Yrsa Sigurdardottir: DNA

Auf den ersten Blick haben die beiden Mordopfer wenig gemeinsam, außer der Tatsache, dass sie weiblich sind. Ansonsten könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Kommissar Huldar ermittelt in diesem ersten Teil der Thrillerserie in zwei Mordfällen, die vor allem durch ihre grausame und höchst ungewöhnliche Mordmethode ins Auge springen. Als ein Amateurfunker zufällig auf die Fährte des Mörders stößt, setzte schnell klar: er hat es nicht nur auf Frauen abgesehen…

Das ist doch mal eine Thrillerreihe nach meinem Geschmack, weil sie so wunderbar ruhig und unaufgeregt erzählt ist, ohne langweilig zu sein. Hier überschlagen sich nicht ständig in überraschenden Wendungen die Ereignisse, hier wird nicht das Kaleidoskop der Grausamkeiten ausgepackt und trotzdem kriegt man einen soliden Thriller daraus gestrickt. Das liegt vor allem an der gut entwickelten Geschichte und den überzeugenden Charakteren. Es hat vom Stil ein bisschen was von Adler-Olsen und den lese ich ausgesprochen gerne.
Allerdings war es für mich nicht ganz das gleiche Level, denn die Story fand ich in ihrer Auflösung nicht so überzeugend und etwas an den Haaren herbeigezogen. Da der Rest aber wirklich spannend und gut erzählt war, gibt es einen Daumen hoch und knappe vier Sterne.

Bewertung: 3.5 von 5.

Yrsa Sigurdardottir: DNA. München: btb, 2017 (Original 2014)

Hiromi Goto: Der Chor der Pilze

Drei Frauen, drei Generationen. Eine japanische Einwandererfamilie in Kanada. Während Keiko versucht, ihre Wurzeln abzuschütteln und sich in die neue Gesellschaft zu assimilieren, verweigert sich ihre Mutter Naoe konsequent der neuen Kultur. Tagaus, tagein sitzt sie im Flur auf einem Stuhl und murmelt japanisch vor sich hin. Die Enkelin Muriel versteht kein Wort, denn sie hat die Sprache ihrer Vorfahren nie gelernt, fühlt sich mit der Großmutter aber innerlich sehr verbunden. Oft sucht sie dort die Nähe, die ihr bei der gestressten Mutter fehlt.
Diese mentale Verbindung besteht auch noch weiter, als die Großmutter plötzlich aufsteht und beschließt, dieses fremde Leben hinter sich zu lassen. Sie verlässt wortlos das Haus und gilt seitdem als vermisst. Die Mutter stürzt dieser Verlust in eine tiefe Depression.

Für mich war es vor allem eine Freude, in diesem Buch die ewig vor sich hinmurmelnde Großmutter zu verfolgen, die in den Augen der Tochter eine nicht ernstzunehmende, demente Alte ist, es aber faustdick hinter den Ohren hat. Während sich Keiko für das Relikt aus einer alten Zeit schämt, übt die Großmutter einen stillen Widerstand aus. Sie verweigert die neue Sprache, obwohl sie diese durchaus beherrscht, lässt sich getrockneten Fisch aus der Heimat schmuggeln und züchtet Motten in den Falten ihrer Kleidung. Ein Albtraum für ihre auf Reinlichkeit bedachte Tochter, die von diesen stillen Attacken nichts ahnt. Also für mich war die aufsässige Oma der Sympathieträger schlechthin und hat mich des öfteren zum Schmunzeln gebracht.
Vergleichsweise wenig konnte ich mit den anderen beiden Frauenfiguren anfangen, der überangepassten Keiko und der Enkelin zwischen den Stühlen, die für mich farblos geblieben ist.
Neben den humorigen Passagen liefert dieser Roman aber auch sehr viel ernste Themen und vielleicht ist es ganz gut, dass die skurille Oma dem Ganzen ein bisschen die Schwere nimmt.

