Alba de Céspedes: Aus ihrer Sicht

Alessandra muss von Beginn an in die Fußstapfen Ihres früh verstorbenen Bruders treten, von dem sie (mit einer leichten Abwandlung) auch den Namen geerbt hat. Als einziges Kind genießt sie die besondere Aufmerksamkeit der Mutter, mit der sie ein innige Verhältnis verbindet. Sie ist fasziniert von der Eleganz und den künstlerischen Fähigkeiten ihrer Mutter, die als Klaviervirtuosin wohlhabenden Damen Privatunterricht erteilt.
Der Vater hat für sie nur Verachtung übrig. Sie ist ihm zu dünn, zu hässlich und hat – so wie die literaturbegeisterte Tochter – eine Schraube locker, was er ihnen bei jeder Gelegenheit unmissverständlich unter die Nase reibt . Beide passen nicht in das Bild, dass man von italienischen Frauen in den 30er Jahren erwartet.
Als die Mutter versucht, aus diesem Gefängnis auszubrechen, bahnt sich eine Tragödie an…

Das Buch war für mich wie eine kleine Zeitreise ins Italien der 30er und 40er Jahre, dessen Atmosphäre die Autorin ganz wunderbar eingefangen hat. Ebenso wie die starken Frauenfigur, die versuchen, in dem patriarchialischen System ihre Nischen zu finden. Da spürt man an jeder Ecke den Geist des Aufbegehrens, offen oder im stillen und sehr viel Solidarität unter den Frauen. Dass die fiktive Ich-Erzählerin ihrer mutigen Mutter erzählerisch ein Denkmal setzt, ist sehr schön zu lesen.
Es wundert da nicht, dass sie einen ähnlich unbeugsamen Geist hat und sich für ihr Leben noch anderes vorstellt als Kinder zu kriegen und den Haushalt zu führen.
Sie beschließt zu studieren und ein unabhängiges Leben zu führen. Doch dann kreuzt Francesco ihren Weg, der im antifaschistischen Untergrund arbeitet…

Tja und hier wendet sich leider für mich auch die Geschichte. Denn Francesco ist zwar auf den ersten Blick deutlich umgänglicher als ihr griesgrämiger Vater, aber das Thema Gleichberechtigung kommt auch in seiner Welt nicht vor.
Nach dem ersten Teil des Romans hatte ich ja erwartet, dass sie Francesco ordentlich die Leviten liest.

Stattdessen hat die Liebe zu diesem Intellektuellen ihr aber sämtliche Zähne gezogen. Statt ihm gehörig in den Hintern zu treten, wird er angeschmachtet, was das Zeug hält und pausenlos die Liebe zu ihm beschworen, die er zunehmend immer weniger verdient. Das war für mich teilweise nur schwer auszuhalten und ich habe ständig Alessandras Temperament und Selbstbewusstsein aus der ersten Hälfte des Buches vermisst. Das Ende war einigermaßen überraschend, aber sehr stimmig und konsequent. Ein guter Abschluss, der den Titel auch erst dann wirklich erklärt. Auch wenn ich im zweiten Teil ganz schön gelitten habe, hat mir das Buch gut gefallen und ich kann es ohne Bedenken weiterempfehlen.

Bewertung: 3.5 von 5.

Alba de Céspedes: Aus ihrer Sicht. Berlin: Insel Verlag, 2023

Tom Rob Smith: Kind 44

Als in Moskau die Leiche eines kleinen Jungen auf den Bahngleisen entdeckt wird, lässt die Auffindesituation eigentlich keinen Zweifel zu: hier handelt es sich um ein Gewaltverbrechen. Doch das ist im Jahre 1953 im sowjetischen System nicht vorgesehen. Der Geheimdienstoffizier Leo Demidow bekommt den Auftrag, das Verbrechen als Unfall einzustufen und das auch unmissverständlich den verzweifelten Angehörigen klarzumachen, die weitere Ermittlungen fordern.
Die Angelegenheit scheint für Leo bereits erledigt, bis er aufgrund interner Machtkämpfe degradiert und in ein kleines Dorf versetzt wird. Dort stößt er überraschend auf neue Spuren des Verbrechens und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln…

