Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe

Letztes Jahr hat Alex Schulman mit ‚Die Überlebenden‘ in Deutschland auf sich aufmerksam gemacht. Mit diesem Roman gelang ihm 2018 in Schweden der Durchbruch, der nun in der deutschen Übersetzung vorliegt.

Dies ist ein sehr persönliches Buch, denn der Autor schreibt hier über ein Gefühl, unter dem er zunehmend leidet und das die Beziehung zu seiner Familie vergiftet: das Gefühl der Wut.
Um der Ursache dieser Wut auf den Grund zu gehen, taucht der Autor tief in seine eigene Familiengeschichte ein und stößt auf eine tragische Liebesgeschichte, in deren Zentrum seine Großeltern und ein bekannter Schriftstellerkollege des Großvaters stehen.
Schulmans Großvater, ebenfalls eine bekannte literarische Größe, war nicht nur unter den Kollegen, sondern auch im Familienkreis wegen seiner Wutausbrüche und Scharfzüngigkeit gefürchtet.
Anhand von authentischen Tagebuchauszügen und Briefen rekonstruiert Schulman eine dramatische Liebesgeschichte, die die Stimmung in der Familie über Generationen nachhaltig beeinflussen wird.

Wow, was für ein Buch!
Mir hatte ja schon ‚Die Überlebenden‘ gut gefallen, von daher hatte ich auch hier mit einem guten Buch gerechnet, aber nicht damit. Zumindest nicht bei dieser Thematik.
Denn dieses Buch ist spannender als mancher Krimi und von einer ganz besonderen Intensität. Der Autor baut die Geschichte ganz langsam auf, ausgehend von seiner eigenen Verzweiflung an sich selbst. Die Passagen der Gegenwart wechseln sich mit den Erinnerungen des Autors an seine Großeltern und den Briefen und Tagebucheinträgen ab. Dabei dringt der Autor immer mehr zu den damaligen Ereignissen vor und das hat durchaus eine detektivische Komponente, die mich völlig in den Bann gezogen hat. Ich hab das Buch mehr oder weniger in einem Zug durchgelesen.

Sehr vieles ist mir dabei durch den Kopf gegangen. Ich war beeindruckt von der Grundmotivation des Autors, der eigenen Betroffenheit. Traurig über das Schicksal der Großmutter, empört über das Verhalten des Großvaters und sehr, sehr berührt von der Tragik dieser Liebesgeschichte.

Das Wissen, dass der Roman auf wahren Begebenheit beruht, macht diese Geschichte noch intensiver. Ein Buch, dass ich aus vollem Herzen empfehlen kann.

Bewertung: 4.5 von 5.

Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe. München: dtv, 2022 (Schwedische Originalausgabe 2018)

Jahreshighlights 2021 – Thriller / Krimi

Die besten Fünf in der Kategorie Thriller / Krimi sind:

Vorab muss ich sagen, dass mein Lesejahr in Sachen Krimi und Thriller insgesamt nicht so stark war. Da war die Auswahl zwischen den wirklich hervorstechenden Büchern nicht ganz so groß.

Bester Thriller in diesem Jahr ist für mich:

📚 Jérôme Loubry: Der Erlkönig

Dicht gefolgt von zwei Bänden der ausgesprochen guten Babylon Berlin – Krimireihe:
📚 Volker Kutscher: Lunapark
📚 Volker Kutscher: Olympia

Ebenfalls in die Top Five geschafft haben es
📚 Søren Sveistrup: Der Kastanienmann
📚 Jo Nesbø: Durst

Deutscher Buchpreis 2021 – Ein Rückblick

Vor einigen Tagen habe ich mein letztes Buch der zwanzig Nominierten gelesen und bin selber ein bisschen erstaunt, dass es ganze 11 Bücher geworden sind. Und es sind sogar alle Titel der Shortlist dabei. Allerdings war ich von der diesjährigen Auswahl nur mäßig begeistert, um es mal vorsichtig auszudrücken. Auch mit dem Siegertitel konnte ich mich nicht anfreunden.

Von der Shortlist am besten gefallen hat mir:
📚 Christian Kracht: Eurotrash 🌟 4

Tja und das war’s dann auch schon… alle anderen Titel fand ich zwiespätig bis hin zu regelrecht ärgerlich:
📚 Norbert Gstrein: Der zweite Jakob 🌟 3
📚 Antje Ravik Strubel: Blaue Frau 🌟 2,5
📚 Monika Helfer: Vati 🌟 2,5
📚 Mithu Sanyal: Identitti 🌟 2
📚 Thomas Kunst: Zandschower Klinken 🌟 1

Mein persönliches Highlight war daher auch von der Longlist:
📚 Heinz Strunk: Es ist immer so schön mit dir 🌟 4,5