Themen wie kulturelle Entwurzelung, Heimatlosigkeit, Identitätssuche und der Mutter-Tochter-Konflikt, der sich durch die Generationen zieht, begegnen einem in diesem Buch. In dem sehr viel Tragik liegt, den erst der Verlust schafft hier eine Nähe, die vorher schmerzlich vermisst oder unterdrückt wurde. Für mich ein lesenswertes Buch, obwohl ich streckenweise Mühe hatte, den vielen Gedankensprűngen zu folgen. Des öfteren war man sich nicht sicher, aus wessen Perspektive gerade berichtet wird. Auch bleibt am Ende offen, ob die Erlebnisse der geflüchteten Oma tatsächlich so passieren oder nur in ihrem Kopf stattfinden. Wohl eher letzteres. Also ein nicht immer einfaches Unterfangen für den Leser, aber durchaus der Mühe wert.

Bewertung: 3.5 von 5.

Hiromi Goto: Der Chor der Pilze. Bad Berka: Cass Verlag, 2020 (Original 1994)

H.G.Parry: Die unglaubliche Flucht des Uriah Heep

Dass man als großer Bruder immer mal wieder zur Hilfe gerufen, wenn der jüngere in Schwierigkeiten steckt, ist nicht besonders ungewöhnlich. So geht es auch Rob mit seinem jüngeren Bruder Charley. Wenn die Hilfe jedoch darin besteht, ihm beim Kampf gegen Uriah Heep, dem Bösewicht aus Charles Dickens ‚David Copperfield‘ zur Seite zu stehen, wird es schon einigermaßen seltsam.
Wer nun denkt, der jüngste Spross hätte etwas zu tief ins Glas geschaut oder synthetische Drogen ausprobiert – weit gefehlt!
Charley verfügt über die seltene Gabe, Figuren aus Büchern herauszulesen und lebendig werden zu lassen. Das mag bei Micky Maus ganz niedlich sein, wenn es sich aber um Frankenstein handelt, sollte man schleunigst die Beine in die Hand nehmen. Und das umso mehr, wenn auch noch andere über diese ungewöhnliche Gabe verfügen…

Ich habe mich sehr auf dieses Buch gefreut, da ich die Idee ausgesprochen gut finde. Überraschenderweise hatte ich dann aber große Mühe, in das Buch reinzukommen und es hat bis zur Hälfte gedauert – bei einem Buch über 500 Seiten nicht gerade wenig -, bis sich ein Lesefluss eingestellt hat. Das lag zum einen an der Fülle der literarischen Figuren, die da auftauchen und auf deren Kontext und Charakter verwiesen wird. Zum Glück kannte ich die meisten davon, aber auch dann war es schwierig, alles aus dem Gedächtnis auszukramen und in einen Zusammenhang zu bringen. Die Autorin mag zwar Dozentin für englische Literatur sein, ich bin es nicht. Es ist also ein recht anspruchsvolles Unterfangen, dieses Buch zu lesen, wenn man die ganzen Beziehungen untereinander und die literarischen Querverweise verstehen will und auf gar keinen Fall eine leichte Lektüre für zwischendurch.
Dass es bis zur Hälfte gedauert hat, ins Buch reinzukommen, heißt aber, dass es mich dann irgendwann auch gepackt hat.

Wenn man sich auf diese magische Welt einlässt, ist das ein durchaus sehr spannender und actionreicher Roman, der in der zweiten Hälfte richtig Fahrt aufnimmt. Mit dem Ende war ich an einigen Stellen nicht so glücklich, aber es war auf jeden Fall eine runde Sache mit Potential zu Teil 2. Insgesamt habe ich das Buch gerne gelesen, obwohl es mir von allem ein bisschen zu viel war. Zu viele Figuren, zu viele Verweise, zu viel um die Ecke gedacht. Ein bisschen weniger von allem hätte ich angenehmer gefunden.

