Margaret Atwood: Penelope und die zwölf Mägde

Die Geschichte des heldenhaften Odysseus ist allgemein bekannt. Am Rande taucht darin seine Ehefrau Penelope auf – treu liebende Ehefrau und Mutter, die ergeben in ihr Schicksal jahrzehntelang auf die Rückkehr ihres Mannes wartet.
Das die Ereignisse möglicherweise ein klein bisschen anders waren, berichtet Penelope hier selbst und das ziemlich unverblümt. Schließlich muss sie auf niemanden mehr Rücksicht nehmen, denn sie spricht direkt aus dem Hades zu uns. Und so redet sie Klartext über die Eskapaden ihrer schönen Cousine Helena, den Skandalen am Hof und dem nicht immer rühmlichen Verhalten ihres Ehegatten. Für seinen Mord an ihren zwölf Mägden fordert sie nun Gerechtigkeit…

Dieses Buch zu lesen macht einfach nur Spaß und wer denkt, klassische Sagenstoffe sind irgendwie dröge, der wird hier eines Besseren belehrt. Denn hier bekommt die Geschichte nicht nur einen komplett anderen Blickwinkel, sondern auch eine andere Sprache. Penelope redet hier, wie ihr der Schnabel gewachsen ist und das ist ausgesprochen unterhaltsam, teilweise sogar richtig lustig. Ihre schnoddrige Art steht in komplettem Gegensatz zur Anlage der Figur in der Literatur, was ich besonders gelungen finde. Auch dass die Mägde im Stil des antiken Chors immer wieder zu Wort kommen und ihr Recht fordern, finde ich ein gut eingesetztes Stilmittel.

Dieses Buch hat mich mal wieder daran erinnert, mehr Atwood zu lesen. Eine tolle Autorin und ein sehr empfehlenswertes Buch!

Bewertung: 4.5 von 5.

Margaret Atwood: Penelope und die zwölf Mägde. München: Wunderraum / Goldmann Verlag, 2022 (Original 2005)

Takis Würger: Unschuld

Fünfunddreißig Tage bleiben Molly Carver noch, um die Unschuld ihres Vaters zu beweisen. Für den Mord an dem Sohn seines ehemaligen Arbeitgebers sitzt er in der Todeszelle und wartet auf die Vollstreckung des Urteils.
Besagter ehemaliger Arbeitgeber gehört zu den reichsten Familien der Vereinigten Staaten und nimmt eine bedeutende Funktion in der Waffenlobby-Organisation des Landes ein.
Und gerade hinter die Kulissen dieser mächtigen Familie möchte Molly einen Blick werfen, denn zufällig ist gerade dort eine Stelle als Zimmermädchen frei…

Das ist ja mal was ganz anderes aus der Feder des Autors. Ein Roman, der als Kriminalfall daherkommt und doch noch etwas anderes ist. Denn hier blickt man nicht nur hinter die Fassade der Schönen und Reichen, sondern direkt auf die massiven Probleme, die dieses Land hat: soziale Ungleichheit, Lobbyismus, Drogenmissbrauch, Todesstrafe, das Recht auf Waffenbesitz und anderes mehr.
Für mich war das Thema sehr interessant, da ich gerade dieses Jahr in den USA war und die Widersprüche dieses Landes hautnah miterleben konnte. Während auf dem Hollywood Boulevard Obdachlose auf der Straße liegen oder im Drogenrausch schreiend herumrennen, findet einige hundert Meter weiter eine Filmpremiere auf dem roten Teppich statt. Daran hat mich die Szene erinnert, als Molly einen verdeckter jungen Mann vor dem Anwesen der Rosendales entdeckt, der dort neben der Einfahrt liegt.
Das gefällt mir besonders an diesem Buch, dass es gut recherchiert und beobachtet ist. Dadurch wirkt das Buch sehr authentisch.
Und was für dieses Buch spricht: ich habe es quasi in einem Stück durchgelesen. Für mich hatte es genau das richtige Maß an Spannung, ohne unnötige Längen oder sonstigen Schnickschnack drumrum. Die Sprache ist schnörkellos und eingängig, so dass sich ein guter Lesefluss, in meinem Fall sogar Sog, ergibt. Ich wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht.