Ganz gut gefallen hat mir auch:
📚 Henning Ahrens: Mitgift 🌟 3,5
📚 Dana Grigorcea: Die nicht sterben 🌟 3,5

Nicht überzeugen konnte mich:
📚 Shida Bazyar: Drei Kameradinnen🌟 2
📚 Gert Loschütz: Besichtigung eines Unglücks 🌟 1,5

Unschwer erkennbar war für mich der Buchpreis in diesem Jahr wenig erfreulich. Viele Nominierungen konnte ich schlichtweg nicht nachvollziehen, vor allem da es andere – deutlich bessere – Bücher, noch nicht mal auf die Liste der zwanzig Nominierten geschafft haben. Ich muss das jetzt erstmal verdauen, aber ich denke, dass ich in Zukunft mehr Abstand zu diesem Preis und seinen Büchern halten werde.

Isabel Allende: Das Geisterhaus

Ein höchst ungleiches Paar bildet den Eckpfeiler dieser umfangreichen Familiensaga. Da ist die sanftmütige, der Welt entrückte Clara, die mit Geistern spricht und über telepathische Fähigkeiten verfügt. Und als Gegenstück der Patriarch Esteban, ein ehrgeiziger Großgrundbesitzer, zutiefst konservativ, engstirnig und jähzornig.
Der Leser begleitet ihre Familie durch die Jahrzehnte vor dem Hintergrund der chilenischen Geschichte. Dem Aufstieg und Fall des Sozialismus und dem Militärputsch 1973, der Jahre des Terrors einläutet.

Ich hatte das Buch zum ersten Mal kurz vor dem Abitur gelesen und hatte neben vielen diffusen nur eine wesentliche Erinnerung: Dass es mir ausgesprochen gut gefallen hat.
Nun ist seitdem einige Zeit ins Land gegangen, mein abschließendes Fazit nach diesem reread ist aber nahezu identisch: ein großartiges Buch!
Ich mochte von Beginn an den bildhaften Erzählstil und die detaillierten Beschreibungen, die mich sofort in den Mikrokosmos dieser Familie versetzt haben. Wahrscheinlich hätte ich noch weitere 900 Seiten lesen können und nicht umsonst ging es allen aus unserer Leserunde so, dass sie gerne gewusst hätten, wie es mit Enkelin Alba weitergeht.
Ein Buch, dass mich nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich völlig in den Bann gezogen hat.
Das war eine literarisch eingebettete Geschichtsstunde aus erster Hand, handelt es sich doch bei Isabel Allende um eine regimekritische und politisch engagierte Journalistin und Verwandte Salvador Allendes. Auch wenn gerade die Gewaltszenen am Schluss nicht immer leicht zu verdauen waren, fand ich es wichtig, diese Einblicke in den berüchtigten Folterstaat zu bekommen.
Absolut gelungen war für mich auch die Herausarbeitung der Figuren. Jedes für sich ein Charakterporträt, das plastisch vor einem steht. Manche sind einem sehr nah, wie mir Clara; von manchen fühlt man sich zutiefst abgestoßen, wie beispielsweise vom jungen Esteban. Für mich waren die Charaktere in diesem Buch sehr greifbar und haben vieles an der Kraft erzeugt, die diese Geschichte ausmacht.

Bewertung: 5 von 5.

Isabel Allende: Das Geisterhaus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 1984 (span. Original 1982)

Ausgelesen: Juni 2021

Eine Handvoll Buch im Juni… naja, nicht ganz… eins ist nicht auf dem Foto, weil es aus der Bücherei war.
Also, in diesem Monat mal ein bisschen weniger, dafür aber überwiegend sehr angenehme Lektüre.

Highlight war diesen Monat:
📚 Mariana Leky: Erste Hilfe 🌟 4,5/5

Dicht gefolgt von:
📚 Christian Kracht: Eurotrash 🌟 4,5/5

Ebenfalls gerne gelesen habe ich:
📚 Christian Kracht: Faserland 🌟 4/5
📚 Han Kang: Weiß 🌟 4/5
📚 Jessica Fellows: Die Schwestern von Midford Manor – Dunkle Zeiten 🌟 4/5

Nicht ganz erreichen konnte mich:
📚 Helga Schubert: Vom Aufstehen 🌟 3/5

Buch des Monats ist für mich mein Highlight von Mariana Leky – eine Autorin, die mir in ihrer speziellen Art immer unheimlich Spaß macht.

Einen Klassiker des Monats gibt es diesmal nicht, dazu habe ich diesen Monat zu wenig gelesen. Wertet es als Sommerpause.

