Alexander Oetker / Thi Linh Nguyen: Die Schuld, die uns verfolgt

Eines Morgens klingeln bei dem Polizisten-Ehepaar Linh-Thi und Adam Schmidt die Diensthandys. Während Adam zu einer Kindesentführung im Berliner Arbeiterbezirk Wedding gerufen wird, ist Linh-This Einsatz bei einem Banküberfall mit Geiselnahme im verschlafenen brandenburgischen Flecken-Zechlin gerfordert. Noch ahnt niemand, dass diese so ungleichen Fälle einiges verbindet…

Mit dem Ehepaar Schmidt betritt ein neues Ermittlerpaar die Berliner Krimi Bühne und präsentiert seinen ersten Fall, der auf mehreren Ebenen recht spektakulär daherkommt. Kindesentführung hier, Geiselnahme da ist sicherlich nicht das tägliche Brot der Polizei, aber das will man auch nicht in einem Krimi lesen und somit ist das auch ganz in Ordnung. Das ermittelnde Paar ist entgegen meiner Befürchtung sehr natürlich und kitschfrei, auch die Rekonstruktion ihres gemeinsamen Werdegangs hat mir gut gefallen. Die Anlage dieses Ermittlerteams hat also durchaus Potential.

Gut gelungen fand ich auch die Rückblenden in Linh This Vergangenheit, in der man einiges Interessantes rund um die vietnamesische Zigarettenmafia der 90er Jahre erfährt. Und immer wieder liebe ich es, mich in Romanen in meiner Heimatstadt wiederzufinden, deren Schauplätze man oft sehr genau kennt.
Die Story selbst ist gut konstruiert und über weite Strecken spannend. Thematisch war Geiselnahme und Entführung nicht ganz so mein Geschmack, aber für Fans von Tatort und Co sicher genau das Richtige. Also, ein solider, gut zu lesender Krimi mit einer Reihe spannender Momente.

Dem ich allerdings ein ABER anschließen möchte, da ich mich doch an einigen Stellen sehr über das Buch geärgert habe. Bereits zu Beginn wird sich über die Lehrerin aufgeregt, die ständig krankfeiert. Wenige Seiten später trifft es die Erzieherinnen, die – wahlweise inkompetent oder von vorgestern – ihrer Aufsichtspflicht nicht nachkommen.

Damit man die Seitenhiebe auf die Pädagogenzunft auch ja nicht überliest, wird am Ende des Romans nochmal nachgeschoben: „Ich bin am Zaun der Kita entlanggelaufen, als die Erzieherinnen wie so oft mal wieder was Besseres zu tun hatten, als auf die Kinder zu achten.“ (S. 300) Offenbar glaubt das Autorenduo noch an das Märchen der faulen Lehrerschaft oder der Erzieherinnen, die den ganzen Tag nur auf der Bank sitzen und Kaffee trinken. Daher gehen Grüße raus an die Lehrerinnen im realen Leben, die jeden Tag in überfüllten Klassen mit schwierigsten Kindern ihr Besstes geben, oft auf Kosten ihrer Gesundheit. An die Erzieherinnen, die aufgrund des Personalmangels immer größere Gruppen beaufsichtigen müssen. Auf dass solch undifferenzierte und unzeitgemäße Pauschalverurteilungen bald der Vergangenheit angehören!

Bewertung: 3.5 von 5.

Alexander Oetker / Thi Linh Nguyen: Die Schuld, die uns verfolgt. München: Piper Verlag, 2023

Niklas Natt och Dag: 1795

In diesem dritten und letzten Teil der Trilogie sind Emil Winge und sein Partner Jean Michael Cardell dem flüchtigen Tycho Ceton auf der Spur – Mitglied der Gesellschaft der Eumeniden, der (gemeinsam mit ihnen) zahlreiche grausame Straftaten zu verantworten hat. Ebenfalls spurlos verschwunden ist die ehemalige Spinnhäuslerin Anna Stina, die eine brisante Information mit sich trägt und nicht nur von dem ihr wohlgesonnen Cardell verzweifelt gesucht wird…

