Isabel Allende: Das Geisterhaus

Ein höchst ungleiches Paar bildet den Eckpfeiler dieser umfangreichen Familiensaga. Da ist die sanftmütige, der Welt entrückte Clara, die mit Geistern spricht und über telepathische Fähigkeiten verfügt. Und als Gegenstück der Patriarch Esteban, ein ehrgeiziger Großgrundbesitzer, zutiefst konservativ, engstirnig und jähzornig.
Der Leser begleitet ihre Familie durch die Jahrzehnte vor dem Hintergrund der chilenischen Geschichte. Dem Aufstieg und Fall des Sozialismus und dem Militärputsch 1973, der Jahre des Terrors einläutet.

Ich hatte das Buch zum ersten Mal kurz vor dem Abitur gelesen und hatte neben vielen diffusen nur eine wesentliche Erinnerung: Dass es mir ausgesprochen gut gefallen hat.
Nun ist seitdem einige Zeit ins Land gegangen, mein abschließendes Fazit nach diesem reread ist aber nahezu identisch: ein großartiges Buch!
Ich mochte von Beginn an den bildhaften Erzählstil und die detaillierten Beschreibungen, die mich sofort in den Mikrokosmos dieser Familie versetzt haben. Wahrscheinlich hätte ich noch weitere 900 Seiten lesen können und nicht umsonst ging es allen aus unserer Leserunde so, dass sie gerne gewusst hätten, wie es mit Enkelin Alba weitergeht.
Ein Buch, dass mich nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich völlig in den Bann gezogen hat.
Das war eine literarisch eingebettete Geschichtsstunde aus erster Hand, handelt es sich doch bei Isabel Allende um eine regimekritische und politisch engagierte Journalistin und Verwandte Salvador Allendes. Auch wenn gerade die Gewaltszenen am Schluss nicht immer leicht zu verdauen waren, fand ich es wichtig, diese Einblicke in den berüchtigten Folterstaat zu bekommen.
Absolut gelungen war für mich auch die Herausarbeitung der Figuren. Jedes für sich ein Charakterporträt, das plastisch vor einem steht. Manche sind einem sehr nah, wie mir Clara; von manchen fühlt man sich zutiefst abgestoßen, wie beispielsweise vom jungen Esteban. Für mich waren die Charaktere in diesem Buch sehr greifbar und haben vieles an der Kraft erzeugt, die diese Geschichte ausmacht.

Bewertung: 5 von 5.

Isabel Allende: Das Geisterhaus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 1984 (span. Original 1982)

Laetitia Colombani: Der Zopf


Wie die drei Strähnen eines geflochtenen Zopfes werden hier die Geschichten dreier Frauen erzählt und wie dieser Zopf sind ihre Schicksale durch eben dieses Band miteinander verknüpft.
Es ist die Geschichte von Smita, einer Unberührbaren in Indien, die mit der Hoffnung auf ein besseres Leben im Tempel von Tirupati ihre Haare opfert.
Die Geschichte von Giulia, die versucht, das Unternehmen ihres Vaters, die letzte Perückenfabrik Palermos, vor dem Ruin zu retten.
Und die Geschichte von Sarah, der erfolgreichen Anwältin in Montreal, die plötzlich an Krebs erkrankt und ihre Haare verliert.
Über hunderte von Kilometern entfernt und mit Lebenswegen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, verbindet sie doch das gleiche Schicksal. Als Frau um seine Stellung in der Gesellschaft kämpfen zu müssen. Und das tun sie. Mit aller Macht.

Bereits bei der Inhaltsbeschreibung merkt man, wie genial diese Konstruktion ist, das Bild des Zopfes mit dem Schicksal dieser Frauen und dem Motiv des Haares zu verbinden, das für jede dieser Frauen eine ganz eigene, aber auch sehr existentielle Bedeutung hat.
Jeder dieser Frauen bin ich mit großer Anteilnahme gefolgt, wenn mich auch das Schicksal der Unberührbaren Smita am meisten berührt hat, weil es einfach so furchtbar ist, in welchem Elend diese Menschen auch heute noch leben müssen. Das sie trotzdem einen Schatz mit sich trägt, der der reichen Amerikanerin im fernen Montreal neuen Lebensmut schenkt, das war schon sehr bewegend und der Epilog hat mich wirklich zu Tränen gerührt.
Ein wahres Herzensbuch.