Teilweise wurde in den Rezensionen zum Buch die mangelnde Tiefe der Figuren bemängelt. Ja, stimmt – da geht mehr. Anderseits muss man auch nicht in jedem Roman die Charaktere bis ins Mark aufbohren. Vielleicht geht’s hier auch einfach um andere Dinge. Für mich war das Buch eine Mischung aus guter Unterhaltung und gesellschaftskritischem Blick. Es hatte auf mich nicht ganz die Wirkung von ‚Stella‘ oder ‚Der Club‘, ist aber durchaus sehr lesenswert.

Bewertung: 4 von 5.

Takis Würger:Unschuld. München: Penguin Verlag, 2022

Isabel Allende: Violeta

„Mein Leben ist es wert, erzählt zu werden, was weniger an meinen tugendhaften als meinen sündigen Taten liegt, von denen Du viele nicht ahnst. Hier erzähle ich Dir von ihnen. Du wirst sehen, mein Leben ist ein Roman.“

Und das ist es. Ein hundertjähriges Leben, das die Protagonistin Violeta in einem Brief vor ihrem Enkel am Ende ihres langen Weges ausbreitet.
Eine große Pandemie, die Spanische Grippe, steht am Beginn ihres Lebens und eine weitere wird hundert Jahre später an dessen Ende stehen. Zwischen diesen Eckpunkten bewegt sich die selbstbewusste Violeta, die nicht gewillt ist, sich mit einem Dasein als Hausfrau und Mutter abzugeben. Ebensowenig wie mit den überholten Konventionen, aber auch bedenklichen politischen Entwicklungen in dem nicht näher benannten lateinamerikanischen Land, in dem man unschwer Allendes chilenische Heimat erkennt.

In Rezensionen zu ihrem neusten Roman wurde ihr vorgeworfen, dass sie darin wenig Neues hervorgebracht hat – vielmehr Altbekanntes in routinierter Weise abspult.
Tatsächlich begegnet einem einiges, das man aus dem ‚Geisterhaus‘ oder ‚Fortunas Tochter‘ schon kennt. Groß angelegte Familiengeschichten, unbeugsame Frauenfiguren, Motive des magischen Realismus und die politischen Umbrüche ihres Heimatlandes sind ihre wiederkehrenden Themen.
Trotzdem gelingt es ihr, aus diesen Elementen ganz wunderbare Geschichten zu weben, die einen immer wieder aufs Neue faszinieren.
Wir waren uns in unserer Leserunde einig, dass Allendes Art des Erzählens einen großen Wiedererkennungswert hat und diese so typische Erzählweise gefällt mir sehr. Sie lässt einen sofort in die Geschichte eintauchen und das Schicksal der porträtierten Familien über die Jahrzehnte mit Spannung verfolgen.
Auch wenn ich das ‚Geisterhaus‘ und ‚Fortunas Tochter‘ noch etwas stärker fand, konnte mich auch Allendes aktueller Roman auf ganzer Linie begeistern und gerade das Ende hat mich zu Tränen gerührt. Einfach ein schönes Buch, innen wie außen.

Bewertung: 4 von 5.

Isabel Allende: Violeta. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2022

Anthony Marra: Die niedrigen Himmel

Mit diesem Buch verbindet mich eine längere Geschichte. Nachdem das Buch viele Jahre im Regal stand, schien mir im März, kurz nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine, der richtige Zeitpunkt dafür. Denn es ist ein Buch über den Krieg – den ersten und zweiten Tschetschenienkrieg.
Doch schon nach den ersten Kapiteln musste ich es erstmal zur Seite legen und danach auch immer wieder, so dass sich das Lesen über viele Monate hingezogen hat. Mich hat das Lesen unterschwellig so belastet, dass ich es mir innerlich vom Leib halten musste und so nicht wirklich in die Geschichte reingekommen bin. Dazu kommt, dass das Buch in den Zeiten hin- und herspringt, so dass man schon recht aufmerksam lesen muss. Und das möglichst auch ohne größere Pausen, damit man nicht den Faden verliert, denn die Geschichte ist in ihrem historischen Kontext schon komplex. Spätestens im letzten Drittel hab ich jedoch gemerkt, dass ich hier etwas ganz Besonderes in den Händen halte. Und so hab ich nach der letzten Seite an den Anfang zurückgeblättert und von neuem begonnen. Und diesmal erst wirklich erlebt, was dieses Buch für ein ungeheurer Schatz ist.

Es ist die Geschichte von Achmed, der die Tochter seines Freundes Dokka vor den russischen Besatzern in Sicherheit bringt. Dieser ist in die berüchtigte Deponie verschleppt worden – ein Folterlager der Föderalen, das kaum einer lebend verlässt.
Es ist die Geschichte der Ärztin Sonja, die in einem verfallenen Krankenhaus Minenopfer verarztet und verzweifelt nach ihrer verschollenen Schwester Natascha sucht.
Und es ist die Geschichte Nataschas, die als Sexsklavin nach Italien verschleppt wird.

