Uwe Wittstock: Februar 33 – Der Winter der Literatur

Neunzig Jahre ist es jetzt her, dass dieser Monat als Beginn der Naziherrschaft in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Innerhalb weniger Wochen wurden das Parlament und sämtliche Grundrechte außer Kraft gesetzt.
Was das für die Intellektuellen und Kulturschaffenden des Landes bedeutete und wie sie diese Tage durchlebten, davon erzählt dieses Buch.

Auch wenn ich schon einiges über diese Zeit gelesen habe, bin ich immer wieder auf’s Neue entsetzt, wie schnell Hitlers Machtergreifung von statten ging und wie naiv ihm führende Politiker und Funktionäre dafür den Weg bereitet haben. Naiv aus heutiger Sicht, denn auch viele Intektuelle haben diese Entwicklung nicht kommen sehen und gingen davon aus, dass der Spuk bald vorbei ist. Noch zu Beginn des Monats schlägt Heinrich Mann den dringenden Rat eines Freundes zur Flucht in den Wind und hält es für übertriebene Panikmache. Nur sieben Tage später muss er unter größter Geheimhaltung das Land verlassen, bevor ihm der Pass entzogen wird. Buchstäblich in letzter Minute, denn schon am nächsten Tag durchsucht die SA seine Wohnung. So weitsichtig wie Joseph Roth sind seinerzeit nur die Wenigsten – so unvorstellbar erscheint das, was kommen wird. In einem Brief an Stefan Zweig schreibt er bereits Ende Januar 33:
„Inzwischen wird es Ihnen klar sein, daß wir großen Katastrophen zutreiben. Abgesehen von den privaten – unsere literarische und materielle Existenz ist ja vernichtet – führt das Ganze zum neuen Krieg. Ich gebe keinen Heller mehr auf unser Leben. Es ist gelungen, die Barberei regieren zu lassen. Machen Sie sich keine Illusionen. Die Hölle regiert.“ (S. 31)

Das Buch spiegelt die ganze Palette der Einschätzungen der politischen Lage innerhalb der damaligen Künstlerszene wieder und die jeweiligen Handlungen, die daraus folgten. Einige passten sich den veränderten Bedingungen an, andere bezahlten für ihre politische Einstellung mit dem Leben. Für die meisten führte der Weg ins Exil.

Für mich ein ausgesprochen interessantes und lesenswertes Buch. Allerdings sollte man schon einiges an Vorwissen über die Kulturschaffenden dieser Zeit mitbringen, um das Geschriebene besser einordnen zu können. Es fallen viele Namen und es ist daher hilfreich, wenn man dazu ein Bild vor Augen hat oder den einen oder anderen Klassiker kennt.

Bewertung: 4 von 5.

Uwe Wittstock: Februar 33 – Der Winter der Literatur. München: Beck, 2021

Sayaka Murata: Zeremonie des Lebens

Während die Autorin im deutschsprachigen Raum nur durch ihre Romane ‚Das Seidenraupenzimmer‘ und ‚Die Ladenhüterin‘ bekannt ist, wird sie in Japan vor allem wegen ihrer Kurzgeschichten gefeiert. Das könnte sich in Zukunft ändern, denn der Aufbau Verlag hat mit der ‚Zeremonie des Lebens‘ einen Band mit zwölf Kurzgeschichten herausgegeben. Oder auch nicht, denn die Themen in diesen Geschichten sind…nun ja, etwas gewöhnungsbedürftig und vielleicht nicht nach jedermanns Geschmack. Denn hier werden Tabus und kulturelle Übereinkünfte gebrochen und am Rande der Rationalität und Realität entlangspaziert.
Bereits der Klappentext verrät, dass man sich hier auf einiges gefasst machen muss. Zum Beispiel einen Zukunftsentwurf, bei denen man die Toten nicht bestattet, sondern zu Gebrauchsgegenständen verarbeitet oder auch – in einer anderen Geschichte – rituell verspeist…