Wir haben in der Leserunde festgestellt, dieses Buch zu bewerten, ist nicht einfach. Denn es geht dermaßen gut los, dass man denkt, das könnte ein Highlight werden. Die gesellschaftlichen Bedingungen und der Überwachungsapparat der Sowjetunion in den 50er Jahren sind sensationell gut herausgearbeitet und gibt einen guten Einblick in die Mechanismen eines Polizeistaates, in dem der Einzelnen völligster Willkür ausgesetzt ist. Was heute richtig ist, kann morgen schon falsch sein.
Unter diesen Bedingungen einen Mord aufzuklären – in einem Staat, in dem es offiziell gar keine Mörder gibt -, ist wahrlich eine Kunst und dieses Dilemma ist hier richtig gut herausgearbeitet worden.

Nur leider hat man spätestens ab der Hälfte begonnen, den eigentlichen Kriminalfall schmerzlich zu vermissen, der eigentlich bis zum Schluss eher im Hintergrund geblieben ist. Selbst als der Mörder irgendwann auf der Bildfläche erscheint, bleibt weiterhin Leo im Zentrum des Geschehens. Statt mehr über den Mörder oder die Taten selbst, dreht sich die Geschichte überwiegend um Leos Machtspiele mit seinem Kollegen, seine schwierige Ermittlungsarbeit und seine verkorkste Beziehung.

Das ist zwar nicht uninteressant und mit den vielen dramatischen Verwicklungen auch durchweg spannend, aber ich hätte mir da noch ein bisschen mehr Kriminalfall gewünscht. Das hätte mich aber alles nicht sonderlich gestört, wäre da nicht die Auflösung gewesen. Die Motivation des Täters fand ich doch sehr fragwürdig und wenig überzeugend. Vor allem wenn man denkt, dass die Geschichte auf einer wahren Begebenheit basiert und welche Motivation der reale Täter hatte. Unter diesem Blickwinkel wirkt es ein stückweit verharmlosend und wird der eigentlichen Geschichte nicht gerecht. Muss man in einer fiktiven Darstellung zwar nicht, aber wenn man einen realen Fall in dieser Deutlichkeit aufgreift, sollte man ihn nicht durch eine gänzlich andere Motivation des Täters verharmlosen. So bekommt dieser eigentlich gute Thriller durch das Ende einen etwas bitteren Nachgeschmack.

Bewertung: 3.5 von 5.

Tom Rob Smith: Kind 44. München: Goldmann Verlag, 2010

Colson Whitehead: Underground Railroad

Cora ist bereits auf der Baumwollplantage geboren – als Tochter einer Sklavin, der die Flucht gelungen ist. Immer wieder plagen sie die Gedanken, warum ihre Mutter sie zurückgelassen hat. Da hört sie von ihrem Freund Caesar von der Underground Railroad – einer geheimen Schleuserorganisation, die Sklaven auf der Flucht aus der Gefangenschaft hilft. Es bedeutet maximales Risiko, denn wer erwischt wird, hat Schlimmstes zu befürchten…

Und das ist keine Floskel, denn was hier als abschreckendes Beispiel mit den geflohenen Sklaven gemacht wird, ist nur schwer zu ertragen. Da der Autor diverse historische Quellen herangezogen hat, muss man davon ausgehen, dass all die geschilderten Grausamkeiten, die an den Sklaven verübt wurden, den Tatsachen entsprechen und das hat mich sehr erschüttert und aufgewühlt. Szenen, in denen der Plantagenbesitzer mit seinen Gästen „kultiviert“ beim Abendessen sitzt, während direkt neben ihnen ein Sklave ausgepeitscht und bestialisch umgebracht wird, sind an Unmenschlichkeit kaum zu überbieten.
>>> Achtung: Ab hier nicht spoilerfrei!