Dieses Buch hat mich in jeder Beziehung an meine Grenzen gebracht. Ich habe sehr mitgelitten, gleichzeitig aber auch die Hoffnung und die Mitmenschlichkeit gespürt, die den Protagonist:innen auch unter den schlimmsten Bedingungen nicht verlorengeht. Es gehört zu den bewegensten Büchern, die ich jemals gelesen habe und hat mich mehrfach zu Tränen gerührt. Und das umso mehr, da ein wesentlicher Teil dieser fiktiven Geschichte auf Tatsachenberichten beruht.

Ein Buch, dass noch lange in mir nachhallen wird und dem ich viele Leser:innen wünsche.

Bewertung: 4.5 von 5.

Antony Marra: Die niedrigen Himmel. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2014

Elisa Levi: Anderes kenne ich nicht

„Es gibt keinen Ort, der universeller ist als das kleinste Dorf.“

Bereits der erste Satz des Klappentextes beschreibt, worum es in diesem Buch geht. Dem ganz besonderen Mikrokosmos in einem kleinen spanischen Dorf mit nur vier Straßen, einer Kirche und einem Einkaufsladen. Ein Ort, an dem jeder jeden kennt. Und an dem die Zeit stehenzubleiben scheint.

Welch eine willkommene Abwechslung, als ein Mann im Dorf erscheint, dem sein Hund entlaufen ist. Ausgerechnet im angrenzenden Wald will er den Hund suchen. Wo doch jede*r im Dorf weiß, dass keiner aus diesem Wald lebend wieder herauskommt.
Von dieser und anderen Universalitäten ihres Dorfes erzählte Lea dem ahnungslosen Fremden – bei einer Zigarette auf der Bank in der Nachmittagssonne. Oder auch zwei oder drei…

Tatsächlich besteht das gesamte Buch aus Leas Monolog mit dem Fremden, in dem sich das gesamte gesellschaftliche Leben des Dorfes ausbreitet. Das könnte auf den ersten Blick ziemlich handlungsarm wirken, die Konstruktion ist aber erstaunlich tragfähig. Das liegt vor allem an den interessanten Themen, die im Rahmen dieses Monologs angerissen werden. Den Abhängigkeiten, Wünschen und Sehnsüchten Leas und der anderen Dorfbewohner*innen, ihren Beziehungen untereinander, den überholten Traditionen, der geistigen Enge und dem Wunsch, alles hinter sich zu lassen. Und die Angst davor.
„Lieber das bekannte Übel, als das unbekannte Gute“ ist das Motto des Dorfes, mit dem sich Lea immer weniger abfinden kann.
Wäre da nicht ihre Schwester, die aufgrund schwerer geistiger und körperlicher Beeinträchtigungen auf Leas tägliche Hilfe angewiesen ist…

Was mir an dem Buch so gut gefallen hat, sieht man eigentlich schon am Cover – es strahlt ganz viel Wärme aus. Als würde man selbst in der Nachmittagssonne sitzen und einer (etwas längeren Erzählung lauschen). Trotz Leas Distanz zur dörflichen Enge und vieler negativer Gedanken spürt man immer wieder ihre Zuneigung und Verbundenheit gegenüber den Dorfbewohner*innen.

Und das in einer wunderbar klaren, bildhaften Sprache, die gerade in ihrer Einfachheit viele starke Sätze und Passagen produziert. Dazu passt auch ihre zum Teil derbe Art, bei der sie auch kein Blatt vor den Mund nimmt. Gerade ihre abwertenden Gedanken in Bezug auf ihre Schwester haben Kritik ausgelöst, vielleicht auch nicht zu Unrecht. Aber ich denke, dass es durchaus Gedanken sind, die in solchen Situationen aufkommen können. Nur sind sie gesellschaftlich extrem tabuisiert. Ich finde es im Kontext der Geschichte jedoch durchaus passend. Und sie spricht auch immer wieder ausgesprochen liebevoll über ihre Schwester, was man dabei nicht außer acht lassen sollte. Wahrscheinlich hat man in einer solchen Belastungssituation wirklich diese widersprüchlichen Gefühle in sich. Allerdings hat mich das Ende auch etwas irritiert, muss ich sagen. Das ist schon ziemlich harte Kost. Aber letztlich bleibt vieles auch offen und der Fantasie der Leser*innen überlassen.