Ein ganz großer Pluspunkt dieser Trilogie ist die gut ausgearbeitete historische Kulisse, insbesondere der Schattenseiten Stockholms im ausgehenden 18. Jahrhundert. Verelendung, Gewalt und Machtmissbrauch sind allerorts gegenwärtig, die politischen Verhältnisse mehr als instabil. Durchgängig sehr gelungen finde ich auch das sehr ungewöhnliche, aber überaus charakterstarke ‚Ermittlerteam‘, allesamt wenig vorzeigbar und mit diversen Problemen beladen, aber mit dem Herz am rechten Fleck. Auch die erzählten Geschichten sind zum Teil hochdramatisch und spannend. Klingt also erstmal alles ganz gut.

Trotzdem habe ich schon nach dem ersten Teil mit mir gerungen, ob ich wirklich weiterlesen möchte, denn das Maß an Grausamkeiten und Perversionen, die hier präsentiert wurden, war für mich nur schwer auszuhalten. Nun konnte mich die Anlage der Geschichte im Hinblick auf die Fortsetzung doch so weit fesseln, dass ich schon wissen wollte. Und den zweiten Teil fand ich doch sehr stark, sowohl von der Story als auch vom Spannungsfaktor her. Hier war am Ende so vieles unabgeschlossen, dass ich wirklich auf diesen dritten Teil gewartet habe. Obwohl es mir auch da deutlich zu gewalttätig zuging, das hat mich auch im zweiten Teil wieder sehr abgestoßen.

Und auch, wenn im dritten Teil vieles nur angedeutet wird, wurden einem leider auch im dritten Teil der Trilogie diverse abstoßende Grausamkeiten nicht erspart. Das mag sein, dass man in dieser Zeit nicht zimperlich war und es sadistische Zirkel, wie die hier geschilderten, auch gegeben hat, aber ich mag sowas eigentlich nicht lesen.

Hätte ich wohl auch nicht, wenn ich gewusst hätte, dass die guten Anlagen des zweiten Teils so wenig aufgegriffen und weitergeführt werden. Für mich steckte da noch so viel Potential drin, das – aus mir unerklärlichen Gründen – kaum aufgegriffen wurde und schlichtweg verpufft ist. Das Ende fand ich entsprechend lau und gerade im Kontrast zum starken zweiten Teil war für mich fand dieser Abschlussband eher enttäuscht. Statt eines starken dramatischen Finales plätscherte die Geschichte oft vor sich hin, wirkte seltsam aufgebläht und kraftlos und war leider so ganz anders, als ich erhofft hatte.

Bewertung: 3 von 5.

Niklas Natt och Dag: 1795. München: Piper Verlag, 2022

Donna Leon: Venezianisches Finale

Tragödie in Venedigs berühmten Opernhaus: Der Stardirigent Helmut Wellauer stirbt während der Aufführung, in seiner Garderobe der unverkennbare Duft nach Bittermandeln.
Brunetti und seine Kollegen beginnen fieberhaft mit den Ermittlungen, wer den Opernstar vergiftet haben könnte und stellen fest: erstaunlich viele hatten ein Motiv…

Eigentlich hatte ich das Buch schon aussortiert, denn Donna Leon hatte ich gedanklich in die Kitschschublade einsortiert. Kurz vor dem Bücherschrank hat mich jedoch meine spätere Lesepartnerin aufgehalten, mit der ich das Buch dann doch zusammen gelesen habe. Und ich muss sagen, ich bin positiv überrascht und auf jeden Fall eines besseren belehrt.
Es wird jetzt zwar nicht meine Lieblingskrimireihe werden, aber ist ein durchaus solider Krimi in alter Erzähltradition.
Ein Mord, viele Verdächtige, das Ganze weitgehend unblutig und ohne großes Aktionspektakel.
Ich hatte anfangs Mühe mit der venezianischen Kulisse – automatisch ist bei mir der traditionelle Krimi in England verortet. Da muss man erstmal umdenken. Auch war für mich die Figur des Brunetti zunächst etwas farblos und ich hatte Mühe, in das Buch reinzukommen. Das italienische Temperament und die farbenfrohe Lebendigkeit der Stadt kam für mich nicht stark genug rüber.
Trotzdem war die Geschichte gut erzählt, überwiegend spannend und in der Auflösung plausibel.
Auch wenn ich mir die Figuren und die venezianische Kulisse noch kraftvoller gewünscht hätte, kann ich mir doch vorstellen, Brunetti noch eine zeitlang zu begleiten..