Sehr gelungen finde ich, dass Whitehead in der Schilderung von Coras Flucht durch die verschiedenen Bundesstaaten nicht nur diese offensichtlichste und grausamste Variante des Rassismus zeigt, sondern auch seine verschiedenen Spielarten. Wie die vermeintliche Freiheit, die sich als freundliche Maske entpuppt und man sich bereits Gedanken macht, wie man die Vermehrung dieser „minderwertigen Rasse“ verhindern kann.
In diesem Sinne konsequent fand ich das offene Ende, das für den einen oder anderen vielleicht etwas unbefriedigend wirkt. Aber in übertragenen Sinne ist Coras Reise noch nicht zu Ende. Solange es Rassismus gibt, ist es nur eine weitere Variante des gleichen Missstands – Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe nicht als gleichwertig und gleichberechtigt zu behandeln.

Große Hochachtung hatte ich beim Lesen auch vor den Menschen, die sich unter Lebensgefahr für die Befreiung der Sklaven eingesetzt haben. Whitehead hat hier der Underground Railroad nochmal ein literarisches Denkmal gesetzt und dafür gebührt ihm große Anerkennung. Er ist zwar kritisiert worden, dass er das Schleusernetzwerk allzu wörtlich genommen und daraus eine Eisenbahnlinie gemacht hat, aber für meinen Geschmack kommt es auf die Message dahinter an und die ist definitiv angekommen. Ein wichtiges Buch, dass mich sehr berührt hat und mich noch weiter beschäftigen wird.

Bewertung: 4.5 von 5.

Colson Whitehead: Underground Railroad. Frankfurt/M.: Fischer Verlag, 2019 (Originalausgabe 2016, deutsch bei Hanser 2017)

Uwe Wittstock: Februar 33 – Der Winter der Literatur

Neunzig Jahre ist es jetzt her, dass dieser Monat als Beginn der Naziherrschaft in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Innerhalb weniger Wochen wurden das Parlament und sämtliche Grundrechte außer Kraft gesetzt.
Was das für die Intellektuellen und Kulturschaffenden des Landes bedeutete und wie sie diese Tage durchlebten, davon erzählt dieses Buch.

Auch wenn ich schon einiges über diese Zeit gelesen habe, bin ich immer wieder auf’s Neue entsetzt, wie schnell Hitlers Machtergreifung von statten ging und wie naiv ihm führende Politiker und Funktionäre dafür den Weg bereitet haben. Naiv aus heutiger Sicht, denn auch viele Intektuelle haben diese Entwicklung nicht kommen sehen und gingen davon aus, dass der Spuk bald vorbei ist. Noch zu Beginn des Monats schlägt Heinrich Mann den dringenden Rat eines Freundes zur Flucht in den Wind und hält es für übertriebene Panikmache. Nur sieben Tage später muss er unter größter Geheimhaltung das Land verlassen, bevor ihm der Pass entzogen wird. Buchstäblich in letzter Minute, denn schon am nächsten Tag durchsucht die SA seine Wohnung. So weitsichtig wie Joseph Roth sind seinerzeit nur die Wenigsten – so unvorstellbar erscheint das, was kommen wird. In einem Brief an Stefan Zweig schreibt er bereits Ende Januar 33:
„Inzwischen wird es Ihnen klar sein, daß wir großen Katastrophen zutreiben. Abgesehen von den privaten – unsere literarische und materielle Existenz ist ja vernichtet – führt das Ganze zum neuen Krieg. Ich gebe keinen Heller mehr auf unser Leben. Es ist gelungen, die Barberei regieren zu lassen. Machen Sie sich keine Illusionen. Die Hölle regiert.“ (S. 31)

Das Buch spiegelt die ganze Palette der Einschätzungen der politischen Lage innerhalb der damaligen Künstlerszene wieder und die jeweiligen Handlungen, die daraus folgten. Einige passten sich den veränderten Bedingungen an, andere bezahlten für ihre politische Einstellung mit dem Leben. Für die meisten führte der Weg ins Exil.

