Alba de Céspedes: Aus ihrer Sicht

Alessandra muss von Beginn an in die Fußstapfen Ihres früh verstorbenen Bruders treten, von dem sie (mit einer leichten Abwandlung) auch den Namen geerbt hat. Als einziges Kind genießt sie die besondere Aufmerksamkeit der Mutter, mit der sie ein innige Verhältnis verbindet. Sie ist fasziniert von der Eleganz und den künstlerischen Fähigkeiten ihrer Mutter, die als Klaviervirtuosin wohlhabenden Damen Privatunterricht erteilt.
Der Vater hat für sie nur Verachtung übrig. Sie ist ihm zu dünn, zu hässlich und hat – so wie die literaturbegeisterte Tochter – eine Schraube locker, was er ihnen bei jeder Gelegenheit unmissverständlich unter die Nase reibt . Beide passen nicht in das Bild, dass man von italienischen Frauen in den 30er Jahren erwartet.
Als die Mutter versucht, aus diesem Gefängnis auszubrechen, bahnt sich eine Tragödie an…

Das Buch war für mich wie eine kleine Zeitreise ins Italien der 30er und 40er Jahre, dessen Atmosphäre die Autorin ganz wunderbar eingefangen hat. Ebenso wie die starken Frauenfigur, die versuchen, in dem patriarchialischen System ihre Nischen zu finden. Da spürt man an jeder Ecke den Geist des Aufbegehrens, offen oder im stillen und sehr viel Solidarität unter den Frauen. Dass die fiktive Ich-Erzählerin ihrer mutigen Mutter erzählerisch ein Denkmal setzt, ist sehr schön zu lesen.
Es wundert da nicht, dass sie einen ähnlich unbeugsamen Geist hat und sich für ihr Leben noch anderes vorstellt als Kinder zu kriegen und den Haushalt zu führen.
Sie beschließt zu studieren und ein unabhängiges Leben zu führen. Doch dann kreuzt Francesco ihren Weg, der im antifaschistischen Untergrund arbeitet…

Tja und hier wendet sich leider für mich auch die Geschichte. Denn Francesco ist zwar auf den ersten Blick deutlich umgänglicher als ihr griesgrämiger Vater, aber das Thema Gleichberechtigung kommt auch in seiner Welt nicht vor.
Nach dem ersten Teil des Romans hatte ich ja erwartet, dass sie Francesco ordentlich die Leviten liest.

Stattdessen hat die Liebe zu diesem Intellektuellen ihr aber sämtliche Zähne gezogen. Statt ihm gehörig in den Hintern zu treten, wird er angeschmachtet, was das Zeug hält und pausenlos die Liebe zu ihm beschworen, die er zunehmend immer weniger verdient. Das war für mich teilweise nur schwer auszuhalten und ich habe ständig Alessandras Temperament und Selbstbewusstsein aus der ersten Hälfte des Buches vermisst. Das Ende war einigermaßen überraschend, aber sehr stimmig und konsequent. Ein guter Abschluss, der den Titel auch erst dann wirklich erklärt. Auch wenn ich im zweiten Teil ganz schön gelitten habe, hat mir das Buch gut gefallen und ich kann es ohne Bedenken weiterempfehlen.

Bewertung: 3.5 von 5.

Alba de Céspedes: Aus ihrer Sicht. Berlin: Insel Verlag, 2023

Tom Rob Smith: Kind 44

Als in Moskau die Leiche eines kleinen Jungen auf den Bahngleisen entdeckt wird, lässt die Auffindesituation eigentlich keinen Zweifel zu: hier handelt es sich um ein Gewaltverbrechen. Doch das ist im Jahre 1953 im sowjetischen System nicht vorgesehen. Der Geheimdienstoffizier Leo Demidow bekommt den Auftrag, das Verbrechen als Unfall einzustufen und das auch unmissverständlich den verzweifelten Angehörigen klarzumachen, die weitere Ermittlungen fordern.
Die Angelegenheit scheint für Leo bereits erledigt, bis er aufgrund interner Machtkämpfe degradiert und in ein kleines Dorf versetzt wird. Dort stößt er überraschend auf neue Spuren des Verbrechens und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln…