Ich muss sagen, gerade die genannten Geschichten fand ich sehr grenzwertig und das wirft die Frage auf, ob sie hier nicht übers Ziel hinausgeschossen ist – abstoßend ist es allemal. Allerdings entwirft die Autorin ein Szenario, in dem das geschilderte Verhalten sehr logisch und nachvollziehbar hergeleitet wird. Denn letztlich handelt es sich um kulturelle Vereinbarungen, die so oder auch ganz anders sein könnten. Das stößt zumindest Denkprozesse an, zum Beispiel, dass unser Umgang mit den Toten vielleicht gute Gründe hat. Und letztlich sind so ziemlich alle der hier versammelten Geschichten eine Kritik an der Entgrenzung und Entfremdung der japanischen Gesellschaft, sowohl im Hinblick auf die Moral als auch im Umgang mit der Natur. Nur hat Murata für diese Kritik den ganz großen Hammer ausgepackt und das ist natürlich Geschmackssache, ob man die Form als angemessen oder übers Ziel hinausgeschossen empfindet.
Ich bin da tatsächlich hin- und hergerissen und hätte mir gerade im Hinblick auf die Geschichte mit den Möbeln gewünscht, sie hätte sie nicht geschrieben. Vermutlich hätte sie das mit einem deutschen Background auch nicht.

Trotzdem habe ich die Geschichten gerne gelesen. Zum einen aufgrund der bereits erwähnten Denkprozesse, die dadurch angeregt werden. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es eine ideale Lektüre für eine Leserunde, denn hier ergibt sich Diskussionsstoff ohne Ende. Zum anderen mag ich Muratas klare, unverstellte Sprache. Die hat mich sogar darüber hinweggetröstet, dass viele der Geschichten kein wirklich abgeschlossenes (und damit zufriedenstellendes) Ende hatten und irgendwie abgebrochen wirkten. Und letztlich hat die Autorin es geschafft, mit jeder Geschichte mein Interesse zu wecken, was bei Kurzgeschichten ja auch nicht immer ganz einfach ist. Das unterstreicht in jedem Fall ihre schriftstellerischen Qualitäten.

Bewertung: 4 von 5.

Sayaka Murata: Zeremonie des Todes. Berlin: Aufbau Verlag, 2022

Marc Voltenauer: Wer hat Heidi getötet?

Ganz ehrlich, würde ich den Autor nicht schon kennen, hätte ich dieses Buch vermutlich nicht gelesen, denn ich finde den Buchtitel ausgesprochen unglücklich. Nun hatte ich aber bereits vor zwei Jahren den Vorgängerband des mir damals noch unbekannten Autors gelesen und war auf das Positivste überrascht. Und auch dieser hat mich nicht enttäuscht, um es gleich vorweg zu sagen…

Erneut wird das beschauliche Bergdorf in den Schweizer Alpen der Schauplatz einer Mordserie und Kommissar Andreas Auer ist wieder gefordert. Der unbekannte Täter entführt nacheinander mehrere Frauen, die sich auffallend ähneln. Doch das ist nicht das einzig Merkmal, das die Frauen verbindet…

Auch in diesem Band bin ich wieder sehr angetan von der Atmosphäre in diesem abgelegenen Bergdorf, die in diesem Krimi sehr gut in Szene gesetzt wird. Die Menschen kennen sich, haben aber ihre kleinen oder auch größeren Geheimnisse. Die Kulisse ist sehr idyllisch und bildet einen guten Kontrast zu den Mordfällen.
Auch Voltenauers Schreibstil finde ich wieder sehr angenehm und gut zu lesen.

Darüber hinaus gelingt ihm, woran viele Krimiautoren scheitern, nämlich eine sehr komplexe Geschichte verständlich, nachvollziehbar und ohne logische Schwachstellen zu erzählen. Denn hier gibt es von Beginn an zwei Fälle, die abwechselnd in zwei Erzählsträngen erzählt werden. Das macht die Geschichte sehr dynamisch und spannend – vor allem, weil die Ereignisse und Charaktere sehr unterschiedlich sind. In dem einen Fall kommt direkt ein bisschen Bond-Feeling auf.