Für mich ein ausgesprochen interessantes und lesenswertes Buch. Allerdings sollte man schon einiges an Vorwissen über die Kulturschaffenden dieser Zeit mitbringen, um das Geschriebene besser einordnen zu können. Es fallen viele Namen und es ist daher hilfreich, wenn man dazu ein Bild vor Augen hat oder den einen oder anderen Klassiker kennt.

Bewertung: 4 von 5.

Uwe Wittstock: Februar 33 – Der Winter der Literatur. München: Beck, 2021

Sayaka Murata: Zeremonie des Lebens

Während die Autorin im deutschsprachigen Raum nur durch ihre Romane ‚Das Seidenraupenzimmer‘ und ‚Die Ladenhüterin‘ bekannt ist, wird sie in Japan vor allem wegen ihrer Kurzgeschichten gefeiert. Das könnte sich in Zukunft ändern, denn der Aufbau Verlag hat mit der ‚Zeremonie des Lebens‘ einen Band mit zwölf Kurzgeschichten herausgegeben. Oder auch nicht, denn die Themen in diesen Geschichten sind…nun ja, etwas gewöhnungsbedürftig und vielleicht nicht nach jedermanns Geschmack. Denn hier werden Tabus und kulturelle Übereinkünfte gebrochen und am Rande der Rationalität und Realität entlangspaziert.
Bereits der Klappentext verrät, dass man sich hier auf einiges gefasst machen muss. Zum Beispiel einen Zukunftsentwurf, bei denen man die Toten nicht bestattet, sondern zu Gebrauchsgegenständen verarbeitet oder auch – in einer anderen Geschichte – rituell verspeist…

Ich muss sagen, gerade die genannten Geschichten fand ich sehr grenzwertig und das wirft die Frage auf, ob sie hier nicht übers Ziel hinausgeschossen ist – abstoßend ist es allemal. Allerdings entwirft die Autorin ein Szenario, in dem das geschilderte Verhalten sehr logisch und nachvollziehbar hergeleitet wird. Denn letztlich handelt es sich um kulturelle Vereinbarungen, die so oder auch ganz anders sein könnten. Das stößt zumindest Denkprozesse an, zum Beispiel, dass unser Umgang mit den Toten vielleicht gute Gründe hat. Und letztlich sind so ziemlich alle der hier versammelten Geschichten eine Kritik an der Entgrenzung und Entfremdung der japanischen Gesellschaft, sowohl im Hinblick auf die Moral als auch im Umgang mit der Natur. Nur hat Murata für diese Kritik den ganz großen Hammer ausgepackt und das ist natürlich Geschmackssache, ob man die Form als angemessen oder übers Ziel hinausgeschossen empfindet.
Ich bin da tatsächlich hin- und hergerissen und hätte mir gerade im Hinblick auf die Geschichte mit den Möbeln gewünscht, sie hätte sie nicht geschrieben. Vermutlich hätte sie das mit einem deutschen Background auch nicht.

Trotzdem habe ich die Geschichten gerne gelesen. Zum einen aufgrund der bereits erwähnten Denkprozesse, die dadurch angeregt werden. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es eine ideale Lektüre für eine Leserunde, denn hier ergibt sich Diskussionsstoff ohne Ende. Zum anderen mag ich Muratas klare, unverstellte Sprache. Die hat mich sogar darüber hinweggetröstet, dass viele der Geschichten kein wirklich abgeschlossenes (und damit zufriedenstellendes) Ende hatten und irgendwie abgebrochen wirkten. Und letztlich hat die Autorin es geschafft, mit jeder Geschichte mein Interesse zu wecken, was bei Kurzgeschichten ja auch nicht immer ganz einfach ist. Das unterstreicht in jedem Fall ihre schriftstellerischen Qualitäten.

Bewertung: 4 von 5.

Sayaka Murata: Zeremonie des Todes. Berlin: Aufbau Verlag, 2022

Seishi Yokomizo: Die rätselhaften Honjin-Morde



Auch wenn man ihn hierzulande wahrscheinlich kaum bis gar nicht kennt, gehört Seishi Yakomizo in Japan zu den beliebtesten Autoren klassischer Kriminalromane. Dieses Buch ist der Auftakt einer Serie um den Privatdetektiv Kosuke Kindaichi, die bereits 1946 in Japan erschienen ist.
Bei Blumenbar / Aufbau Verlage ist dieser Klassiker nun auch in deutscher Übersetzung erschienen.