Wir haben in der Leserunde festgestellt, dieses Buch zu bewerten, ist nicht einfach. Denn es geht dermaßen gut los, dass man denkt, das könnte ein Highlight werden. Die gesellschaftlichen Bedingungen und der Überwachungsapparat der Sowjetunion in den 50er Jahren sind sensationell gut herausgearbeitet und gibt einen guten Einblick in die Mechanismen eines Polizeistaates, in dem der Einzelnen völligster Willkür ausgesetzt ist. Was heute richtig ist, kann morgen schon falsch sein.
Unter diesen Bedingungen einen Mord aufzuklären – in einem Staat, in dem es offiziell gar keine Mörder gibt -, ist wahrlich eine Kunst und dieses Dilemma ist hier richtig gut herausgearbeitet worden.

Nur leider hat man spätestens ab der Hälfte begonnen, den eigentlichen Kriminalfall schmerzlich zu vermissen, der eigentlich bis zum Schluss eher im Hintergrund geblieben ist. Selbst als der Mörder irgendwann auf der Bildfläche erscheint, bleibt weiterhin Leo im Zentrum des Geschehens. Statt mehr über den Mörder oder die Taten selbst, dreht sich die Geschichte überwiegend um Leos Machtspiele mit seinem Kollegen, seine schwierige Ermittlungsarbeit und seine verkorkste Beziehung.

Das ist zwar nicht uninteressant und mit den vielen dramatischen Verwicklungen auch durchweg spannend, aber ich hätte mir da noch ein bisschen mehr Kriminalfall gewünscht. Das hätte mich aber alles nicht sonderlich gestört, wäre da nicht die Auflösung gewesen. Die Motivation des Täters fand ich doch sehr fragwürdig und wenig überzeugend. Vor allem wenn man denkt, dass die Geschichte auf einer wahren Begebenheit basiert und welche Motivation der reale Täter hatte. Unter diesem Blickwinkel wirkt es ein stückweit verharmlosend und wird der eigentlichen Geschichte nicht gerecht. Muss man in einer fiktiven Darstellung zwar nicht, aber wenn man einen realen Fall in dieser Deutlichkeit aufgreift, sollte man ihn nicht durch eine gänzlich andere Motivation des Täters verharmlosen. So bekommt dieser eigentlich gute Thriller durch das Ende einen etwas bitteren Nachgeschmack.

Bewertung: 3.5 von 5.

Tom Rob Smith: Kind 44. München: Goldmann Verlag, 2010

Elisa Levi: Anderes kenne ich nicht

„Es gibt keinen Ort, der universeller ist als das kleinste Dorf.“

Bereits der erste Satz des Klappentextes beschreibt, worum es in diesem Buch geht. Dem ganz besonderen Mikrokosmos in einem kleinen spanischen Dorf mit nur vier Straßen, einer Kirche und einem Einkaufsladen. Ein Ort, an dem jeder jeden kennt. Und an dem die Zeit stehenzubleiben scheint.

Welch eine willkommene Abwechslung, als ein Mann im Dorf erscheint, dem sein Hund entlaufen ist. Ausgerechnet im angrenzenden Wald will er den Hund suchen. Wo doch jede*r im Dorf weiß, dass keiner aus diesem Wald lebend wieder herauskommt.
Von dieser und anderen Universalitäten ihres Dorfes erzählte Lea dem ahnungslosen Fremden – bei einer Zigarette auf der Bank in der Nachmittagssonne. Oder auch zwei oder drei…