Bewertung: 3.5 von 5.

H.G. Parry: Die unglaubliche Flucht des Uriah Heep. München: Heyne Verlag, 2020 (Orig. 2019)

Haruki Murakami: 1Q84

Zwei Personen bilden die Achsen dieses Romans, die schicksalhaft miteinander verflochten sind. Seit sie sich als Zehnjährige in der Schule begegnet sind, haben sie sich aus den Augen verloren, aber nie vergessen.
Aomame, die Auftragsmörderin, die gewalttätige Männer unauffällig ins Jenseits befördert.
Und Tengo, den freiberuflichen Verlagsmitarbeiter, der die Aufgabe übernimmt, dass sprachlich misslungene Manuskript einer 17jährigen zu überarbeiten und damit eine Kette von Ereignissen auslöst.
Die Wege der beiden kreuzen sich in der Welt mit den zwei Monden, von Aomame 1Q84 genannt…

Auch Murakami ist so ein Autor, bei dem man mit einem Anspruch an Realismus und Logik schnell an seine Grenzen kommt, was bereits die kurze Zusammenfassung andeutet. Wie in vielen seiner Romane wird auch hier mit phantastischen, märchenhaften Elementen nicht gespart. Das ist vielleicht nicht jedermanns Sache und einigen zu abgedreht, ich mag das sehr gern. Aber man muss sich schon auf diese Art des surrealen Erzählens einlassen können. Streckenweise hatte ich bei diesem Buch jedoch ziemliche Mühe, den Überblick zu behalten. Zum Ende hin sortiert sich vieles, aber da es noch einen weiteren Teil gibt, sind einige Fragen noch offen.
Obwohl ich Murakami Schreibe auch hier ganz großartig finde, fand ich dieses Werk mit seinen gut 1000 Seiten zu aufgebläht, stellenweise auch redundant. Das hätte man für meinen Geschmack etwas abspecken können, vor allem im Hinblick auf einen weiteren Teil. Das zieht sich ganz schön.
Daher kann ich auch erst nach dem letzten Teil wirklich sagen, wie ich die Story eigentlich finde, wenn ich das Gesamtpaket kenne.
Insgesamt hat mich das Buch gut unterhalten, vor allem den Penisdialog zu Beginn fand ich zum Schreien komisch.
Womit ich allerdings nicht so ganz klarkam, sind die (geschilderten oder berichteten) Sexszenen mit minderjährigen Mädchen. Auch wenn das in einem speziellen Kontext der Geschichte steht und mit einem kritischen Auge betrachtet wird, hätte das meiner Meinung nach nicht sein müssen.

Bewertung: 3.5 von 5.

Haruki Murakami: 1Q84. München: btb Verlag, 2012 (Original 2009)

Takis Würger: Noah

Das ist die Geschichte von Noah Klinger, einem Überlebenden des Holocaust. So wie er sie in Erinnerung behalten hat und wiedergeben wissen wollte. Festgehalten von Takis Würger, der ihn dafür in Tel Aviv über mehrere Monate besucht hat. Herausgekommen ist kein Roman, sondern ein Tatsachenbericht. So wie Noah Klinger sie in seiner Erinnerung festgehalten und Würger zu Papier gebracht hat. In einfachen, schmucklosen Sätzen ohne Beiwerk. Daran können sich die Geister scheiden und tun es bereits, gleich wird über den verknappten Stil losdiskutiert und geurteilt, ob das jetzt passend oder unpassend ist. Wobei die Tendenz eher zu letzterem geht, da es seit ‚Stella‘ offenbar zum guten Ton gehört, diesen Autor zu kritisieren.
Zugegebenermaßen fand ich den Stil anfangs auch etwas gewöhnungsbedürftig, aber letztlich an dieser Stelle doch sehr passend. Denn es geht hier nicht um Stilfragen, sondern um die Geschichte selbst. Und die ist in ihrer ganz puren Form vielleicht genau richtig so erzählt.
Ein Geschichte über den Kampf ums Überleben in Auschwitz und später auf der Exodus und den Weg in eine neue Heimat. Eine Geschichte, die erzählt und bewahrt werden muss.