Darin geht es um ein grausames Verbrechen im Hause der angesehen Familie Ichiyanagi im Winter 1937. Der älteste Sohn und seiner frischvermählte Ehefrau werden noch in der Hochzeitsnacht ermordet. Das mysteriöse an dem Fall: das Verbrechen fand in einem von innen verschlossenen Raum statt…

Gleich zu Beginn war ich schon mal von der Erzählweise sehr angetan, denn hier berichtet eine Art Chronist von den schrecklichen Ereignissen in dem nicht näher benannten Dorf O. Auf diese Weise wird das Verbrechen schrittweise vor den Leser:innen ausgebreitet und man kommt nicht umhin, selbst mitzurätseln, wie sich diese seltsamen Morde zugetragen haben und wer dafür verantwortlich ist.
Nun kennt ja jede:r diese Rätsel, in denen sich irgendwer tot in einem verschlossenen Raum befindet und man herausfinden soll, wie dieser Mensch zu Tode gekommen ist und so ähnlich ist es auch hier.
Um ehrlich zu sein bin ich normalerweise kein Fan von diesen Rätseln, aber hier ist es etwas anderes. Denn das Rätsel ist eine wirklich gut erzählte Geschichte eingebettet.
Nun liegt es in der Natur dieser ‚Locked-Room-Murder-Mysterys‘, dass sie nicht ganz einfach zu durchschauen sind und schon mal um die Ecke gedacht werden muss. Von daher liegt die Auflösung auch hier nicht auf der Hand, ist aber sehr klug durchdacht und absolut glaubwürdig. Und das gilt noch viel mehr für die abschließend pråsentierte sentierte Motivlage des Täters. Selten war für mich ein Verbrechen in seiner Motivation so überzeugend erklärt wie hier. In seiner Art sehr speziell und gar nicht auf der Hand liegend, aber sensationell gut erklärt und aus dem Charakter des Täters hergeleitet.

Bewertung: 4.5 von 5.

Seishi Yokomizo: Die rätselhaften Honjin-Morde. Berlin: Blumenbar /Aufbau Verlage, 2022

Andreas Moster: Kleine Paläste

„Es ist nicht das erste Mal, dass der Hund versucht, mich umzubringen.“
Manchmal spürt man bereits beim ersten Satz: Das könnte ein Buch für mich werden…


Nach dem Tod seiner Mutter kehrt Hanno nach vielen Jahren in sein Elternhaus zurück, dass er nach einem Zerwürfnis verlassen hat, um seinen dementen Vater zu pflegen – den Mann, der ihn einst aus dem Haus getrieben hat.
An der Seite des hilflosen Altenpflegers: die Nachbarin Susanne, einst Hannos Jugendfreundin, die nach dem Tod ihrer Eltern dort wohnen geblieben ist. Nachdem sie jahrelang das Geschehen im Nachbarhaus durch das Fernglas beobachtet hat, hat sie nun freie Bahn, sich um die Person ihres gesteigerten Interesses zu „kümmern“: Hannos Vater Carl. Dass hier nicht pure Nächstenliebe im Spiel ist, merkt man spätestens bei den Rückblenden ins Jahr 1986, die regelmäßig in die Geschichte eingestreut werden. Ein Ereignis aus dieser Zeit lässt auch die Verstorbenen der beiden Familien nicht ruhen…

In meiner kleinen Leserunde haben wir uns schon gefragt, wie man die Vielschichtigkeit und feinen Nuancen in diesem Buch beschreiben soll. Tatsächlich eine Herausforderung. Vielleicht reicht es einfach zu sagen, dass der Autor ganz viele wichtige Themen in diesem Buch anschneidet und zwar nicht, indem er alles auf einen Haufen kippt und den Leser darunter erschlägt, sondern daraus ein Art Teppich webt, den man staunend beschreitet. Sprachlich geschickt hat er die Themen Generationenkonflikt, stereotype Geschlechterrollen, Pflege von Familienangehörigen, Demenz, Alkoholismus und dysfunktionale Familien miteinander verknüpft. Das große Thema des Romans ist jedoch ein anderes: das Wahren der gutbürgerlichen Fassade um jeden Preis. Für das große Schweigen hat Moster großartige Worte gefunden. Sehr eindringlich und absolut lesenswert.