Tatsächlich besteht das gesamte Buch aus Leas Monolog mit dem Fremden, in dem sich das gesamte gesellschaftliche Leben des Dorfes ausbreitet. Das könnte auf den ersten Blick ziemlich handlungsarm wirken, die Konstruktion ist aber erstaunlich tragfähig. Das liegt vor allem an den interessanten Themen, die im Rahmen dieses Monologs angerissen werden. Den Abhängigkeiten, Wünschen und Sehnsüchten Leas und der anderen Dorfbewohner*innen, ihren Beziehungen untereinander, den überholten Traditionen, der geistigen Enge und dem Wunsch, alles hinter sich zu lassen. Und die Angst davor.
„Lieber das bekannte Übel, als das unbekannte Gute“ ist das Motto des Dorfes, mit dem sich Lea immer weniger abfinden kann.
Wäre da nicht ihre Schwester, die aufgrund schwerer geistiger und körperlicher Beeinträchtigungen auf Leas tägliche Hilfe angewiesen ist…

Was mir an dem Buch so gut gefallen hat, sieht man eigentlich schon am Cover – es strahlt ganz viel Wärme aus. Als würde man selbst in der Nachmittagssonne sitzen und einer (etwas längeren Erzählung lauschen). Trotz Leas Distanz zur dörflichen Enge und vieler negativer Gedanken spürt man immer wieder ihre Zuneigung und Verbundenheit gegenüber den Dorfbewohner*innen.

Und das in einer wunderbar klaren, bildhaften Sprache, die gerade in ihrer Einfachheit viele starke Sätze und Passagen produziert. Dazu passt auch ihre zum Teil derbe Art, bei der sie auch kein Blatt vor den Mund nimmt. Gerade ihre abwertenden Gedanken in Bezug auf ihre Schwester haben Kritik ausgelöst, vielleicht auch nicht zu Unrecht. Aber ich denke, dass es durchaus Gedanken sind, die in solchen Situationen aufkommen können. Nur sind sie gesellschaftlich extrem tabuisiert. Ich finde es im Kontext der Geschichte jedoch durchaus passend. Und sie spricht auch immer wieder ausgesprochen liebevoll über ihre Schwester, was man dabei nicht außer acht lassen sollte. Wahrscheinlich hat man in einer solchen Belastungssituation wirklich diese widersprüchlichen Gefühle in sich. Allerdings hat mich das Ende auch etwas irritiert, muss ich sagen. Das ist schon ziemlich harte Kost. Aber letztlich bleibt vieles auch offen und der Fantasie der Leser*innen überlassen.

Bewertung: 3.5 von 5.

Elisa Levi: Anderes kenne ich nicht. Berlin: Trabanten Verlag, 2022

Leonie Swann: Glennkill

Eines Morgens liegt der irische Schäfer George leblos auf der Weide – aus seinem Bauch ragt ein Spaten.
Seine Schafe sind fassungslos, aber auch wild entschlossen, den Täter auf eigene Faust zu ermitteln. Und dafür sind sie erstaunlich gut vorbereitet, hat ihnen der Schäfer doch regelmäßig aus Krimis und anderen Büchern der Menschen vorgelesen…

Zugegeben ist das ein etwas außergewöhnliches Szenario für einen Krimi und man muss sich natürlich darauf einlassen können, dass Schafe hier nicht nur dumm rumstehen und Gras kauen. Aber wenn man das macht, hat man eine sehr kurzweilige und originelle Lektüre für zwischendurch. Trotz einiger Skepsis im Vorfeld hat es mir wirklich Spaß gemacht, dieses Buch zu lesen.
Ich denke, dass liegt vor allem daran, dass ich ein großer Fan von ‚Shaun, das Schaf‘ bin und da passt dieses Buch wie die Faust aufs Auge. Sicherlich wird hier auch ‚Wallace & Gromit: Unter Schafen‘ geistig Pate gestanden haben. Aber wer das mag, wird sicher auch mit diesem Buch seine Freude haben.

Mich hat es auf jeden Fall gut unterhalten. Ich mochte die Atmosphäre in diesem kleinen irischen Dorf, das Gerede untereinander und das scheinheilige Getue, dass von den Schafen auf ihre ganz spezielle Art entlarvt wird.
Für den ganz großen Wurf fand ich das Ende etwas schwach, das hätte ich mir anders gewünscht. Es ist aber durchaus stimmig und geht somit völlig in Ordnung.