Natürlich ist es bei diesem Buch vor allem der erste Teil, der den Leser fesselt, weil er als Augenzeugenbericht das Unfassbare abbildet. Das ist erschütternd und oft nur schwer auszuhalten:

„Sie mussten sich ausziehen. Die Deutschen nahmen Kleider und Schuhe mit und verschlossen die Schiebetür der Halle. Sie hatte kein Dach. Auf dem Boden lag eine dünne Schicht Schnee, darunter gefrorene Erde. (…) Bis vor wenigen Stunden waren sie normale Menschen gewesen, Architekten, Metzger, Professoren, Schüler, Journalisten, Flötenspieler. Menschen mit Sorgen, Gefangene, aber Menschen mit Zukunft. Nun standen sie nackt und barfuß im Schnee in einer Halle, die von außen verriegelt war, über ihnen der Himmel. (…) Der Tag verging, es wurde Nacht, nicht alle hatten die Kraft, sich zu bewegen. Das Blut in Noahs Adern fühlte sich an, als würde es zu Kristallen gefrieren. Als der Morgen graute, lag die Hälfte der Männer im Schnee.“ (S. 26f)

Selten habe ich die Entmenschlichung dieses Systems so konzentriert in einem Absatz zusammengefasst gelesen. Und das ist vielleicht auch die Stärke dieses Buches. Die Konzentration auf das Wesentliche, das für sich spricht.

Auch wenn ich den zweiten Teil des Buches nicht ganz so kraftvoll fand, ist es wichtig, dass das Buch nicht mit der Befreiung aus dem Konzentrationslager endet, sondern einen Ausblick gibt auf das Leben danach. Ein erfülltes Leben, das dem Ziel verschrieben war, die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Das vermittelt Hoffnung, aber auch einen Auftrag.


Was sollen wir machen, wenn Sie nicht mehr da sind, um uns davon zu erzählen, was in Auschwitz passiert ist?“, fragt Würger Noah Klinger bei ihrem ersten Treffen. „Ich weiß es nicht“, sagte Klinger. Dieses Buch könnte eine Antwort sein.

Bewertung: 3.5 von 5.

Takis Würger: Noah. Von einem, der überlebte. München: Penguin Verlag, 2021

Haruki Murakami: Erste Person Singular

Diesmal kein 1000 Seiten Roman, sondern eine Sammlung von acht Kurzgeschichten im typischen Murakami-Style. Auch hier verbinden sich Realität und Fiktion, je nach Geschichte in unterschiedlichem Maße. Vielen Geschichten merkt man die Nähe des Ich-Erzählers zum Autor an und diese realitätsnahen Sequenzen haben mir deutlich besser gefallen als beispielsweise der Dialog mit dem sprechenden Affen.
Wenn man sich nun anfängt Gedanken zu machen, worum es in den Geschichten eigentlich geht, steht man ein bisschen auf dem Schlauch und muss feststellen: um eigentlich nichts Besonderes. Ursula Scheer hat Murakami in der FAZ in diesem Zusammenhang als den ‚Meisterdetektiv folgenreicher Nichtigkeiten‘ bezeichnet und das finde ich sehr treffend, zumindest bezogen auf diese Geschichtensammlung.
Seine besondere Leistung besteht darin, diese (vermeintlichen) Nichtigkeiten in so wunderbarer Art zu erzählen, dass sie den Leser in den Bann ziehen. Ähnlich wie bei seinen Romane entwickeln seine Geschichten einen erzählerischen Sog und man kann froh sein, dass er kein Handelsvertreter geworden ist. Er könnte einem sonst vermutlich alles verkaufen.
Allerdings muss ich dazu sagen, dass das für mich in seinen Romanen besser funktioniert. Hier fehlte es mir zuweilen an tragfähigen Inhalten, so dass mich manche Geschichten etwas unbefriedigt zurückgelassen haben. Vielleicht liegt es auch an meinem mangelnden Interesse für Baseball und Jazz…
Wer jedoch etwas näher zur Person Murakami vordringen möchte, ist mit diesen Kurzgeschichten hervorragend bedient.