Bewertung: 5 von 5.

Laetitia Colombani: Der Zopf. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 2018

Max Frisch: Andorra

Der junge Andri, eigentlich das uneheliche Kind des Lehrers, wächst in dem Glauben auf, ein Jude zu sein, den der Lehrer als Kind vor den nicht näher definierten „Schwarzen“ gerettet und als Pflegekind aufgenommen hat. Überall in der Stadt schlägt ihm ein unterschwelliger Antisemitismus entgegen und Andri beginnt, diese negativen Zuschreibungen immer mehr zu verinnerlichen. Als eine Fremde (Andris leibliche Mutter) auf offener Straße erschlagen wird, beschuldigen die Dorfbewohner Andri des Mordes, obwohl er es nachweislich nicht gewesen sein konnte. Die Wahrheit soll die ‚Judenschau‘ bringen – durchgeführt von den „Schwarzen“, den neuen Besatzer des Dorfes. Andri wird „als Jude entlarvt“ und hingerichtet, die Dorfbewohner schauen tatenlos zu.

Frisch hat dieses Stück unter dem Eindruck der Kriegsverbrecherprozesse, insbesondere um Rudolph Eichmann geschrieben und das macht dieses Stück so besonders: die Verleugnung der eigenen Schuld.
Dafür treten die Dorfbewohner in Zwischenszenen einzeln an die Zeugenschranke:

DOKTOR: (…) Ich kann nur sagen, dass es nicht meine Schuld ist, einmal abgesehen davon, daß sein Benehmen (was man leider nicht verschweigen kann) mehr und mehr (sagen wir es offen) etwas Jüdisches hatte, obschon der junge Mann, mag sein, ein Andorraner war wie unsereiner. (…) Was meine Person betrifft, habe ich nie an Mißhandlungen teilgenommen oder irgend jemand dazu aufgefordert. (…) Ich bin nicht schuld, daß es dazu gekommen ist!“ (S. 96)

Dabei ging es Frisch nicht um die Schuld der Haupttäter, sondern die derjenigen, die all das möglich gemacht haben, wie er in einem Interview der ZEIT erklärt: „Das Stück handelt nicht von den Eichmanns, sondern von uns und unseren Freunden, von lauter Nichtkriegsverbrechern, von den Halbspaß-Antisemiten, d. h. von den Millionen, die es möglich machten, daß Hitler (um schematisch zu reden) nicht Maler werden musste.“ (Anmerkungen, S. 144)
Es geht hier um den alltäglichen, unterschwelligen Rassismus, der eine Gesellschaft durchzieht und macht dieses Stück fast 60 Jahre später noch so brandaktuell, dass ich Gänsehaut bekomme.
Für mich ein Meisterwerk und eines der besten Dramen überhaupt!

Bewertung: 5 von 5.

Max Frisch: Andorra. Suhrkamp Basis Bibliothek, 1999 (Original 1961)