Bewertung: 4.5 von 5.

Andreas Moster: Kleine Paläste. Hamburg: Arche Verlag, 2021

Marc Voltenauer: Wer hat Heidi getötet?

Ganz ehrlich, würde ich den Autor nicht schon kennen, hätte ich dieses Buch vermutlich nicht gelesen, denn ich finde den Buchtitel ausgesprochen unglücklich. Nun hatte ich aber bereits vor zwei Jahren den Vorgängerband des mir damals noch unbekannten Autors gelesen und war auf das Positivste überrascht. Und auch dieser hat mich nicht enttäuscht, um es gleich vorweg zu sagen…

Erneut wird das beschauliche Bergdorf in den Schweizer Alpen der Schauplatz einer Mordserie und Kommissar Andreas Auer ist wieder gefordert. Der unbekannte Täter entführt nacheinander mehrere Frauen, die sich auffallend ähneln. Doch das ist nicht das einzig Merkmal, das die Frauen verbindet…

Auch in diesem Band bin ich wieder sehr angetan von der Atmosphäre in diesem abgelegenen Bergdorf, die in diesem Krimi sehr gut in Szene gesetzt wird. Die Menschen kennen sich, haben aber ihre kleinen oder auch größeren Geheimnisse. Die Kulisse ist sehr idyllisch und bildet einen guten Kontrast zu den Mordfällen.
Auch Voltenauers Schreibstil finde ich wieder sehr angenehm und gut zu lesen.

Darüber hinaus gelingt ihm, woran viele Krimiautoren scheitern, nämlich eine sehr komplexe Geschichte verständlich, nachvollziehbar und ohne logische Schwachstellen zu erzählen. Denn hier gibt es von Beginn an zwei Fälle, die abwechselnd in zwei Erzählsträngen erzählt werden. Das macht die Geschichte sehr dynamisch und spannend – vor allem, weil die Ereignisse und Charaktere sehr unterschiedlich sind. In dem einen Fall kommt direkt ein bisschen Bond-Feeling auf.

Besonders angenehm finde ich auch die Figur des Ermittlers selbst. Er hat keine Sinnkrise, keine Alkoholprobleme, sondern ist eigentlich ein ganz normaler Typ, der gutes Essen und ein gutes Glas Wein liebt. Und er hat einen Partner.
Eigentlich sollte das nicht extra erwähnenswert sein, aber ich kenne bisher keinen Krimi oder Thriller mit einem homosexuellen Ermittler. Nun hat der Autor die Figur nicht deshalb so entworfen, weil das zur Zeit besonders gut ankommt und er einen Trend bedienen möchte, sondern weil es für ihm ganz natürlich zum Leben dazu gehört. Das macht den Kommissar und seinen Partner, der auch immer wieder an den Ermittlungen beteiligt ist, so authentisch. Und so sympathisch, dass man am liebsten selbst mit ihnen ein Glas Wein trinken würde.

Bewertung: 4 von 5.

Marc Voltenauer: Wer hat Heidi getötet? Köln: Emons Verlag, 2022

Nino Haratischwili: Das mangelnde Licht

Anlässlich eine Fotoretrospektive treffen die drei alten Freundinnen Keto, Nene und Ira wieder aufeinander. Gezeigt werden Bilder aus ihrer gemeinsamen Zeit in Georgien – aufgenommen von der Vierten im Bunde, die nicht mehr bei ihnen sein kann.
Beim Betrachten reflektiert Keto die Geschichte hinter den Bildern und entwirft so ein Bild von einem Staat im Umbruch, der ersten großen Liebe und einer tiefen Freundschaft.

