Melissa Albert: Hazel Wood


Seit sie denken kann, ist Alice mit ihrer Mutter auf der Flucht, nie hatte sie ein richtiges Zuhause. Das Unglück scheint ihnen stets dicht auf den Fersen. Als sie endlich in New York sesshaft werden, stirbt Alice‘ Großmutter, die mysteriöse Märchenerzählerin Althea Prospertine. Kurze Zeit später verschwindet Alice‘ Mutter unter rätselhaften Umständen. Alice versucht alles, um ihre Mutter zu retten. Ihr Weg führt sie nach Hazel Wood, dem sagenumwobenen Haus ihrer Großmutter, tief in den Wäldern verborgen. Ganz entgegen der ausdrücklichen Warnung ihrer Mutter: „Halt dich fern von Hazel Wood!“

Dieses Buch ist auf jeden Fall reizvoll in seiner Mischung aus Realität und Märchenwelt und gerade die düsteren Elemente darin fand ich sehr ansprechend. Das hatte sowas von Stephen King meets Narnia, also eine gute Grundlage für eine gelungene Fantasygeschichte mit Gruseleffekt. Trotzdem bin ich mit dem Buch nicht wirklich warm geworden. Vielleicht lag es daran, dass es für mich zu schleppend losgegangen ist und ich nicht richtig in die Geschichte reingekommen bin. Nach dem ersten Drittel wurde es dann etwas besser, aber trotz der groß angelegten Märchenszenerie hat mich die Geschichte nicht wirklich gepackt, ich fühlte mich die ganze Zeit etwas außen vor. Auch wenn ich das Buch nicht ungern gelesen habe, wirkte auf mich insgesamt zu zähflüssig. Auch zu den Figuren hab ich keinen richtigen Zugang gefunden, was wirklich schade ist, denn es klang sehr vielversprechend.

Aber…volle Punktzahl für das traumhaft schöne Cover, dass sich durch die 3D-Strukur auch noch richtig schön anfassen lässt.

Bewertung: 3 von 5.

Melissa Albert: Hazel Wood. Hamburg: Dressler Verlag, 2018

Charles Dickens: David Copperfield


In diesem autobiographisch gefärbten Roman berichtet Dickens vom Leben des David Copperfield. Als Halbwaise geboren ist seine Amme Pegotty sein einziger Halt, denn seine noch kindliche Mutter ist mit dem Nachwuchs völlig überfordert. Schnell heiratet sie erneut, doch David wird von seinem strengen Stiefvater und dessen Schwester Jane nicht akzeptiert und in das Internat Salem House verbannt. Dort freundet er sich mit James Steerforth und Tommy Traddles an, eine Freundschaft, die sein späteres Leben nachhaltig beeinflussen wird.

Er flieht aus dem Heim und muss sich alleine und völlig mittellos in London durchschlagen. Hier begegnet einem wieder das Motiv der Kinderarbeit und bitterster Armut, das Dickens am eigenen Leibe erlebt hat. Sein Weg führt in zu seiner Tante, die ihn zunächst widerwillig bei sich aufnimmt. Doch schnell bald lernt sie ihn schätzen, fördert seine weitere Entwicklung und ermöglicht ihm eine Ausbildung als Rechtsanwaltsgehilfe. Dass Copperfield sich in der Folge auch noch als Schriftsteller versucht, zeigt umso mehr, wie viel Dickens in diesem Roman steckt und macht ihn auch unter diesem Gesichtspunkt lesenswert.

Seit ich ‚Oliver Twist‘ gelesen habe, bin ich ja ein absoluter Dickensfan, weil er wie kein anderer die Stimmung und das menschliche Elend zur Zeit der beginnenden Industrialisierung in England beschreibt. Das klingt auch in diesem Roman wieder an und auch die Schilderung seiner leidvollen Kindheit ist sehr eindrucksvoll, so dass ich im ersten Drittel des Buches sehr gefesselt war. Auch gibt es im weiteren Verlauf das eine oder andere Highlight, beispielsweise ist die Szene, in der er das erste Mal betrunken ist, ausgesprochen komisch, ich habe sehr gelacht.
Insgesamt leidet das Buch aber daran, dass es mit fast 1000 Seiten viel zu aufgebläht ist. Gerade im zweiten Teil ist es für meinen Geschmack zu langatmig und verliert sich in Nebensächlichkeiten, schrammt teilweise auch hart am Kitsch entlang. Das hat mich zwischenzeitlich ziemlich ermüdet, aber gute drei Sterne sind es in jedem Fall.

Bewertung: 3.5 von 5.