Max Frisch: Biedermann und die Brandstifter


Noch während sich der Fabrikant Jakob Biedermann über die zunehmende Brandstifterei in der Stadt ereifert, bittet der ehemalige Ringer Josef Schmitz um ein Quartier in seinem Haus und mietet sich auf dem feuergefährlichen Dachboden ein. Seiner buchstäblich raumgreifenden Art hat das Ehepaar wenig entgegenzusetzen, auch nicht, als er weitere Freunde ins Haus einlädt und diese offensichtliche Vorbereitungen für eine Brandlegung treffen. Biedermann verschließt bis zum Schluss die Augen vor der drohenden Gefahr.
Wem dieses Szenario aus der Geschichte bekannt vorkommt, liegt richtig, denn selten sind die Mechanismen der faschistischen Machtübernahme so auf den Punkt gebracht worden, wie in diesem Drama. Ein politische Parabel über Manipulation, Leichtgläubigkeit und Opportunismus, heute so aktuell wie damals, denn geistige Brandstifter gibt es auch heute noch mehr als genug. Und ebenso viele, die sie nicht Ernst nehmen.
Für mich eines der besten und bedeutensten Dramen überhaupt, in seiner Art zeitlos und immer wieder aktuell. Die Parallelen zu den historischen Ereignissen sind so perfekt auf den Punkt gebracht und in dem Bild des Brandstifters eingefangen, dass man es eigentlich nicht besser machen kann. Ebenso wie die Charakterdarstellung des dümmlich-spießigen Biedermann, der die Wahrheit selbst dann nicht erkennt, wenn er mit der Nase draufgestoßen wird und die Katastrophe dadurch ihren Lauf nimmt.

Natürlich bietet sich bei dem historischen Kontext dieses Drama als Schullektüre an und möglicherweise ist schon der eine oder andere auf diese Weise damit in Berührung gekommen. Nicht immer löst solche Pflichtlektüre große Begeisterung aus, denn das ist oft Lesen unter erschwerten Bedingungen. Aber keines hat so uneingeschränkte Begeisterung verdient wie dieser Klassiker, ein Meisterwerk.

Nach dieser Anmoderation verwundert die Sterne-Bewertung wahrscheinlich nicht, aber ist so zwangsläufig auch wieder nicht. Denn Dramen haben es in Textform wirklich nicht einfach. Sie sind zum Spielen gemacht, nicht zum Lesen. In dieser Form erscheinen sie oft sperrig und mühsam zu lesen, sind manchmal sogar harte Arbeit. Aber all das konnte diesem Werk nichts anhaben, es hat die volle Punktzahl zutiefst verdient.

Bewertung: 5 von 5.

Max Frisch: Biedermann und Brandstifter. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996 (Original 1958)

Karen Köhler: Miroloi

Eine namenslose Insel, wie aus der Zeit gefallen. In dieser archaisch-patriarchalischen Dorfgemeinschaft herrschen eigene Traditionen und Gesetze, eine eigene Religion. Die Errungenschaften der modernen Gesellschaft finden zwar gelegentlich den Weg übers Meer, werden aber vom Ältestenrat abgelehnt, man wähnt sich im Mittelalter. Frauen haben hier keine Stimme, sie sind in erster Linie fürs Arbeiten zuständig. Lesen und Schreiben lernen ist den Männern vorbehalten. Wer aufbegehrt, kommt an den Pfahl. Von dieser Insel entkommt man nicht.

Hier erzählt uns die Außenseiterin des Dorfes ihre Geschichte. Als Findelkind vom Bethausvater, dem religiösen Oberhaupt der Gemeinde, aufgezogen, wird sie von den Dorfbewohnern geächtet, den Kindern verspottet und für Schicksalschläge jeglicher Art verantwortlich gemacht. Ohne Familie ist sie nicht in den Stammbüchern verzeichnet, hat keinerlei Rechte und noch nicht einmal einen Namen, denn dazu müsste man nach den Gesetzen des Dorfes die Eltern kennen. Sie wächst in dem Bewusstsein auf, dass niemand sich für ihr Leben interessiert und dass niemand ihr nach dem Tod ein Miroloi singen wird, das traditionelle Totenlied der griechisch-orthodoxen Kirche, dass das Leben des Verstorbenen zusammenfasst. Und so singt sie es selbst, ein Totenlied für sich selbst, in 128 Strophen.

Über ihr Leben als Ausgestoßene, aber auch über erste Schritte hinaus aus der Unmündigkeit, denn heimlich lernt sie lesen und schreiben. Und sie lernt mit dem Bethausschüler Yael die Liebe kennen, die ungeahnte Kräft freisetzt.