Bewertung: 3.5 von 5.

Haruki Murakami: Erste Person Singular. Köln: Dumont Buchverlag, 2021

Sonja Weichand: schuld bewusstsein

Nach einem Autounfall nimmt sich Anna eine Auszeit und fährt nach Würzburg, um die Geschichte ihrer Oma aufzuarbeiten. Die war zur Zeit des zweiten Weltkrieges überzeugte Nationalsozialistin und BDM Scharführerin.
Doch die traumatischen Umstände des Unfalls und die Auseinandersetzung mit den dunklen Kapiteln der Vergangenheit hinterlassen Spuren…

Debütromane sind ja immer so eine kleine Wundertüte, da einem die Erfahrungswerte fehlen. Noch dazu, wenn kein großer Verlag dahinter steht und für Publicity sorgt.
Aber welch eine positive Überraschung kam da aus dem Hut gezaubert!

Ein wirklich gut entwickelter Roman über ein großes Fragezeichen, das einem im historischen Rückblick immer wieder überkommt. Was waren das für Menschen, die Hitler folgten und auch noch bis kurz vor Kriegsende an ihn glaubten? Die einer offensichtlich menschenverachtenden und realitätsfremden Ideologie folgten und nicht wahrhaben wollten, dass der Krieg schon längst verloren war? Der Roman entschuldigt und relativiert nicht, sondern gibt eine Idee zur Motivation dahinter. Wie in dem vorliegenden Roman ist das oft ein komplexes Geflecht an Ursachen.
Das ist ohne Zweifel befremdlich und auch nicht immer einfach zu lesen, beispielweise als Rose-Marie in Erwägung zieht, ihren eigenen Vater zu denunzieren, aber es wird in diesem Kontext nachvollzienbar, wie es zu solchen Taten kommen konnte.
In diesem Roman hat mich vor allem die detaillierte Ausarbeitung des Alltags im Krieg beeindruckt. Das war sehr anschaulich und entsprechend beklemmend, vor allem die Schilderung der Bombardierung Würzburgs. Man ist sehr nah dran am Geschehen und kann sich dadurch ein ungefähres Bild von der Stimmung und dem Elend dieser Tage machen.

Der Roman besteht aus einem beständigen Wechsel zwischen Gegenwart und Rückblenden, der übrigens in den Übergängen sehr gut gemacht ist.
Anfangs hat es mich fast gestört, wenn ich aus der Vergangenheit gerissen wurde, weil mich diese Passagen sehr gefesselt haben. Die Szenen in der Gegenwart fand ich vergleichsweise fad. Doch dann entwickelt die Geschichte der schreibenden Enkelin eine ganz eigene, überraschende Dynamik und hat mich zum Schluss dann auch in diesen Sequenzen gepackt.

Abschließend kann ich diesem Roman nur viele Leser und vor allem die Aufmerksamkeit der Verlage wünschen. Wäre verdient.

Bewertung: 3.5 von 5.

