eindeutig von allen nominierten Büchern das mit dem schönsten Cover!

Bewertung: 3 von 5.

Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins. Erlangen: Homunculus Verlag, 2022