Bewertung: 3.5 von 5.

Elisa Levi: Anderes kenne ich nicht. Berlin: Trabanten Verlag, 2022

Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe

Letztes Jahr hat Alex Schulman mit ‚Die Überlebenden‘ in Deutschland auf sich aufmerksam gemacht. Mit diesem Roman gelang ihm 2018 in Schweden der Durchbruch, der nun in der deutschen Übersetzung vorliegt.

Dies ist ein sehr persönliches Buch, denn der Autor schreibt hier über ein Gefühl, unter dem er zunehmend leidet und das die Beziehung zu seiner Familie vergiftet: das Gefühl der Wut.
Um der Ursache dieser Wut auf den Grund zu gehen, taucht der Autor tief in seine eigene Familiengeschichte ein und stößt auf eine tragische Liebesgeschichte, in deren Zentrum seine Großeltern und ein bekannter Schriftstellerkollege des Großvaters stehen.
Schulmans Großvater, ebenfalls eine bekannte literarische Größe, war nicht nur unter den Kollegen, sondern auch im Familienkreis wegen seiner Wutausbrüche und Scharfzüngigkeit gefürchtet.
Anhand von authentischen Tagebuchauszügen und Briefen rekonstruiert Schulman eine dramatische Liebesgeschichte, die die Stimmung in der Familie über Generationen nachhaltig beeinflussen wird.

Wow, was für ein Buch!
Mir hatte ja schon ‚Die Überlebenden‘ gut gefallen, von daher hatte ich auch hier mit einem guten Buch gerechnet, aber nicht damit. Zumindest nicht bei dieser Thematik.
Denn dieses Buch ist spannender als mancher Krimi und von einer ganz besonderen Intensität. Der Autor baut die Geschichte ganz langsam auf, ausgehend von seiner eigenen Verzweiflung an sich selbst. Die Passagen der Gegenwart wechseln sich mit den Erinnerungen des Autors an seine Großeltern und den Briefen und Tagebucheinträgen ab. Dabei dringt der Autor immer mehr zu den damaligen Ereignissen vor und das hat durchaus eine detektivische Komponente, die mich völlig in den Bann gezogen hat. Ich hab das Buch mehr oder weniger in einem Zug durchgelesen.

Sehr vieles ist mir dabei durch den Kopf gegangen. Ich war beeindruckt von der Grundmotivation des Autors, der eigenen Betroffenheit. Traurig über das Schicksal der Großmutter, empört über das Verhalten des Großvaters und sehr, sehr berührt von der Tragik dieser Liebesgeschichte.

Das Wissen, dass der Roman auf wahren Begebenheit beruht, macht diese Geschichte noch intensiver. Ein Buch, dass ich aus vollem Herzen empfehlen kann.

Bewertung: 4.5 von 5.

Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe. München: dtv, 2022 (Schwedische Originalausgabe 2018)

Fatma Aydemir: Dschinns



Als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, hat Hüseyin nur einen Traum: einmal mit der Familie zurückzukehren, in eine Eigentumswohnung in Istanbul. Und nach dreißig Jahren scheint sich dieser Traum zu erfüllen. Doch am Tag des Einzugs stirbt er völlig unerwartet.
Zur Beerdigung reisen seine mittlerweile erwachsenen Kinder an, sowie seine Frau Emine. Und jeder von ihnen hat seine ganz eigene Geschichte im Gepäck…

Bereits der Anfang dieser Geschichte hat mir die Tränen in die Augen getrieben, denn es ist so unfassbar tragisch. So viele Jahre arbeitet der Familienvater hart für seinen Traum und dann zerplatzt er in dem Moment, wo er endlich am Ziel angekommen ist.
Doch auch die ganz unterschiedlichen Lebenswege seiner vier Kinder und seiner Frau haben mich sehr berührt. Jedes Familienmitglied bekommt in einem Kapitel seine eigene Bühne und Raum für seine ganz persönliche Geschichte. Jede ist dabei sehr individuell und besonders.
Daran hat es teilweise Kritik gegeben. Es wurde in einigen Rezensionen bemängelt, dass hier zu viel Ungewöhnliches, zu viel Konfliktpotential in einer Familie zusammengefasst wurde. Wahrscheinlich ist es in der Form auch nicht die durchschnittliche türkische Familie. Aber für mich ist es genau richtig so, denn die Thematik bekommt dadurch einen ganz speziellen Fokus.
Der Roman beleuchtet in sehr eindrücklicher Weise, was passieren kann, wenn man bei der Verwirklichung seiner Träume nicht mit den ganz anderen Lebenswelten und Bedürfnissen seiner Kinder rechnet. Und mit denen seiner Frau.
Natürlich kennt man diese Geschichten über Gastarbeiterfamilien, die Konflikte der nächsten Generation. Aber durch dieses Buch beginnt man auch im Herzen zu verstehen, was das bedeutet. Mir ist diese Geschichte sehr nahe gegangen und hat einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.