Sonja Weichand: schuld bewusstsein. Norderstedt: Books on Demand, 2020

Volker Kutscher: Goldstein

Den Inhalt dieses dritten Bandes der Gedeon Rath-Reihe wiederzugeben ist gar nicht so einfach, denn das sind mehrere Stories in einer. Zum einen gibt es den US-Gangster Goldstein, der in Berlin sein Unwesen treibt und dem Rath auf den Fersen ist. Zum anderen ist da der Fall rund um die junge, obdachlose Kaudhausdiebin Alex, deren Komplize Benny Opfer eines skrupellosen Polizisten wird. Und nicht zu vergessen, die höchst konfliktträchtige Beziehung zwischen Rath und Charly…

Um es gleich vorab zu sagen, für mich war es der schwächste von den bisherigen Bänden. Was nicht heißt, dass er schlecht ist. Ich finde die Zeit und die Idee, auf dieser Kulisse Kriminalfälle zu konstruieren, nach wie vor extrem reizvoll und lese die Reihe wirklich gerne. Das liegt vor allem an dem genau recherchierten geschichtlichen Hintergrund, der ein sehr anschauliches Bild dieser Zeit entwirft.
Störend fand ich an diesem Band, dass zu viele Handlungsstränge zu lange nebeneinander herlaufen und in meinem Gefühl sehr schleppend vorankamen. Auch wenn die einzelnen Erzählstränge an sich nicht uninteressant waren, zog sich das zu sehr in die Länge. Ein paar Seiten weniger hätten diesem Band gut getan. Ich hätte einen roten Faden auch angenehmer gefunden als die vielen losen Enden. Das hat für mich den Lesefluss beeinträchtigt.

Bewertung: 3.5 von 5.

Volker Kutscher: Goldstein. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2011

Sebastian Fitzek: Der Heimweg

Dieses Buch war für mich eine echte Achterbahnfahrt mit vielen Höhen, aber auch Tiefen und einigermaßen durchgeschleudert bin ich da auch rausgekommen.
Zu den Höhen kann ich sagen, dass dieses Buch extrem fesselnd ist. Es hat so viele Wendungen und überraschende Momente, dass man einen konstanten Spannungslevel hat und unbedingt wissen will, wie es weitergeht. Also ein sehr dynamisches Buch, ein ganz großer Pluspunkt für einen Thriller. Auch das Spiel mit dem Motiv des Verfolgungswahns gefällt mir immer sehr, das ist hier gut eingesetzt. Man weiß über weite Strecken nicht, was der Realität oder der wahnhaften Welt der Protagonisten entspringt und das hat etwas sehr reizvolles. Darüberhinaus ist auch noch zwischendurch richtig schön gruselig, also der Thrillfaktor stimmt schon mal.
Das Ende war überraschend, aber in sich stimmig erklärt und hat mir auch ganz gut gefallen. Allerdings fand ich die Story an einigen Stellen auch etwas drüber (Stichwort Wasserbett, Weihnachtsmann oder die Fassadenkletterei) und zwischendurch auch ziemlich verworren bzw. überkonstruiert. Da muss man schon ganz schön konzentriert bleiben, um in dieser verschachtelten Geschichte den Überblick zu behalten.
Ziemlich abgestoßen war ich vom Ausmaß sadistischer Gewalt gegenüber Frauen, die da beschrieben wird. Mag ich in der Form nicht wirklich lesen, auch wenn es das in der Realität sicherlich gibt. Jetzt mag man mich dafür als Mimi beschimpfen und was ich denn erwarte, wenn ich Psychothriller lese. Genau, Psycho und Thrill. Nicht Splatter und Co. Ich mag solche Gewaltorgien einfach nicht. Deshalb schau ich ja auch keine Zombiefilme, obwohl ich gruselige Filme sehr mag. Das ist Geschmackssache und sollte auch unter den Thrillerfans so in Ordnung gehen, denke ich.
Etwas irritierend finde ich, dass in den sozialen Medien dieses Buch häufig als Beispiel für häusliche Gewalt zitiert wird. Ich denke, die Szenen im Hotel oder Parkhaus gehen weiter darüber hinaus, auch wenn es das in Einzelfällen geben mag. Das sollte man vielleicht nicht in einen Topf werfen

Nicht unerwähnt sollte noch bleiben, dass der neue Fitzek zu den schönsten Büchern gehört, die ich seit langem in der Hand gehalten habe. Optisch und haptisch ein absolutes Schmuckstück.