Ausgelesen: Mai 2021

Mein Lesemonat MAI war ähnlich wie der April – analog zum Wetter wechselhaft, aber doch mit etwas mehr Sonnenschein…

So ein richtiges Highlight war nicht dabei, dafür aber eine ganze Reihe von Büchern, die ich sehr gerne gelesen habe:

📚 Mary Beth Keane: Wenn du mich heute wieder fragen würdest 🌟 4/5
📚 Judith Hermann: Daheim 🌟 4/5
📚 Sylvie Schenk: Roman d’amour 🌟 4/5
📚 Leonie Swann: Glennkill 🌟 4/5
📚 Bernhard Aichner: Totenfrau 🌟 4/5
📚 Haruki Murakami: 1Q84, Buch 3 🌟 4/5
📚 Florian Schwieker / Michael Tsokos: Die 7. Zeugin 🌟 4/5

Einigermaßen enttäuscht war ich bei:

📚 Hermann Hesse: Der Steppenwolf 🌟 2,5/5
📚 Verena Güntner: Power 🌟 2/5

Eindeutiger Flop des Monats:

📚 Stephen Chbosky: Der unsichtbare Freund 🌟 1,5/5

Als Buch des Monats habe ich den Murakami gewählt – für mich ein großartiger Autor. Nicht jedermanns Sache, aber in seiner speziellen Art ganz außergewöhnlich.

Der Klassiker des Monats ist Hesses Steppenwolf, der zu seinen bekanntesten Werken gehört. Mein Fall war es nicht, aber es hat durchaus viele Fürsprecher und kennen sollte man es allemal.

Stephen Chbosky: Der unsichtbare Freund

Auf der Flucht vor ihrem Exfreund zieht die alleinerziehende Kate mit ihrem siebenjährigen Sohn Christopher nach Mill Grove, eine Kleinstadt in Pennsylvania. Direkt am Waldrand beziehen sie ein kleines Haus. Doch kurz nach dem Umzug sieht Christopher seltsame Zeichen und hört Stimmen, die ihn in den Wald locken…

Nun ja, schon die Erwähnung der lächelnden Wolke auf dem Klappentext hätte mir verdächtig vorkommen müssen. Aber da im Buch neben den Motiven des Übersinnlichen auch mit denen der Geisteskrankheit gespielt wird, hätte das noch so durchgehen können. Wie so vieles zu Beginn des Buches.
Denn es geht erstmal recht spannend und atmosphärisch los und hat auch einige gruselige Momente, die Lust auf mehr machen.
Aber schon recht bald schleichen sich unlogische bis völlig lächerliche Sequenzen und Handlungsstränge ein, die man beim besten Willen nicht mehr ernst nehmen kann. Nun kann ja in einem fiktiven Roman mit übersinnlichen Elementen schon mal einiges etwas abwegig oder unlogisch sein, nur sollte man damit sehr sparsam umgehen. So versucht man bei Christophers Gespräch mit der Plastiktüte noch zähneknirschend beide Augen zuzudrücken, nur gibt es in diesem Buch gefühlte hundert Plastiktütenmomente…

Für mich ein gutes Beispiel, wie ein Autor das Maß überhaupt nicht findet und die Geschichte zu Tode eskaliert. Für mich war das Maß auf jeden Fall nach gut der Hälfte voll und ich habe mich für vorzeitigen Abbruch entschieden.
Weise Entscheidung, denn meine Lesepartnerin hat noch ein bisschen ins Ende reingelesen und das wurde ja noch viel schlimmer als erwartet und das heißt schon einiges…

Dieses Buch wird ja damit beworben, dass es an Stephen King erinnert. So kann man es auch ausdrücken, wenn jemand einfach munter abschreibt. Das ist an so vielen Stellen so dreist von ES abgekupfert, dass es mich echt geärgert hat.

Bewertung: 1.5 von 5.

Stephen Chbosky: Der unsichtbare Freund. München: Heyne Verlag, 2019

Volker Kutscher: Marlow

Nun wird ja das Genre Krimi der (trivialen) Unterhaltungsliteratur zugerechnet und von vielen nicht so recht ernst genommen. Dass das nicht immer so ganz hinhaut, beweist diese Serie. Denn hier kriegt man zum Kriminalfall immer noch ein Stück bestens recherchierte Zeitgeschichte mitgeliefert und das auf einem ganz hohen Niveau.
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Mittlerweile befinden wir uns im Jahre 1935 und im Zentrum des Geschehens steht eine geheime Ermittlungsakte, die Rath in die Finger gerät und ihn in größte Schwierigkeiten bringt.
In diesem Band taucht man ein in die Welt der SS und des Sicherheitsdienstes unter Heydrich in seiner Mischung aus Bespitzelung, Terror und Folter. Gerade die Auswirkungen auf das alltägliche Zusammenleben, dass mit Angst und Misstrauen durchzogen wird, sind von Kutscher sehr plastisch herausgearbeitet worden. Im Mittelpunkt der Aktivitäten stehen zwar noch die Ermittlungen gegen Kommunisten und politische Konkurrenten, aber die zunehmende Judenverfolgung wirft bereits ihre Schatten voraus.
Parallel zu diesen Geschehnissen tritt der Gangsterboss Marlow in den Focus der Geschichte, so dass man endlich mal ein bisschen mehr über ihn und seine Vergangenheit erfährt.