Über das Ende kann man geteilter Meinung sein. Für einige ist es übers Ziel hinausgeschossen und dieser Gedanke kam mir auch. Aber letztlich schließt sich hier der Kreis und führt wieder an den Anfang zurück. Und unter dem Blickwinkel ist es sogar ausgesprochen stimmig. Ein großartiges Buch und mein persönlicher Siegertitel.

Bewertung: 4.5 von 5.

Fatma Aydemir: Dschinns. München: Hanser Verlag, 2022

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter

Das Gewicht der Mutter ist das dominierde Thema in Elas Kindheit, der Erzählerin dieser Geschichte. Genauer, ihr Übergewicht – Ursache allen Übels, das dem Vater wiederfährt. Der fehlenden Anerkennung im Beruf und Kollegenkreis, dem zu geringen Ansehen innerhalb der Dorfgemeinschaft.
Die Vielgescholtene quält sich durch diverse Diäten und stemmt nebenher nicht nur Beruf, Familie und Weiterbildung, sondern auch die Pflege der dementen Mutter und die Sorge für ein Pflegekind. Doch die verdiente Anerkennung bleibt aus.

Ein wahres Feuerwerk an Gefühlen hat dieses Buch bei mir ausgelöst. Mir hat es ausgesprochen Spaß gemacht, in diesen Mikrokosmos der 80er Jahre einzutauchen. An vieles konnte ich mich noch aus meiner Kindheit erinnern. Bestimmte Fernsehsendungen oder Süßigkeiten, Radiohits, die plötzlich aufkommende Tenniseuphorie nach dem Sieg von Boris Becker. Da kommen nostalgische Gefühle hoch. Allerdings kommt auch gleich der bittere Nachgeschmack hinterher angesichts der trügerischen bürgerlichen Familienfassade. Wichtig ist der Blick der anderen, was andere über einen denken könnten. Und auch, wenn ich nicht auf dem Dorf, sondern in der Großstadt aufgewachsen bin, kommt mir das ebenfalls sehr bekannt vor.

Das viel stärkere Gefühl, das beim Lesen hochkam, war jedoch das der Wut. Vor allem, weil der ständig kritisierende Vater selbst so wenig auf die Reihe kriegt. Die wesentlichen Arbeiten erledigt seine Frau, die spätestens nach ihrer Erbschaft auch den Wohlstand der Familie sichert. Geld, das ihr Mann gerne und mit vollen Händen ausgibt. Trotzdem ist alles, was sie tut, nie richtig, nie genug.

Aber ebenso wie das Verhalten des Vaters hat mich das der Mutter aufgeregt. Es hat bei mir fast körperliche Schmerzen verursacht, dass sie sich das alles hat gefallen lassen und ihn nicht direkt verlassen hat.

Sicher ist es Teil des traditionellen Frauenbildes, aber auch schön immer haben sich Frauen dagegen zur Wehr gesetzt und das hätte ich mir so gewünscht. Ihre Tochter hat ihr genau diese Frage gestellt. Sie wäre zu schwach gewesen, sagt sie daraufhin. Und das ist für mich das Tragische an diesem Buch. Dass sie alle Möglichkeiten gehabt hätte und doch so wenig davon für sich selbst genutzt hat. Gerne hätte ich noch mehr von der Mutter selbst erfahren, ihre Sicht der Dinge. Es wird viel über sie geredet, aber ihre eigene Stimme hört man nicht. Aber vielleicht ist es im Rahmen des Buches auch einfach nur konsequent.

Bewertung: 4 von 5.

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2022

Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins



Ksenia ist Russin, sie ist Deutsche, sie ist Jüdin, sie ist unter Zeugen Jehovas aufgewachsen, sie ist eine junge Frau, Mutter, Schriftstellerin und Wissenschaftlerin – das alles ist sie und gleichzeitig nichts davon.