Bewertung: 3.5 von 5.

Donna Leon: Venezianisches Finale. Zürich: Diogenes, 1995 (Orig. 1993)

Fjodor Dostojewski: Der Idiot



Fürst Myschkin reist nach einem längeren Kuraufenthalt in der Schweiz in seine Heimatstadt St. Petersburg zurück. Nach dem Tod seines Ziehvaters steht der an Epilepsie leidende Myschkin mittellos vor einer ungewissen Zukunft und sucht zunächst Unterschlupf bei einer entfernten Verwandten. In dem vornehmen Familienkreis gilt er aufgrund seiner gutmütigen Art schon bald als Idiot und wird zur Zielscheibe zahlreicher Intrigen. Zudem rückt ihn eine unerwartete Erbschaft in den Fokus zwielichtiger Gestalten…

Diesen Klassiker hab ich vor einiger Zeit als Hörbuch versucht, kam aber nicht so richtig rein in die Geschichte mit dem Fazit, dass ich es an anderer Stelle nochmal mit der Lesefassung versuche. Und das war jetzt.

Tja, und so richtig warm geworden bin ich mit ‚Der Idiot‘ immer noch nicht. Passenderweise vereinigen sich darin die zwei Seiten meiner Einstellung zu Klassikern, denn dieses Buch hat mich sehr zwiegespalten zurückgelassen.
Gerade die erste Hälfte des Romans hat mir von der Thematik und Stimmung her gut gefallen. Die Figur des Fürsten Myschkin, der in seiner naiv-gutmütigen Art von seiner Umgebung nicht ernst genommen und ausgenutzt wird, ist von Dostojewski als Prototyp des Gutmenschen sehr gut in Szene gesetzt worden. Das Besondere daran ist, dass der vermeintliche ‚Idiot‘ im Kontrast zu der völlig überdrehten großbürgerlichen Familie und den moralisch fragwürdigen Figuren ihres Umfeldes eigentlich als der einzig ‚Normale‘ erscheint. Dieser gesellschaftskritische Aspekt ist für mich die große Stärke dieses Romans.

Nur leider ist es mir hier ähnlich ergangen wie bei ‚Schuld und Sühne‘. Nach einem guten Start flacht die Geschichte in der zweiten Hälfte deutlich ab. In diesem Fall zog sich das Geschehen unnötig in die Länge, ohne dass wesentlich Neues beigesteuert wurde. Stattdessen verliert sich die Geschichte in endlosen Diskussionen und Streitereien, die zu nichts führen. Das war auf die Dauer sehr anstrengend und hat meine Lesefreude doch deutlich getrübt. Dazu muss man sagen, dass Dostojewski nicht gerade die einfachste Lektüre ist. Die Figuren haben durchgängig dreiteilige Namen, die jedoch nicht einheitlich verwendet werden. Mal wir nur der Nachname verwendet oder auch nur die ersten beiden Namen, die sich häufig auch noch stark ähneln. Also schon dabei muss man sich höllisch konzentrieren, wer überhaupt wer ist. Ohne meine Aufzeichnungen wäre ich komplett aufgeschmissen gewesen.

Bewertung: 3 von 5.