Daher gibt’s eine Leseempfehlung für Shaunfans und Irlandurlauber, aber auch für all diejenigen, die ein bisschen leichte Unterhaltung brauchen.

Bewertung: 3.5 von 5.

Leonie Swann: Glennkill. München: Goldmann Verlag, 2005

Bernhard Aichner: Totenfrau

Schon auf den ersten Seiten wird klar, dass die Bestatterin Blum etwas anders ist, um es mal vorsichtig auszudrücken. Eins ist sie auf jeden Fall nicht, zartbesaitet. Als ihr Mann bei einem Unfall mit Fahrerflucht stirbt, nimmt sie die Suche nach den Schuldigen auf und zieht dabei alle Register…

Ein Glück, nach der Dunkelkammer ein Licht am Ende des Tunnels 💡
Das war mal wieder ein Aichner nach meinem Geschmack, mit gelungener Story und ausgearbeiteten Charakteren. Klar ist Blum in jeder Beziehung extrem, aber auf ihre Art überzeugend dargestellt. Eine Frau mit Kill Bill-Faktor.
Ähnlich extrem war die Story im Bestattermilieu, die dem Leser direkt einen Crashkurs für die Aufbereitung von Leichen gibt. War jetzt nicht immer appetitlich, aber originell und für meinen Geschmack hochinteressant. Vor allem, wenn man im nachgeschalteten Interview erfährt, dass der Autor zu Recherchezwecken selbst bei einem Bestatter gearbeitet hat. Respekt!

Die Story war durchweg spannend und temporeich, ohne sich in zahlreichen Verwicklung zu verzetteln. Wie schon in ‚Bösland‘ gibt es die zwischengeschobenen Dialoge, die nur mit Gedankenstrichen markiert sind. Auch wenn das den Überblick erschwert, wer nun gerade redet, mag ich den Stil ganz gerne. Das bringt Dynamik und Abwechslung rein.

Einziger großer Kritikpunkt war die ungewöhnliche Häufung glücklicher Zufälle. Bei Blum gehen auch die gewagtesten Pläne sofort auf, alles klappt wie am Schnürchen. Auch fand ich die Auflösung nicht so gelungen.

Bewertung: 3.5 von 5.

Bernhard Aichner: Totenfrau. München: btb Verlag, 2014

Maxim Biller: Der falsche Gruß

Der junge Leipziger Erck Dessauer, angehender Schriftsteller mit großen Ambitionen, versucht im Berlin der Jahrtausendwende Fuß zu fassen. Und er bekommt ihn endlich, den lang ersehnten Buchvertrag bei einem renommierten Verlag. Wäre da nicht der intrigante Journalist Hans Ulrich Barsilay, bekannte Größe der Berliner Gesellschaft und Literaturszene, der ihm sein Projekt streitig machen will…

An Biller scheiden sich ja die Geister und auch dieser (recht schmale) Roman beweist mal wieder, everybody’s darling ist er nicht und will es wohl auch nicht sein. Und das mag ich an ihm. Seine kantige Art und den scharfzüngigen Stil, in dem er gerne mal vor sich hinätzt – in diesem Fall in Richtung Literaturbetrieb. Schnell wurden in den Rezensionen bekannte Größen wiedererkannt, wie beispielsweise den verstorbenen Frank Schirrmacher in der Figur des Barsilay. Auch konnte man als LeserIn mitraten, wie viel an Biller in Erck Dessauer steckt und wahrscheinlich findet man einiges von ihm in beiden Figuren, zumal wenn man an seinen verbotenen Roman Esra denkt.