Für mich waren die historischen Ereignisse auch in diesem Band fesselnder, als es jeder Kriminalfall sein könnte und so kann ich auch hier nur eine uneingeschränkte Leseempfehlung aussprechen. Allerdings hat die Geschichte ein bisschen Anlauf gebraucht, um so richtig in Fahrt zu kommen. Von der Dynamik her haben mir die beiden Vorgänger da noch etwas besser gefallen.

Bewertung: 4 von 5.

Volker Kutscher: Marlow. München: Piper, 2018

Abbas Khider: Palast der Miserablen

Shams zieht mit seinen Eltern und seiner großen Schwester aus dem Süden Iraks nach Bagdad, um politischer Verfolgung zu entgehen. Dort bleibt ihnen als Flüchtlingen nur das Leben in der Blechsiedlung, einem Slum neben dem Müllberg.
Shams arbeitet als Tütenverkäufer, Fahrkartenverkäufer und Lastenträger, bis er den Palast der Miserablen kennenlernt. Ein konspirativer Lesezirkel mit deutlich regimekritischer Ausrichtung. Äußerst gefährlich im Terrorstaat des Saddam Hussein…
Trotz großer Leseflaute zu Beginn des Monats habe ich dieses Buch sehr schnell durchgelesen, weil es auf mich eine unheimliche Faszination ausgeübt hat. Auch wenn es nicht direkt autobiografisch ist, fließt doch einiges aus Khiders eigener Vergangenheit im Irak mit ein. Das ist Geschichte aus erster Hand, die Innenansicht der politischen Ereignisse unter Saddam Hussein.
Besonders macht dieses Buch aber nicht nur der Inhalt, sondern die sprachliche Leichtigkeit, die einem trotz dramatischster Ereignisse Hoffnung und Zuversicht vermittelt. Shams gibt sich nicht auf und geht seinen Weg – diese positive Grundeinstellung trotz aller Widrigkeiten hat mir sehr gefallen.
Unterbrochen wird die Geschichte des jungen Shams durch eingestreute kurze Berichte aus dem Kerker, seine vorerst letzte Station.
Wenn es an diesem Buch etwas zu bemängeln gibt, dann ist es für mich das offene Ende. Da hatte ich mir noch mehr gewünscht.
Trotzdem klare Leseempfehlung!

Bewertung: 4 von 5.

Abbas Khider: Palast der Miserablen. Hanser Verlag, 2020

Salih Jamal: Orpheus

Orpheus und Eurydike 2018. Der Sänger Orpheus hat in Nienke, die als Anwältin im.Unternehmen seines Großvaters arbeitet, die Liebe seines Lebens gefunden. Als Nienke eines Tages Beweise dafür findet, dass sein Großvater an einem ungeklärten Mordfall an einer jungen Frau verwickelt ist, gerät ein Stein ins Rollen. Nienke verschwindet spurlos und Orpheus begibt sich auf eine verzweifelte Suche, nach seiner vermissten Freundin und der Wahrheit…

Auf diesen Autor bin ich durch Instagram aufmerksam geworden und schon vor diesen Buch war mir aufgefallen, dass er ganz wunderbar mit Worten umzugehen versteht. So auch in dieser Geschichte, in der sich eine Fülle sprachlicher Schmuckstücke verstecken. Allerdings war es mir gerade zu Beginn stellenweise einen Tick too much. Große Worte sollte man sparsam dosieren, sonst erschlägt’s einen.
Grundsätzlich finde ich die Idee, einen alten Stoff auf die Gegenwart zu übertragen, sehr reizvoll, aber auch eine Herausforderung, denn aus dem Klassiker soll ja keine Karikatur werden. Das Experiment ist in diesem Roman geglückt, ich finde es eine überwiegend gelungene Adaption, was bei einem antiken Stoff wahrlich nicht einfach ist. Stellenweise fand ich es aber auch schwierig, denn die Götter waren in ihren Handlungen ja nicht gerade zimperlich. Im echten Leben wirken einige Aktionen schon etwas over the top, vor allem in der Figur des Zeus.
Aber ich hab’s gerne gelesen und bin gespannt, was man noch so von diesem Autor hört.

Bewertung: 3 von 5.

Salih Jamal: Orpheus. Norderstedt: Books on Demand, 2018