Charles Dickens: David Copperfield. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 2008 (Original 1849/50)

Simon Beckett: Die ewigen Toten

Die meisten Menschen glauben zu wissen, wie Verwesung riecht. Sie denken, der Geruch wäre markant, unverwechselbar, der faulige Gestank des Grabes.

So beginnt Becketts neuster Thriller, der 6. Fall rund um den forensischen Anthropologen David Hunter. In gewohnter Weise mit sehr detailierten Schilderungen zu Verwesungprozessen und allem, was das Thema Forensik so zu bieten hat und was seine Leser so zu schätzen wissen. Ich übrigens auch!
Schauplatz des Geschehens ist ein verlassenes Krankenhaus, in das sich nur noch Fledermäuse verirren. Vermeintlich, denn durch Zufall wird auf dem Dachboden des verfallenen Gebäudes eine stark verweste Frauenleiche gefunden, eingewickelt in eine Plastikhülle. Hunter wird zu dem Fall hinzugezogen, um Hinweise zur Identifizierung der Toten zu geben. Bei der Bergung der Leiche stürzt der Boden des baufälligen Gebäudes ein und enthüllt ein geheimes Krankenzimmer ohne Fenster und Türen, das auf den Plänen nicht eingezeichnet ist. In ihm finden sich zwei weitere Leichen, an ihren Betten gefesselt. Ganz offensichtlich wurden sie ledendig eingemauert. Bei ihrer Obduktion entdeckt Hunter eindeutige Folterspuren…

Klingt erstmal ganz gut, oder? Lost Places meets sadistischen Serienkiller, da geht doch was. Nur leider nicht hier.
Eigentlich bin ich ja ein großer Beckett Fan, weil mir vor allem die ersten drei Teile dieser Serie extrem gut gefallen haben. Aber schon die letzten beiden Teile fand ich deutlich schwächer und dieser letzte Band ist für mich der sprichwörtliche Satz mit x, so leid es mir tut.
Aber was soll man denn machen, wenn sich eine belanglose Szene an die andere reiht, ein nichtssagender Dialog dem nächsten folgt. Bis zur Hälfte des Buches dachte ich noch, dass geht aber schleppend los, nur nahm dieser Zustand leider kein Ende. Auf den letzten 100 Seiten konnte die Geschichte zwar ein bisschen an Fahrt aufnehmen, verpuffte aber schnell wieder an der wenig überraschenden Auflösung. Und das Ende fand ich schlichtweg ärgerlich. Warum präsentiert man dem Leser wie täglich grüßt das Murmeltier immer wieder das gleiche Motiv im neuen Gewand? Und nicht mal in einem besonders guten…
Bleibt die abschließende Frage, was ist nur mit Beckett los? Schreibflaute? Erfolgsdruck? Oder die Nachlässigkeit des Erfolgreichen? Klar kann der Autor immernoch gut schreiben und den einen oder anderen spannenden Moment hat es auch hier gegeben, aber das ist definitiv nicht der Beckett, den man kennt und den man sich wünscht.
Ich für meinen Teil hoffe auf bessere Zeiten…

Bewertung: 2.5 von 5.

Simon Beckett: Die ewigen Toten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 2019

Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land

Ein Ort, der nicht gefunden werden will.

Das ist der Schauplatz dieses Debütromans, der uns in eine surreale Parallelwelt entführt. Ruth ist nach dem Unfalltod ihrer Eltern auf der Suche nach Groß-Einland, deren Geburtsort, an dem sie nach ihrem letzten Wunsch auch beerdigt werden möchten. Doch dieser Ort ist nirgends verzeichnet, es scheint ihn gar nicht zu geben. Ohne Karte und Navigation macht sich Ruth auf die Suche, geleitet von Erinnerungen an Erzählungen über diesen Ort und trifft auf ihrer tagelangen Reise schließlich auf zwei Männer, die genau dorthin wollen: nach Groß-Einland. Über Stock und Stein, tief in den Wald führt der Weg und man fühlt sich ein bisschen wie bei Alice im Wunderland, denn dies ist wahrlich kein gewöhnlicher Ort. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, über der mittelalterlich anmutenden Stadt herrscht eine Gräfin, die alle Fäden des gesellschaftlichen und politischen Lebens in der Hand hält. Sie ist die uneingeschränkte Herrscherin der auf den ersten Blick idyllisch anmutenden kleinen Gemeinde.