Besonders angenehm finde ich auch die Figur des Ermittlers selbst. Er hat keine Sinnkrise, keine Alkoholprobleme, sondern ist eigentlich ein ganz normaler Typ, der gutes Essen und ein gutes Glas Wein liebt. Und er hat einen Partner.
Eigentlich sollte das nicht extra erwähnenswert sein, aber ich kenne bisher keinen Krimi oder Thriller mit einem homosexuellen Ermittler. Nun hat der Autor die Figur nicht deshalb so entworfen, weil das zur Zeit besonders gut ankommt und er einen Trend bedienen möchte, sondern weil es für ihm ganz natürlich zum Leben dazu gehört. Das macht den Kommissar und seinen Partner, der auch immer wieder an den Ermittlungen beteiligt ist, so authentisch. Und so sympathisch, dass man am liebsten selbst mit ihnen ein Glas Wein trinken würde.

Bewertung: 4 von 5.

Marc Voltenauer: Wer hat Heidi getötet? Köln: Emons Verlag, 2022

Anna Yeliz Schentke: Kangal

Dilek lebt mit ihrem Freund Tekin in Istanbul und leidet zunehmend unter den politischen Verhältnissen. Als ‚Kangal 1210‘ ist sie in den sozialen Medien aktiv und äußert sich kritisch über die Regierung. Doch die Repressionen gegenüber politischen Weggefährt:innen lösen große Ängste in ihr aus.

In Istanbul haben wir gelernt, anonym zu sein, anonym unter vielen und anonym im Netz. Aber das reicht nicht mehr, das habe ich begriffen. Sie können die Wohnung stürmen, dich festhalten, mitnehmen und du kannst noch nicht mal die Polizei rufen. Sie sind die Polizei.

Um dem zu entkommen und ohne ihren Freund einzuweihen, beschließt Dilek nach Deutschland zu fliegen – zu ihrer Cousine Ayla, mit der sie viele schöne Kindheitserinnerungen teilt, auch wenn sich ihre Mütter inzwischen verstritten haben.
Doch in Deutschland trifft sie auf treue Anhänger:innen besagter Regierung und eine Cousine, die mit der Türkei nur noch ein Urlaubsparadies verbindet…

Noch ein Buch der diesjährigen Longlist, was für meinen Geschmack zu wenig Beachtung erfahren hat. Denn das Thema, um das es hier geht, ist nach wie vor hochaktuell. Das macht für sich erstmal kein gutes Buch aus. Aber wie genau die Autorin die Problematik herausarbeitet, wie fokussiert sie die Konflikte beschreibt, wie vielschichtig sie dabei vorgeht – das ist für mich gute Literatur.
Ihre Schilderungen bewegen sich zwischen den Innenansichten Dileks, ihres Freundes und ihrer Cousine hin und her und auch wenn sich ihre Standpunkte unterscheiden, kann man doch vieles sehr gut nachvollziehen. Für mich war die Ausnahmesituation, in der sich Dilek befindet sehr greifbar, insbesondere das Gefühl einer permanenten Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die zitierte Passage bringt es für mich sehr gut auf den Punkt.
Für mich ein Buch, dass trotz seiner Kürze einen großen Eindruck hinterlassen hat.

Bewertung: 4 von 5.

Anna Yeliz Schentke: Kangal. Frankfurt/Main: Fischer Verlag, 2022

Volker Kutscher: Transatlantik

Viele lose Enden aus dem letztem Band werden hier wieder aufgegriffen und weitergesponnen. Raths Zeppelinabsturz, Fritz‘ Einweisung in die Nervenklinik und Charlottes Ausreisepläne. Und ein neuer Mordfall sorgt für Unruhe, denn der Tote ist ausgerechnet der Freund von Greta. Und die ist seitdem spurlos verschwunden…

Diese Krimi-Reihe und auch meine Begeisterung zieht sich ja über die Jahre durch meine Beiträge. Vieles was ich daran so mag, findet sich auch hier. Die gut ausgearbeiteten Charaktere und ein spannender Kriminalfall, der in den historischen Kontext eingebettet ist. Und gerade der zeitgeschichtliche Hintergrund macht für mich diese Reihe so besonders. Sie ist ausgesprochen gut erzählt und recherchiert, mit viel Liebe fürs Detail.
Der neunte Band spielt im Jahr 1937, in dem die Hauptstadt bereits auf einen bevorstehenden Krieg vorbereitet wird. Auch schreitet der Bau von Konzentrationslagern und die Verhaftung politisch Andersdenkender immer weiter voran.