Bewertung: 3.5 von 5.

Sebastian Fitzek: Der Heimweg. München: Droemer Verlag, 2020

Thomas Hettche: Herzfaden

Hettche erzählt in diesem Roman die Geschichte der Augsburger Puppenkiste. Entstanden in den Kriegsruinen verbindet der Gründer Walter Oehmichen damit einen Neuanfang: „Das ist unser Theater. Diese Kiste. Sie ist alles, was uns geblieben ist. Sie steht in den Ruinen. In sie sperren wir alles ein, was war. Verwandelt wird es wieder herauskommen.“ (S. 161)
Und so werden die alten Hakenkreuzfahnen zu Vorhängen verarbeitet und etwas Neues beginnt.
Oehmichens bahnbrechendes Theaterprojekt ist in seinen Kriegserlebnissen begründet. Schon dort baute er für seine Kameraden ein Marionettentheater und ließ sie für eine kurze Zeit die Schrecken des Krieges vergessen. Seinen Mitabeitern erklärt er die Motivation seines Vorhabens folgendermaßen: „Viele würden ihn fragen, beginnt er, weshalb er kein richtiges Theater machen wolle. Aber ihm sei klar geworden, dass Puppentheater noch mehr Theater sei als Menschentheater. Marionetten seien die ehrlicheren Schauspieler. Sie ließen sich nicht verführen, und die Freude an ihnen sei eine wahre, unschuldige Freude.“ (S. 158)
Und er beendet seine Rede mit den Worten: „Als der Krieg vorbei war, sagte ich mir: Je stärker ich die Menschen aus dem Elend führen kann, desto mehr helfe ich ihnen.“ (S. 158)


Das Puppentheater wird ein Familienprojekt, an dem vor allem seine Tochter Hannelore, genannt Hatü, maßgeblich beteiligt ist. Ihr Sohn wird später ihr Werk fortsetzen,was er bis zum heutigen Tage tut.
Eingebettet wird die Geschichte in eine fiktive Rahmenhandlung: ein zwölfjähriges Mädchen gelangt nach einer Vorstellung auf einen alten Dachboden und trifft dort auf die bereits verstorbene Hatü und ihre Marionetten…

Mir hat die Geschichte der Augsburger Puppenkiste sehr gefallen, vor allem der Beweggrund ihres Entstehens. Der Wunsch, dem Kriegselend und der Naziideologie etwas entgegenzusetzen, ist hier gekonnt herausgearbeitet worden.
Der Ehrgeiz, als erfolgreicher Schauspieler diesen ungewöhnlichen Weg zu gehen und daraus ein Familienprojekt zu machen, war sehr beeindruckend und hat den Aufbruchswillen in dieser schwierigen Zeit gut zum Ausdruck gebracht. Da steckt ganz viel Hoffnung drin und das ist schön zu lesen.
Sehr bezeichnend ist auch der Titel des Buches, denn das ist in der Tat etwas, was das Marionetenspiel vermag: das Herz zu bewegen.

Die Rahmenhandlung fand ich im Kontrast eher schwach. Die Idee ist gut, aber mir war das mit den vielen agierenden Marionetten zu überfrachtet. Als alter Freund der Augsburger Puppenkiste, insbesondere auch von Jim Knopf, war es zwar schön, die bekannten Figuren wieder auftauschen zu sehen. Das weckt wohlige Kindheitserinnerungen. Aber für den erzählerischen Zweck wäre Hatü und ihre (unbelebten) Marionetten völlig ausreichend gewesen. Dass diese dann ein Eigenleben entwickeln, war für mich eher befremdlich, insbesondere die Figur des bösen Kaspers.
In diesem Fall wäre weniger mehr gewesen.

Bewertung: 3.5 von 5.

Thomas Hettche: Herzfaden. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2020