Doch der Schein trügt. Beim genaueren Hinsehen stellt man fest: Der Kirchturm steht schief, Straßen und Plätze senken sich ab und tiefe Risse zeichnen die Häuser, notdürftig verborgen durch die Reparaturversuche der Bewohner, die dem fortschreitenden Verfall der Stadt nicht wirklich Herr werden. Denn die Ursache sitzt viel tiefer.

Unter dem Ort befindet sich ein gigantischer Hohlraum, die weit verzweigten Überreste eines Bergwerks, in dem jahrhundertelang Rohstoffe abgebaut und unfachmännisch ausgeführte Grabungen vorgenommen wurden, die die Statik des Ortes nachhaltig beeinträchtigt haben. Die Erde bricht zunehmend auf, wird unterspült, das Land verflüssigt sich und ganz Groß-Einland droht im Loch zu versinken.

Die Gräfin sieht in der Physikerin Ruth die Retterin für den drohenden Untergang des Dorfes: sie soll einen Füllstoff entwickeln, der das Loch verschließt. Sie bietet Ruth eine Arbeit im Schloss und eine Unterkunft an, dass sich als Haus ihrer Großeltern entpuppt. Ruth nimmt das Angebot an und taucht ein in diesen unwirklichen Ort, in das bizarre Leben seiner Bewohner, aber auch in seine Vergangenheit. Sie beginnt, in der Geschichte des Ortes und ihrer Vorfahren zu recherchieren und entdeckt, dass sich in Groß-Einland während des Zweiten Weltkriegs eine Außenstelle des Konzentrationslagers Mauthausen befand und dass viele Zwangsarbeiter dort ums Leben kamen. Und wie konnte sich die selbsternannte Gräfin nach dem Krieg in den Besitz der gesamten Kleinstadt bringen?

Anfänglich hatte ich Mühe, in das Buch reinzukommen. Gerade die ersten Seiten fand ich sprachlich holperig, die Namensgebung im Dorf übertrieben albern (Ingenieur Heinzelmann…) und das Verhalten der offenbar medikamentenabhängigen Protagonisten schlichtweg unverständlich. So weiß man letztlich auch nicht, ob die gesamte Geschichte nicht einem eskalierten Drogenrausch entsprungen ist. Wer fährt schon los zu einem Ort, den es gar nicht gibt und schmeißt auch noch unterwegs sein Handy weg?

Aber als sich erstmal herauskristalliert hat, worum es da eigentlich geht, nämlich um eine Parabel über ein ganz dunkles Kapitel in der Geschichte Österreichs, da war ich wach. Und zunehmend begeistert über die Genialität dieser Konstruktion.

Das fiktive Groß-Einland als Sinnbild für den immer noch tabuisierten Umgang Österreichs mit der eigenen Vergangenheit. Bis heute wird die Mitverantwortung an den Verbrechen der NS-Zeit geleugnet oder verharmlost, die Schuldfrage an die deutsche Wehrmacht weitergereicht. So wie in Groß-Einland betrieb das Konzentrationslager Mauthausen im Zweiten Weltkriegs 40 Außenstellen in unterirdischen Anlagen.

Hier begegnet uns dieser schwarze Fleck in der Vergangenheit in der Form des schwarzen Lochs wieder, dass die mühsam aufrechterhaltene Fassade der heilen Welt in die Tiefe zu reißen droht. So wie die Bewohner versuchen, die Risse und Löcher in ihren Häusern zuzuspachteln und den drohenden Untergang ihres Dorfes zu ignorieren, so funktioniert noch heute bei vielen Österreichern die kollektive Verdrängung. Der wunden Stelle in der Vergangenheit, auf die Edelbauers Protagonistin ganz direkt verweist:

Ein letztes Teilrätsel bestand in der Frage, wie zehn Wachmänner das Töten von achthundert Menschen zustande gebracht hatten. Ich vermutete längst, dass man dem Wachpersonal geholfen haben musste, doch auch das wurde unter einer formelhaften, pittoresk bedauernden Standardversion der Dinge verborgen: Die Wehrmacht hatte das getan, die Wehrmacht, die Wehrmacht, die Wehrmacht hatte alles beschlagnahmt.“ (S.189)

Das Loch wird zur Metapher für das Begraben der eigenen Schuld, an der sich alle Dorfbewohner beteiligen. In der Nacht kommen sie aus ihren Häusern, man hört den Aufprall von Gegenständen, die in das Loch geworfen werden. „Was man in das Loch warf, waren Dinge, für die man sich schuldig fühlte.“ (S. 315).

Ein wichtiges Buch gegen das Verdrängen und Vergessen und völlig zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.

Bewertung: 4.5 von 5.

Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land. Stuttgart: Klett-Cotta, 2019