Fjodor Dostojewski: Der Idiot. Klagenfurt: Neuer Kaiser Verlag, 1986 (Original 1889)

Viveca Sten: Kalt und still

Nach einigen persönlichen Schicksalsschlägen sucht die Polizisten Hannah Ahlander Zuflucht im Ferienhaus ihrer Schwester im Norden von Schweden. Doch die gewohnte Ruhe in dem verschneiten Bergdorf ist in hektischen Aufruhr umgeschlagen. Bei minus 20 Grad ist eine Schülerin nach einer Party verschwunden und jede Minute zählt. Hannah beteiligt sich an den Suchaktionen und entdeckt schon bald mysteriöse Dinge in diesem so harmlos wirkenden Dorf…

Dieses Buch zu bewerten fällt mir echt schwer, denn wie das beschriebene Bergdorf hatte es für mich Höhen und Tiefen.
Ganz klar für das Buch spricht, dass es einen sehr angenehm flüssigen Schreibstil hat und es sich wirklich gut lesen lässt. Kombiniert mit den kurzen Kapiteln und den Perspektivenwechseln flutscht man nur so durch die Seiten und ich habe mich trotz der inhaltlichen Mängel gut unterhalten gefühlt. Auch wenn sich vieles schon angedeutet hat, war ich doch bis zum Schluss auf die Auflösung gespannt. Auch die Atmosphäre in diesem verschneiten Bergdorf hat mir gut gefallen. Soweit ein angenehm und gut zu lesender, solider Krimi und alles könnte so schön sein.

Nur leider gab es für mich auch einige handwerkliche und inhaltliche Stolpersteine, die meine Lesefreude etwas getrübt haben. Einige Charaktere waren für mich schon sehr klischeehaft und auch einzelne Szenen ziemlich plump entworfen, einschließlich der verschiedenen gelegten Fährten. Dass wir den Täter in der Leserunde eigentlich schon spätestens nach der Hälfte im Verdacht hatten, hat mich dabei gar nicht so gestört, sondern die vielen doch recht unwahrscheinlichen Ereignisse in diesem Krimi.
Immer wieder musste man sich fragen: Wer macht sowas? Wie wahrscheinlich ist das? Auch bei einem Krimi sollte es nicht allzu viele dieser Momente geben, finde ich.
Gerade zum Ende kam da einiges zusammen. Die dramatische Entwicklung rund um Hannah am Schluss war ja nochmal sehr spannend, aber die Auflösung…

Wie gesagt, für mich ein Krimi mit Höhen und Tiefen, aber im Großen und Ganzen habe ich mich gut unterhalten gefühlt.

Bewertung: 3.5 von 5.

Viveca Sten: Kalt und still. München: dtv, 2022

Paul Auster: 4321

Auf 1258 Seiten breitet Auster das Leben des Archie Ferguson aus und bei so viel Text drängt sich der Gedanke auf, dass der aber ganz schön viel erlebt haben muss. Hat er auch, aber ganz anders, als man denkt. Denn die markanten Lebensabschnitt gibt es gleich viermal. Vier Varianten eines Lebens, wie es sich abgespielt haben könnte. Mit unterschiedlichen Lebenswegen der Eltern, finanziellen Bedingungen, schulischen und beruflichen Entscheidungen, sexuellen Orientierungen und Lebensgefährt:innen…

Die Anlage des Romans finde ich extrem reizvoll. Den Gedanken, wie das Leben verlaufen wäre, wenn die Familie einen anderen sozialen Hintergrund gehabt hätte, man andere Lebensentscheidungen getroffen hätte. Es spricht für die Originalität und auch den Mut des Autor, dieses Gedankenspiel in einem Buch aufzugreifen, denn das ist schon ein recht komplexes Vorhaben. Und das ist umso faszinierender, da der Autor jede Menge biografischer Details in Archies Lebensgeschichten verarbeitet hat.

Aber nicht nur inhaltlich hat dieser Roman einiges zu bieten, denn Auster ist nicht umsonst eine Ikone der amerikanischen Literatur. Er kann einfach wahnsinnig gut schreiben und Figuren zum Leben erwachen lassen.
Allerdings beginne ich an dieser Stelle mit der ersten Einschränkung: die Sätze waren an einigen Stellen eindeutig zu lang. Ich glaube, einer ging über zwei Seiten. Das ist mir dann doch zu viel des Guten und macht das Lesen unnötig anstrengend.