Anfangs hatte ich etwas Mühe, in das Thema des Romans reinzukommen. Es hätten für meinen Geschmack auch ruhig ein paar Seiten mehr sein können. Insgesamt hat mich dieser kleine Ritt durch den Literaturbetrieb der Jahrtausendwende aber gut unterhalten, spätestens beim unangekündigten Besuch seiner Angebeteten, bei dem ich mehrfach laut lachen musste.
Das war für mich auch ein großer Pluspunkt des Romans, dass der Ich-Erzähler nicht mit Ironie in die eigene Richtung spart und sich voller Selbstzweifel durch den noch unbekannten Berliner Literaturbetrieb bewegt.
Einzig das Klischee der blonden vollbusigen Frau seines Begehrens, die natürlich auch noch mit roten Lippen und auf hohen Schuhen daherkommt, hat bei mir ein genervtes Augenrollen ausgelöst, allerdings… wer kann schon was für seine geheimen Fantasien…

Bewertung: 3.5 von 5.

Max Biller: Der falsche Gruß. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2021

Esther Becker: Wie die Gorillas

Zu viert müssen sie mich festhalten. Vielleicht auch zu fünft. Ob ein Paar der vielen Hände zu meinem Vater gehört, ist nicht sicher, meine Augen sind fest verschlossen.
Wer nach diesen ersten Sätzen Schlimmstes befürchtet, ist fast schon ein bisschen erleichtert nur wenige Zeilen später zu erfahren, dass es hier „nur'“ darum geht, einem kleinen Mädchen Augentropfen zu verabreichen, die sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt. Nur in Anführungszeichen, denn sie verliert diesen Kampf.
Jahre später wundert sich der Vater, warum sie sich so problemlos Kontaktlinsen einsetzen kann. Sie erklärt, „dass der entscheidende Unterschied zwischen den Augentropfen und den Kontaktlinsen darin besteht, dass ich es bin, die in mein Gesicht fasst.
Wobei wir direkt beim Thema wären, denn um weibliche Selbstfindung und die Selbstbestimmung über sich und den eigenen Körper geht es in diesem Buch.

Und das habe ich wirklich gerne gelesen, denn es hat eine sehr angenehm leichte Sprache ohne den analytisch-erklärenden oder auch anklagenden Tonfall, den Bücher aus diesem Themenspektrum gerne mal haben. Vielmehr waren die Schilderungen wie die Plauderei einer guten Freundin über die alltäglichen Dramen des Erwachsenwerdens und den mitunter steinigen Weg der Entwicklung vom kleinen Mädchen zur Frau.
Nur leider war dieser angenehme Monolog in Buchform nach gut 150 Seiten auch schon wieder zu Ende, was für mich auch der wesentliche Kritikpunkt an diesem Roman ist. Die Geschichte ist für mich schlichtweg nicht zu Ende erzählt, als wäre der Autorin auf halber Strecke die Puste bzw. der Erzählstoff ausgegangen. Gefühlt bricht die Story mitten in der Handlung ab.
Konsequenterweise endet das Buch auch sprachlich mit einem Cut, dem Ende einer Filmszene. „Schnitt, sage ich.
So bleibt ein Kurzfilm, aber ein guter.

Bewertung: 3.5 von 5.

Esther Becker: Wie die Gorillas. Berlin: Verbrecher Verlag, 2021

Christian Kracht: Faserland

Es geht in diesem Roman um eine Welt, die den meisten von uns wohl verschlossen bleiben wird – die der Reichen und manchmal auch Schönen. Hier wird von Sylt nach Zürich gejetsetet, locker mit dem Geld gewedelt und überwiegend gesoffen, wie unser ziemlich unsympathischer Erzähler. Oder anderweitige Drogen konsumiert, wie ein großer Teil seiner Umgebung.
Wenn man sich nun fragt, warum eine eher inhaltsarme Story zum modernen Klassiker avanciert ist, wie zumindest der Klappentext feststellt, dann wohl deshalb, weil dieser von vielen so angestrebte Lifestyle hier in seine Einzelteile zerlegt wird.
Kracht hat in diesem Roman die Oberflächlichkeit und innere Leere dieses speziellen Mikrokosmos sehr anschaulich auf den Punkt gebracht. Und dass ihre Protagonisten alles mögliche sind, nur nicht glücklich.