Schon der erste Satz des Klappentextes umreißt ziemlich genau, worum es in diesem Romandebüt geht – um die Suche nach der eigenen Identität. Dabei fließt Vergangenes und Gegenwärtiges ineinander, fällt der Blick auf Familienmitglieder und Freunde, aber auch Fremdes, dessen Verbindung lediglich in ähnlichen Wurzeln besteht.
Daher besteht der Text nicht nur aus Erinnerungen und Gedanken, sondern auch Rechercheergebnissen aus dem Internet zum Stichwort ‚russisch‘, aus Zitaten religiöser Schriften und Notizzetteln. Eine Collage der Selbstverortung.

Das Buch lässt mich ein wenig zwiegespalten zurück. Einiges hat mir wirklich gut gefallen, beispielsweise ihre Beschreibung, wie sie als Kind nach Deutschland gekommen ist. Das Gefühl des Fremdseins und der Sprachlosigkeit, in die man sich gut hineinfühlen kann. Persönlich haben mich die Abschnitte zum Einfluss der Zeugen Jehovas auf ihre Familie und ihre Erziehung besonders gefesselt, da meine beste Freundin aus Kindertagen einer ähnlichen religiösen Gruppierung angehörte. Da kam mir vieles sehr bekannt vor.

Trotzdem konnte mich das Buch nicht so richtig in seinen Bann ziehen. Vielleicht lag es an der fragmentierten Erzählform, vielleicht an dem (für meinen Geschmack) doch zu distanzierten Blickwinkel. Der Begriff ’sezierend‘ auf dem Klappentext trifft das ganz gut.

Dafür ist es aber ganz eindeutig von allen nominierten Büchern das mit dem schönsten Cover!

Bewertung: 3 von 5.

Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins. Erlangen: Homunculus Verlag, 2022

Esther Kinsky: Rombo

Rombo ist die Bezeichnung für das Geräusch, das einem Erdbeben vorangeht – ein dumpfes Grollen tief unter der Erde. Es steht für den Gegenstand dieses Romans – die Erdbeben von 1976 in Norditalien, die zahlreiche Städte im Friaul schwer zerstört und knapp tausend Menschen das Leben gekostet haben. Sieben Bewohner*innen eines abgelegenen Bergdorfes berichten von den Spuren, die dieses Ereignis in ihrem Leben hinterlassen hat.

Ich kann mich nicht erinnern, dass mich ein Roman schon mal auf so ungewöhnliche Art berührt hat. Denn hier geht es nicht um individuelle Lebensschicksale oder um einen dramatischen Handlungsverlauf, der einen emotional mitnimmt.
Dieses Buch kommt ohne großes Getöse aus und im Gegenteil, sehr leise daher. Das mag auf den einen oder anderen vielleicht etwas handlungsarm wirken. Ebenso wie die Zeichnung der Charaktere, über die man vergleichsweise wenig erfährt.
Das könnte darüber hinwegtäuschen, dass in diesem Buch wahrhafte Schätze verborgen sind.

Für mich war diese Geschichte wie ein ruhiger Spaziergang, an dem es hinter jeder Ecke etwas Neues zu entdecken gibt. Beim Lesen habe ich mich sehr entschleunigt gefühlt, das hatte schon etwas Meditatives. In jedem Kapitel lenkt die Autorin den Blick der Leser*innen in eine bestimmte Richtung und lässt einen dort verweilen. Und je genauer man dann hinschaut, desto mehr tut sich einem auf.
Dieses Buch ist ein Zusammenspiel von Naturbeschreibungen, wissenschaftlichen und historischen Abhandlungen, Märchen und Mythen, gepaart mit den Berichten der Überlebenden. Dabei wechselt nicht nur der Focus, sondern auch die Erzählebenen, was auf mich aber dennoch sehr harmonisch gewirkt hat.
Dass dies trotz der bruchstückhaften Erzählweise gelingt, liegt im Wesentlichen an der sprachlichen Leistung der Autorin und der besonderen Komposition dieses Romans. Schriftstellerisch auf ganz hohem Niveau und zu Recht für den Buchpreis nominiert.

Dieses Buch war für mich ein absoluter Gewinn, da es einen förmlich erdet. Es lässt einen auf eine Art demütig werden angesichts den Gewalten der Natur und verweist den Menschen auf seinen Platz. Und das ist angesichts der aktuellen klimatischen Entwicklung vielleicht wichtiger denn je.

Bewertung: 4.5 von 5.

Esther Kinsky: Rombo. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2022