Mir hat auch der neue Kutscher wieder sehr gut gefallen, auch wenn ich ihn nicht ganz so stark finde, wie den letzten Band. Er fängt doch recht schleppend an und vieles aus ‚Olympia‘ wird hier nochmal aufgegriffen, zum Teil auch ausführlich betrachtet. Das ist stellenweise direkt irritierend, weil man (zu recht) denkt, das hat man doch schon mal gelesen. Das fand ich nicht ganz so glücklich.
Spätestens in der zweiten Hälfte nimmt das Buch aber deutlich an Fahrt auf und hat dann auch wieder das gewohnt hohe Level an Spannung und Dynamik.

Bewertung: 4 von 5.

Volker Kutscher: Transatlantik. München: Piper Verlag, 2022

Takis Würger: Unschuld

Fünfunddreißig Tage bleiben Molly Carver noch, um die Unschuld ihres Vaters zu beweisen. Für den Mord an dem Sohn seines ehemaligen Arbeitgebers sitzt er in der Todeszelle und wartet auf die Vollstreckung des Urteils.
Besagter ehemaliger Arbeitgeber gehört zu den reichsten Familien der Vereinigten Staaten und nimmt eine bedeutende Funktion in der Waffenlobby-Organisation des Landes ein.
Und gerade hinter die Kulissen dieser mächtigen Familie möchte Molly einen Blick werfen, denn zufällig ist gerade dort eine Stelle als Zimmermädchen frei…

Das ist ja mal was ganz anderes aus der Feder des Autors. Ein Roman, der als Kriminalfall daherkommt und doch noch etwas anderes ist. Denn hier blickt man nicht nur hinter die Fassade der Schönen und Reichen, sondern direkt auf die massiven Probleme, die dieses Land hat: soziale Ungleichheit, Lobbyismus, Drogenmissbrauch, Todesstrafe, das Recht auf Waffenbesitz und anderes mehr.
Für mich war das Thema sehr interessant, da ich gerade dieses Jahr in den USA war und die Widersprüche dieses Landes hautnah miterleben konnte. Während auf dem Hollywood Boulevard Obdachlose auf der Straße liegen oder im Drogenrausch schreiend herumrennen, findet einige hundert Meter weiter eine Filmpremiere auf dem roten Teppich statt. Daran hat mich die Szene erinnert, als Molly einen verdeckter jungen Mann vor dem Anwesen der Rosendales entdeckt, der dort neben der Einfahrt liegt.
Das gefällt mir besonders an diesem Buch, dass es gut recherchiert und beobachtet ist. Dadurch wirkt das Buch sehr authentisch.
Und was für dieses Buch spricht: ich habe es quasi in einem Stück durchgelesen. Für mich hatte es genau das richtige Maß an Spannung, ohne unnötige Längen oder sonstigen Schnickschnack drumrum. Die Sprache ist schnörkellos und eingängig, so dass sich ein guter Lesefluss, in meinem Fall sogar Sog, ergibt. Ich wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht.

Teilweise wurde in den Rezensionen zum Buch die mangelnde Tiefe der Figuren bemängelt. Ja, stimmt – da geht mehr. Anderseits muss man auch nicht in jedem Roman die Charaktere bis ins Mark aufbohren. Vielleicht geht’s hier auch einfach um andere Dinge. Für mich war das Buch eine Mischung aus guter Unterhaltung und gesellschaftskritischem Blick. Es hatte auf mich nicht ganz die Wirkung von ‚Stella‘ oder ‚Der Club‘, ist aber durchaus sehr lesenswert.

Bewertung: 4 von 5.

Takis Würger:Unschuld. München: Penguin Verlag, 2022

Isabel Allende: Violeta

„Mein Leben ist es wert, erzählt zu werden, was weniger an meinen tugendhaften als meinen sündigen Taten liegt, von denen Du viele nicht ahnst. Hier erzähle ich Dir von ihnen. Du wirst sehen, mein Leben ist ein Roman.“

Und das ist es. Ein hundertjähriges Leben, das die Protagonistin Violeta in einem Brief vor ihrem Enkel am Ende ihres langen Weges ausbreitet.
Eine große Pandemie, die Spanische Grippe, steht am Beginn ihres Lebens und eine weitere wird hundert Jahre später an dessen Ende stehen. Zwischen diesen Eckpunkten bewegt sich die selbstbewusste Violeta, die nicht gewillt ist, sich mit einem Dasein als Hausfrau und Mutter abzugeben. Ebensowenig wie mit den überholten Konventionen, aber auch bedenklichen politischen Entwicklungen in dem nicht näher benannten lateinamerikanischen Land, in dem man unschwer Allendes chilenische Heimat erkennt.