Ich muss sagen, ich war bei diesem Buch hin und hergerissen. Auf der einen Seite mochte ich diesen Ich-Erzähler in der Figur des Millionärssöhnchens, der kein Blatt vor den Mund nimmt und einfach macht, wonach ihm der Sinn steht. Unangepasste Typen mag ich, eigentlich. Nur leider ist dieser etwas aus der Art Geschlagene ein asozialer Unsympath allererster Güte, den man auf keinen Fall kennenlernen möchte und man hofft, dass möglichst wenig Kracht in dieser Figur steckt.

Aber wenn es darum geht, diese Welt zu entzaubern und ihre eigentliche Armseligkeit zu entlarven, dann ist das Projekt absolut gelungen.
Innerliches Kopfschütteln mit Programm, Mission geglückt.

Bewertung: 3.5 von 5.

Christian Kracht: Faserland. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 2015 (Original 1995)

Jo Nesbo: Macbeth

Im Bandenkrieg um die Vormachtstellung im Drogengeschäft erweist sich Inspector Macbeth als klug und schlagkräftig und kommt dadurch schnell zu Ruhm und Anerkennung. Doch das ist ihm bald nicht genug. Angestachelt von seiner Geliebten Lady, einer ehemaligen Prostituieren, strebt er nach mehr. Nach mehr Macht und Einfluss. Und ist bereit, dafür über Leichen zu gehen.

Normalerweise mag ich Thriller über Bandenkriege im Drogenmilieu nicht so gerne, aber zu diesem Thema passt es natürlich perfekt und ich war von dieser Neubearbeitung des alten Stoffes auf’s Angenehmste überrascht. Die bekannten Figuren und Szenen im neuen Gewand wiederzuentdecken hat einen besonderen Reiz, vor allem, weil sich der Autor überwiegend sehr nah am Original langbewegt, zum Teil sogar kurze Textpassagen übernimmt, das Ganze aber in einen zeitgemäßen Rahmen stellt. Das Hauptmotiv der immer stärker anwachsenden Machtgier ist in diesem Kontext sehr passend und überzeugend rausgearbeitet worden. Projekt Macbeth 2018 geglückt, würde ich sagen.
Auch wenn ich in diesem Leben wohl kein Fan von Actionthrillern dieser Art mehr werde, hat mir dieser Shakespeare wirklich Spaß gemacht.

Bewertung: 3.5 von 5.

Jo Nesbo: Macbeth – Blut wird mit Blut bezahlt. München: Penguin Verlag, 2018

Matthias Edvardsson: Die Lüge

Sie sind eine harmonische Familie in einer beschaulichen schwedischen Kleinstadt: der Pfarrer Adam, seine Frau Ulrika und die 19jährige Tochter Stella. Doch dann gerät die vermeintliche Familienidylle aus den Fugen, als ein älterer Geschäftsmann erstochen aufgefunden wird. Als dringend tatverdächtig verhaftet wird die Tochter und für die Eltern stellt sich die Frage: Wie gut kenne ich mein Kind und wie weit bin ich bereit zu gehen, um es zu schützen.

Dieses Buch war für mich eine Neuentdeckung, denn diesen Autor kannte ich bisher noch, bin aber doch sehr angetan.
Das ist ein solider und durchweg spannender Krimi, der jedoch nicht von der Action, sondern der geschickt inszenierten Erzählung und den starken Charakteren lebt.
Die Geschichte ist in drei Abschnitte unterteilt: Vater, Tochter, Mutter. Diese berichten aus ihrer Perspektive über die Geschehnisse rund um den Mord und dadurch konstruiert sich die Geschichte. Das ist erzählerisch gut gemacht und dicht an den Personen dran, die dadurch sehr authentisch werden.
Besonders gut hat mit die Schilderung des Vaters gefallen, die für einen Krimi einen außergewöhnlichen Tiefgang hat.
Die Geschichte selbst ist in sich stimmig, auch wenn mich das Ende etwas enttäuscht hat.
Trotzdem ein Autor, den man sich merken sollte.

Bewertung: 3.5 von 5.

Matthias Edvardsson: Die Lüge. München: Limes Verlag, 2019 (Original 2018)