Als ich die Kritiken über dieses Buch gelesen habe, dachte ich einen kurzen Moment, das Buch wäre noch gar nicht zu Ende, denn interessanterweise stammten die negativsten Statements ausnahmslos von Männern. Und tatsächlich ist das ein Buch, dass man nicht nur mit dem Kopf lesen kann. Auf dieses Buch muss man sich auch gefühlsmäßig einlassen, sonst findet man keinen Zugang. Dieses Buch muss man fühlen. Und wer das tut, dem eröffnet sich eine ganze Welt.

Mich hat das Buch von der ersten bis zur letzten Seite gehabt.  Gerade die einfache, zum Teil etwas infantile Sprache, die ja vielfach kritisiert wurde, macht das Buch für mich so authentisch. So spricht ein 15jähriges Mädchen in einer geschlossenen Gesellschaft, das von jeglichem Weltwissen abgeschnitten ist. Alles andere wäre falsch gewesen.

Ich habe mit der namenlosen Erzählerin mitgelebt, mitgefühlt und mitgekämpft und es hat mich sehr, sehr berührt. Ein Buch voller Traurigkeit, aber gleichzeitig voller Mut und Würde. Es ist keine Übertreibung wenn ich sage, dass es zu den besten Büchern gehört, die ich bisher gelesen habe.

Bewertung: 5 von 5.

Karen Köhler: Miroloi. München: Hanser Verlag, 2019

Patrick Süskind: Das Parfum

Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehörte. Er hieß Jean-Baptiste Grenouille, und wenn sein Name im Gegensatz zu den Namen anderer Scheusale, wie etwa de Sades, Saint-Justs, Fouchés, Bonapartes usw., heute in Vergessenheit geraten ist, so sicher nicht deshalb, weil Grenouille diesen berühmteren Finstermännern an Selbstüberhebung, Menschenverachtung, Immoralität, kurz an Gottlosigkeit nachgestanden hätte, sondern weil sich sein Ehrgeiz auf ein Gebiet beschränkte, welches in der Geschichte keine Spuren hinterlässt: auf das flüchtige Reich der Gerüche.“

Mit diesem gleichermaßen genialen ersten Absatz beginnt dieses Buch und katapultiert einen bereits auf der ersten Seite ins Paris des 18. Jahrhunderts, an den übelriechensten Ort der Stadt, auf den Fischmarkt. Dort erblickt Grenouille gerade das Licht der Welt. Und fortan weichen wir ihm nicht mehr von der Seite, begleiten ihn auf seinem Weg und lernen schon bald seinen entscheidenden Makel kennen: er hat keinen Geruch. Dafür übertrifft sein eigener Geruchssinn den eines normalen Menschen um ein Vielfaches. Und so entsteht eine grausame Phantasie in seinem Kopf: Ein Parfum aus den schönsten Frauen der Stadt herzustellen.

Warum liebe ich dieses Buch so?

Zunächst mal ist die Idee und Anlage der Geschichte natürlich sensationell gut. Ein ausgesprochen reizvolles Thema, in sich stimmig und in dieser Form noch nicht dagewesen. Wenn so eine gute Grundidee dann auch noch erzählerisch auf höchstem Niveau ausgearbeitet wird, dann ist das schon mal mehr als die halbe Miete für einen ganz großen Roman. Aber hier ist noch mehr passiert.

Süskind gelingt es, durch seine Erzählweise eine so dichte Atmosphäre zu erschaffen, dass man förmlich aus der Zeit fällt. Man sitzt nicht mehr zu Hause gemütlich mit einem Buch auf dem Sofa, man geht durch die stinkenden Straßen von Paris. Ich hab das Buch jetzt mittlerweile viermal gelesen und trotzdem kann ich mich der Sogkraft dieser Geschichte nicht entziehen. Man wird förmlich in die Geschichte eingesaugt und erlebt nicht nur die Welt an der Seite des Protagonisten, man erriecht sie. All die Gerüche des Grenouille, es werden deine!

Und wenn Wörter Gerüche in einem entstehen lassen, wenn man plötzlich Gerüche wahrnimmt, wo vorher keine waren, dann hat der Autor alles richtig gemacht. Für mich ein absolutes Meisterwerk.

Bewertung: 5 von 5.

Patrick Süskind: Das Parfum. Zürich: Diogenes, 1985