In Rezensionen zu ihrem neusten Roman wurde ihr vorgeworfen, dass sie darin wenig Neues hervorgebracht hat – vielmehr Altbekanntes in routinierter Weise abspult.
Tatsächlich begegnet einem einiges, das man aus dem ‚Geisterhaus‘ oder ‚Fortunas Tochter‘ schon kennt. Groß angelegte Familiengeschichten, unbeugsame Frauenfiguren, Motive des magischen Realismus und die politischen Umbrüche ihres Heimatlandes sind ihre wiederkehrenden Themen.
Trotzdem gelingt es ihr, aus diesen Elementen ganz wunderbare Geschichten zu weben, die einen immer wieder aufs Neue faszinieren.
Wir waren uns in unserer Leserunde einig, dass Allendes Art des Erzählens einen großen Wiedererkennungswert hat und diese so typische Erzählweise gefällt mir sehr. Sie lässt einen sofort in die Geschichte eintauchen und das Schicksal der porträtierten Familien über die Jahrzehnte mit Spannung verfolgen.
Auch wenn ich das ‚Geisterhaus‘ und ‚Fortunas Tochter‘ noch etwas stärker fand, konnte mich auch Allendes aktueller Roman auf ganzer Linie begeistern und gerade das Ende hat mich zu Tränen gerührt. Einfach ein schönes Buch, innen wie außen.

Bewertung: 4 von 5.

Isabel Allende: Violeta. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2022

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter

Das Gewicht der Mutter ist das dominierde Thema in Elas Kindheit, der Erzählerin dieser Geschichte. Genauer, ihr Übergewicht – Ursache allen Übels, das dem Vater wiederfährt. Der fehlenden Anerkennung im Beruf und Kollegenkreis, dem zu geringen Ansehen innerhalb der Dorfgemeinschaft.
Die Vielgescholtene quält sich durch diverse Diäten und stemmt nebenher nicht nur Beruf, Familie und Weiterbildung, sondern auch die Pflege der dementen Mutter und die Sorge für ein Pflegekind. Doch die verdiente Anerkennung bleibt aus.

Ein wahres Feuerwerk an Gefühlen hat dieses Buch bei mir ausgelöst. Mir hat es ausgesprochen Spaß gemacht, in diesen Mikrokosmos der 80er Jahre einzutauchen. An vieles konnte ich mich noch aus meiner Kindheit erinnern. Bestimmte Fernsehsendungen oder Süßigkeiten, Radiohits, die plötzlich aufkommende Tenniseuphorie nach dem Sieg von Boris Becker. Da kommen nostalgische Gefühle hoch. Allerdings kommt auch gleich der bittere Nachgeschmack hinterher angesichts der trügerischen bürgerlichen Familienfassade. Wichtig ist der Blick der anderen, was andere über einen denken könnten. Und auch, wenn ich nicht auf dem Dorf, sondern in der Großstadt aufgewachsen bin, kommt mir das ebenfalls sehr bekannt vor.

Das viel stärkere Gefühl, das beim Lesen hochkam, war jedoch das der Wut. Vor allem, weil der ständig kritisierende Vater selbst so wenig auf die Reihe kriegt. Die wesentlichen Arbeiten erledigt seine Frau, die spätestens nach ihrer Erbschaft auch den Wohlstand der Familie sichert. Geld, das ihr Mann gerne und mit vollen Händen ausgibt. Trotzdem ist alles, was sie tut, nie richtig, nie genug.

Aber ebenso wie das Verhalten des Vaters hat mich das der Mutter aufgeregt. Es hat bei mir fast körperliche Schmerzen verursacht, dass sie sich das alles hat gefallen lassen und ihn nicht direkt verlassen hat.