Größtes Manko an dem Buch war für mich, dass es zeitweise recht aufgebläht wirkte. Das liegt natürlich an der Mehrfachanlage der Geschichte, die in ihren einzelnen Faszetten zwar unterschiedlich ist, aber durchaus auch Gemeinsamkeiten hat. Das hat zeitweilig einen Murmeltier-Effekt. Dazu kommt, dass der Autor bei einigen Themen sehr ins Detail geht, wo es nicht unbedingt nötig wäre. Baseball und Co fand ich jetzt nur bedingt interessant. Das machte es mir bei dem Umfang des Buches manchmal schwer, am Ball zu bleiben.

Bewertung: 3.5 von 5.

Paul Auster: 4321. Hamburg: Rowohlt Verlag, 2017

Gabriele Tergit: Effingers

Ein Buch mit 885 Seiten ist eine Herausforderung und hat etwas Anlaufzeit gebraucht. Und um es gleich vorweg zu sagen: diesen groß angelegten Familienroman liest man am besten am Stück. Denn er enthält jede Menge verwandschaftliche Verzweigungen, bei denen man schnell den Überblick verlieren kann. Der Stammbaum am Ende des Buches ist zwar hilfreich, ersetzt aber nicht den inhaltlichen Lesefluss.

In diesem umfangreichen Roman entwickelt Tergit die Geschichte dreier jüdischer Familien, die es in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen zu Wohlstand und Ansehen bringen. Dem wechselhaften Familienleben mit seinen alltäglichen und persönlichen Dramen folgt man auf der historischen Kulisse Berlins, beginnend im Jahre 1884 mit der ersten Fabriksgründung Paul Effingers bis zum Frühling 1948, mit dem das Buch endet.
Wie man sich bei der großen und ereignisreichen Zeitspanne denken kann, entfaltet sich hier Weltgeschichte in sehr greifbarer Form. Nicht abstrakt, sondern in ihren unmittelbaren Auswirkungen auf den Einzelnen.
Das hat mir ausgesprochen gut gefallen. Sehr gut herausgearbeitet fand ich das Aufeinanderprallen der Generationen, dem Festhalten an Traditionellem auf der einen und dem Streben nach Fortschritt und Moderne auf der anderen Seite. Das spiegelt nicht nur die gesellschaftliche Entwicklung, sondern auch die relevanten Themen der Zeit wider. Ähnlich gut dargestellt ist der immer stärker anwachsende Antisemitismus, der in der Machtübernahme der Nationalsozialisten und dem Holocaust seinen Höhepunkt findet. Diese Entwicklung aus der Innenansicht einer jüdischen Familie zu betrachten, war sehr authentisch und macht dieses Buch zu einem so eindrucksvollen, wie beklemmenden Zeitzeugnis.

Inhaltlich war das Buch auf jeden Fall ein Gewinn, auch wenn es in den bürgerlichen Alltagsszenen doch deutliche Längen hatte. Da wurden zu viele Seiten mit Nebensächlichkeiten gefüllt, die zum Fortgang oder Gehalt der Geschichte wenig beigetragen haben. Der Roman wirkte dadurch leicht aufgebläht und hat bei mir die Lesefreude zwischenzeitlich etwas getrübt.

Bewertung: 3.5 von 5.

Gebriele Tergit: Effingers. München: btb Verlag, 2020 (Original 1951)

Max Bentow: Das Bernsteinkind

Im mittlerweile 10. Fall dieser Reihe ermittelt Kommissar Trojan in einer Mordserie, in der die Opfer augenscheinlich nichts verbindet, bis auf ein grauenvolles Detail: ihre Augen leuchten golden wie Bernstein.
Bei seinen Ermittlungen stößt Trojan auf eine weitere Gemeinsamkeit. Vor ihrem Tod scheinen alle Opfer in den Besitz eines mysteriösen Buches gekommen zu sein – geschrieben von einem anonymen Verfasser, das den Namen ‚Nachland‘ trägt.
Und das scheint nicht nur der Titel des Buches zu sein…