Spätestens seit ‚Das achte Leben‘ kennt man Haratischwili als Autorin monumentaler Geschichten mit großem Seitenumfang. Tatsächlich erschlägt es einen aber nur vorab, als Respekt vor der Aufgabe sozusagen. Denn erstmal angefangen, spürt man eigentlich nur noch an der Schwere des Buchs, dass es so viele Seiten sind. Denn Haratischwilis Sprache ist so schön, dass es eine Freude ist und sich kein bisschen wie Arbeit anfühlt.

Auch in diesem Roman schafft sie es, einem die Figuren sehr nahe zu bringen. Und das nicht nur die Hauptpersonen, sondern auch die Nebenfiguren erwachen in diesem Roman quasi zum Leben und das ist für mich die ganz große Stärke der Autorin: die gute Ausarbeitung der Charaktere.
Gleiches gilt für die Darstellung der gesellschaftlichen Entwicklungen in ihrem Heimatland Georgien, das eng mit der eigenen Geschichte verknüpft ist. Ich denke, dass hier auch sehr viele eigene Erlebnisse eingeflossen sind und das macht diesen Roman so authentisch.

Auch wenn mich ‚Das mangelnde Licht‘ nicht ganz so berührt hat, wie ‚Das achte Leben‘, hat dieses Buch wieder bestätigt, dass Harataschwili für mich zu den besten deutschsprachigen Autorinnen gehört.

Bewertung: 4.5 von 5.

Nino Haratischwili: Das mangelnde Licht. Frankfurt/Main: Frankfurter Verlagsanstalt, 2022

Anna Yeliz Schentke: Kangal

Dilek lebt mit ihrem Freund Tekin in Istanbul und leidet zunehmend unter den politischen Verhältnissen. Als ‚Kangal 1210‘ ist sie in den sozialen Medien aktiv und äußert sich kritisch über die Regierung. Doch die Repressionen gegenüber politischen Weggefährt:innen lösen große Ängste in ihr aus.

In Istanbul haben wir gelernt, anonym zu sein, anonym unter vielen und anonym im Netz. Aber das reicht nicht mehr, das habe ich begriffen. Sie können die Wohnung stürmen, dich festhalten, mitnehmen und du kannst noch nicht mal die Polizei rufen. Sie sind die Polizei.

Um dem zu entkommen und ohne ihren Freund einzuweihen, beschließt Dilek nach Deutschland zu fliegen – zu ihrer Cousine Ayla, mit der sie viele schöne Kindheitserinnerungen teilt, auch wenn sich ihre Mütter inzwischen verstritten haben.
Doch in Deutschland trifft sie auf treue Anhänger:innen besagter Regierung und eine Cousine, die mit der Türkei nur noch ein Urlaubsparadies verbindet…

Noch ein Buch der diesjährigen Longlist, was für meinen Geschmack zu wenig Beachtung erfahren hat. Denn das Thema, um das es hier geht, ist nach wie vor hochaktuell. Das macht für sich erstmal kein gutes Buch aus. Aber wie genau die Autorin die Problematik herausarbeitet, wie fokussiert sie die Konflikte beschreibt, wie vielschichtig sie dabei vorgeht – das ist für mich gute Literatur.
Ihre Schilderungen bewegen sich zwischen den Innenansichten Dileks, ihres Freundes und ihrer Cousine hin und her und auch wenn sich ihre Standpunkte unterscheiden, kann man doch vieles sehr gut nachvollziehen. Für mich war die Ausnahmesituation, in der sich Dilek befindet sehr greifbar, insbesondere das Gefühl einer permanenten Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die zitierte Passage bringt es für mich sehr gut auf den Punkt.
Für mich ein Buch, dass trotz seiner Kürze einen großen Eindruck hinterlassen hat.

Bewertung: 4 von 5.

Anna Yeliz Schentke: Kangal. Frankfurt/Main: Fischer Verlag, 2022