Sicher ist es Teil des traditionellen Frauenbildes, aber auch schön immer haben sich Frauen dagegen zur Wehr gesetzt und das hätte ich mir so gewünscht. Ihre Tochter hat ihr genau diese Frage gestellt. Sie wäre zu schwach gewesen, sagt sie daraufhin. Und das ist für mich das Tragische an diesem Buch. Dass sie alle Möglichkeiten gehabt hätte und doch so wenig davon für sich selbst genutzt hat. Gerne hätte ich noch mehr von der Mutter selbst erfahren, ihre Sicht der Dinge. Es wird viel über sie geredet, aber ihre eigene Stimme hört man nicht. Aber vielleicht ist es im Rahmen des Buches auch einfach nur konsequent.

Bewertung: 4 von 5.

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2022

Sebastian Fitzek: Der Augensammler

Es ist ein Spiel zu seinen Bedingungen. Erst tötet er die Mutter, dann verschleppt er das Kind an einen unbekannten Ort. Dem Vater gibt er genau 45 Stunden und 7 Minuten Zeit, das Kind zu finden. Nach Ablauf der Zeit verliert es nicht nur sein Leben, sondern auch sein linkes Auge…

Viel mehr möchte ich zum Inhalt gar nicht sagen, denn das spricht an sich schon für eine spannende Handlung – zumindest eine nach meinem Geschmack. Ich mag solche Szenarien, wenn sie gut gemacht sind und das trifft hier in jedem Fall zu. Endlich mal wieder ein Fitzek, der einem nicht durch haufenweise Plottwists und Rätselraten die Nerven strapaziert – auch wenn es sich hier um einen schon etwas älteren Thriller handelt. Das ist solide entwickelt und aufgebaut.
Ich fand die Geschichte durchweg spannend und auch in ihrer Auflösung rund und stimmig, wenn vielleicht auch etwas überraschend. Hier ist mir auch wieder aufgefallen, warum Fitzek so eine große Fangemeinde hat, auch wenn seine Storys nicht alle wirklich gut sind, wie ich finde. Der Mann kann einfach gut schreiben.

Einziger wirklicher Kritikpunkt waren für mich die übersinnlichen Phänomene, die in dem Roman eine Rolle spielen. Das fand ich für einen Fitzek unpassend und haben mich an der Geschichte gestört.
Ansonsten war’s für mich rundum gute Unterhaltung, von daher gibt’s den Daumen hoch!

Bewertung: 4 von 5.

Sebastian Fitzek: Der Augensammler. München: Droemer Knaur, 2010

Christian Kracht: Eurotrash

25 Jahre nach Faserland ist der bereits bekannte Ich-Erzähler zu Besuch bei seiner Mutter in Zürich. Diese ist inzwischen geschieden, gesundheitlich angeschlagen und dem Alkohol recht zugetan, gerne auch in Kombination mit diversen Psychopharmaka, was den einen oder anderen Unfall mit anschließendem Krankenhausaufenthalt nach sich zieht.
Spontan beschließt ihr Sohn, mit ihr eine Reise zu unternehmen. Nur führt diese nicht ihrem Wunsch entsprechend nach Afrika, sondern geradewegs in eine Hippiekommune…

Fortsetzungen sind ja nicht immer gut, vor allem nach einem erfolgreichen Auftakt liegt die Messlatte entsprechend hoch. Aber locker drübergesprungen, würde ich sagen!

Dieser Kracht gefällt mir sogar noch viel besser, denn hier gibt es nicht nur die kritische Distanz zur Welt des großen Geldes und der High Society, sondern auch zur eigenen Rolle in dem Szenario.
Das wirkt viel reifer und reflektierter und gefällt mir in dieser Form deutlich besser, insbesondere die Aufarbeitung der Familiengeschichte – unabhängig davon, wie viel von den realen Personen darin steckt.
Es ist ein sehr gelungenes Bild der inneren Leere und seelischen Abgründe, die hinter der glänzenden Fassade des Erfolges versteckt sind. Gleichzeitig auch ein Stück Zeitgeschichte, die zeigt, wie nationalsozialistisches Gedankengut und alte Seilschaften nach dem Krieg weiterlebten.
Dazu hat das Buch noch jede Menge Witz und Ironie im Gepäck und das gibt eine ausgesprochen lesenswerte Mischung.

Bewertung: 4 von 5.

Christian Kracht: Eurotrash. Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2021