Wie man an dem Foto bereits unschwer erkennen kann: Ich bin Fan und das schon seit vielen Jahren. Seinen ersten Band hatte ich zufällig als Neuerscheinung in meiner Bibliothek entdeckt und habe seitdem jedem neuen Band entgegengefiebert.
Ich mag den Charakter Nils Trojan und finde insgesamt, dass Bentows Figuren gut ausgearbeitet sind. Das trifft insbesondere auf die Täterpersönlichkeiten und ihre Motive zu, die psychologisch sehr ausdifferenziert sind. Häufig entsteht die besondere Spannung der Geschichten aus den sehr speziellen psychischen Eigenarten der Täter selbst, die sie mit ihren Opfern verbindet und ihr Handeln antreibt. Plottwists und Action am laufenden Band sind hier gar nicht nötig, um ein Höchstmaß an Spannung zu erzeugen.
Dazu kann Bentow ganz wunderbar schreiben: einmal angefangen ist es nur schwer, wieder aufzuhören. Man fliegt förmlich durch die Seiten.
Und als Berlinerin freue ich mich immer wieder, meine Stadt in seinen Büchern wiederzufinden. Auch in diesem Band war Trojan an vielen sehr vertrauten Orten unterwegs, unter anderem in dem Lichtenberger Kiez, in dem mein Freund wohnt. Sowas macht Spaß!

Obwohl ich nun sehr viel Lobendes über diese Thrillerreihe geschrieben habe, die zu weiten Teilen auch auf dieses Buch zutrifft, kann ich in den allgemeinen Jubel zum Bernsteinkind nicht einstimmen, so leid es mir tut.
Es ist für mich leider der schwächste Band der Reihe.

Was ich an Bentow so liebe, nämlich das seine Geschichten logisch gut aufgebaut und komplett nachvollzubar sind, fehlt mir hier streckenweise. Die Grundmotivation des Täters, von der er in eingeschobenen Passagen selbst berichtet, ist zwar gewohnt stimmig und überzeugend, aber zwischendurch waren für mich einige Dinge nicht logisch. Achtung: möglicher Spoiler – die spezielle Buchkonstruktion ist ja sehr aufwändig und vieles seiner ebenfalls aufwändigen Planung hängt davon ab, das genau diese Personen das Buch finden, mitnehmen und genau das damit tun, was sie tun. Wie wahrscheinlich ist sowas, beispielsweise in der U-Bahn Szene? Da waren für mich eindeutig zu viele (für die Geschichte notwendige) Konstruktionen von zu viel unwahrscheinlichen Zufällen abhängig und das hat meine Lesefreude etwas getrübt. Auch vom Schreibstil habe ich Bentow hier teilweise gar nicht wiedererkannt. Es war zwar wie immer gut zu lesen, aber gerade zu Beginn und zum Ende hin fand ich die Dialoge zum Teil regelrecht hölzern. Dass Trojan und seine Kollegin sich (und den Leser:innen) gegenseitig den Fall haarklein erklären, damit das dann auch jeder verstanden hat, musste für meinen Geschmack nicht sein. Insgesamt ist es aber Jammern auf hohem Niveau, denn ich mag die Reihe natürlich auch weiterhin und freue schon auf Band 11!

Bewertung: 3.5 von 5.

Max Bentow: Das Bernsteinkind. München: Goldmann, 2022

Sebastian Fitzek: Mimik

Als die Mimikresonanzexpertin Hannah Herbst, Spezialistin für unbewusste mimische Reaktionen und Beraterin der Kriminalpolizei, nach einer Operation erwacht, steht sie vor einem bekannten Problem. Sie leidet nach Narkosen unter Gedächtnisverlust und auch jetzt ist ihr Erinnerungsvermögen schwer gestört. Was die Situation extrem erschwert. Sie befindet sich in der Gewalt eines Schwerverbrechers und Soziopathen. Und sie soll sich ein Video anschauen, in dem eine Frau den Mord an ihrer Familie gesteht. Nur..diese Frau ist sie selbst…

Warum lese ich immer wieder Fitzek? Für manche eine völlig unverständliche Frage, aber tatsächlich ernst gemeint. Denn gerade das letzte Buch fand ich nicht gut und man hat den Eindruck, dass Inhalt und Tiefe der Geschichten immer mehr in den Hintergrund geraten. Zugunsten von aufwändigem Design und Marketing.

Aber um die Eingangsfrage zu beantworten: Fitzek schreibt einfach gut. Ein sehr eingängiger Schreibstil, man ist sofort drin in der Geschichte und fliegt förmlich durch die Seiten. Einfach gute, spannende Unterhaltung, die Spaß macht.
Wenn man sich darauf einlässt, dass die Geschichten von Fitzek häufig völlig überkonstruiert sind, wie man auch hier schon an der kurzen Einleitung sieht. Da kommt gleich zu Beginn einiges zusammen und setzt sich in ähnlicher Weise fort. Für mich ist es auch hier an einigen Stellen wieder drüber, wie auch schon in seinen letzten Büchern. Zu viel Action und Plottwists, zu viel Um-die-Ecke-gedacht und zu wenig Tiefe in den Charakteren und der Geschichte. Auch wenn ich hier die überraschende Wendung am Ende gut gelungen finde.

Wie wahrlich nicht alles an diesem Thriller. War da ernsthaft wieder dieser Schneemann? Spontan fallen mir gleich zwei Thriller mit genau diesem Szenario ein und vermutlich gibt es noch viel mehr. Originell ist das nicht. Allerdings haut dieses Defizit die besondere Thematik der Mimikresonanz wieder raus.

Man merkt, ich bin bei diesem Buch hin- und hergerissen.

Mimik gefällt auf jeden Fall besser als das letzte Buch, ist allerdings weit von dem Eindruck entfernt, den damals ‚Die Therapie‘ bei mir hinterlassen hat.

Bewertung: 3.5 von 5.

Sebastian Fitzek: Mimik. München: Droemer Knaur, 2022

Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins



Ksenia ist Russin, sie ist Deutsche, sie ist Jüdin, sie ist unter Zeugen Jehovas aufgewachsen, sie ist eine junge Frau, Mutter, Schriftstellerin und Wissenschaftlerin – das alles ist sie und gleichzeitig nichts davon.

Schon der erste Satz des Klappentextes umreißt ziemlich genau, worum es in diesem Romandebüt geht – um die Suche nach der eigenen Identität. Dabei fließt Vergangenes und Gegenwärtiges ineinander, fällt der Blick auf Familienmitglieder und Freunde, aber auch Fremdes, dessen Verbindung lediglich in ähnlichen Wurzeln besteht.
Daher besteht der Text nicht nur aus Erinnerungen und Gedanken, sondern auch Rechercheergebnissen aus dem Internet zum Stichwort ‚russisch‘, aus Zitaten religiöser Schriften und Notizzetteln. Eine Collage der Selbstverortung.

Das Buch lässt mich ein wenig zwiegespalten zurück. Einiges hat mir wirklich gut gefallen, beispielsweise ihre Beschreibung, wie sie als Kind nach Deutschland gekommen ist. Das Gefühl des Fremdseins und der Sprachlosigkeit, in die man sich gut hineinfühlen kann. Persönlich haben mich die Abschnitte zum Einfluss der Zeugen Jehovas auf ihre Familie und ihre Erziehung besonders gefesselt, da meine beste Freundin aus Kindertagen einer ähnlichen religiösen Gruppierung angehörte. Da kam mir vieles sehr bekannt vor.

Trotzdem konnte mich das Buch nicht so richtig in seinen Bann ziehen. Vielleicht lag es an der fragmentierten Erzählform, vielleicht an dem (für meinen Geschmack) doch zu distanzierten Blickwinkel. Der Begriff ’sezierend‘ auf dem Klappentext trifft das ganz gut.

Dafür ist es aber ganz eindeutig von allen nominierten Büchern das mit dem schönsten Cover!

Bewertung: 3 von 5.

Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins. Erlangen: Homunculus Verlag, 2022