Kristine Bilkau: Nebenan

Sie wohnen Tür an Tür und kennen sich, zum Teil schon seit Jahrzehnten. In diesem kleinen Dorf am Nord-Ostsee-Kanal. Man kennt sich und doch ist man sich fremd. Zieht man sich nur allzu schnell ins Private zurück und wahrt seine kleinen Geheimnisse. Was einem spätestens dann bewusst wird, wenn plötzlich eine komplette Familie aus der Nachbarschaft spurlos verschwindet…

Klingt nach meinem Geschmack erstmal ganz vielversprechend und nach den vielen positiven Rezensionen war ich sehr zuversichtlich, dass mir dieses Buch gefallen könnte.
Tatsächlich werden hier auch einige interessante Aspekte angeschnitten: Unerfüllter Kinderwunsch, Großstadtflucht, beginnende Demenz, enttäuschte Freundschaften oder problematische Eltern-Kind-Beziehungen. Aber angeschnitten trifft es hier ganz gut. Keins dieser Themen ging wirklich in die Tiefe. Sie blieben für mich jeweils im Raum stehen, ohne einen großen Nachhall zu hinterlassen. Auch die Charaktere wirkten auf mich relativ blass. Ich konnte mich bei keinem so richtig einfinden.
Das rätselhafte Verschwinden der Familie hat zwar durchaus seinen Reiz, nur leider verpufft die Thematik am Ende.


Das titelgebende Leben nebeneinander her ist zwar gut eingefangen worden und ist auf jeden Fall positiv hervorzuheben. Darüber hinaus konnte mir dieses Buch aber weder besondere Erkenntnisse noch Emotionen entlocken. Und das ist mir für einen Buchpreis dann doch zu wenig. Da hatte ich mir doch deutlich mehr versprochen.

Bewertung: 2.5 von 5.

Kristine Bilkau: Nebenan. München: Luchterhand Literaturverlag, 2022

Fernando Aramburu: Die Mauersegler

Toni lebt als Gymnasiallehrer in Madrid und ist mit seinem Leben maximal unzufrieden. Der Job ödet ihn an, ebenso, wie die Menschen, die ihn umgeben. Mittlerweile von seiner Frau getrennt und im Dauerzwist mit seinem Bruder, lebt er zurückgezogen mit seinem Hund Pepa in einer kleinen Wohnung. Kontakt hat er lediglich zu seinem Freund Humpel, wenn man von sporadischen Begegnungen mit seinem Sohn absieht, den er ziemlich missraten findet.
Dieses Lebens überdrüssig beschließt er, seinem Leben in genau 365 Tagen ein Ende zu setzen, beginnend mit dem 31. Juli. In 365 Kapiteln schreibt er über sein bisheriges Leben und die Tage, die ihm noch bleiben.

Klingt nach einem Buch, nachdem man sich am liebsten gleich selbst erschießen möchte und tatsächlich, besonders lebensbejahend ist es auf den ersten Blick nicht. Wäre da nicht dieser herrlich skurrile Ich-Erzähler, der seine eigenen Pläne ad absurdum führt.
Und so hat dieses Buch trotz der Thematik auch nicht den erwartbaren depressiven Unterton, sondern ist ganz im Gegenteil ausgesprochen komisch – zumindest für meinen Geschmack.

Es gibt ja immer wieder diese Bücher, bei denen man beim Lesen die Hälfte der Zeit blöde vor sich hingrinst und zwischendurch immer wieder laut lachen muss und das gehört für mich definitiv dazu.
Das liegt im Wesentlichen an der Figur des Erzählers selbst, der seine gesamte Umgebung und auch sich selbst mit seinen zynischen, schwarzhumorigen Betrachtungen überzieht.
Und das ist so voller Sprachwitz, dass es für mich eine absolute Freude war, dieses Buch zu lesen.

Obwohl Toni alles andere als ein pflegeleichter Zeitgenosse und Menschenfreund ist, habe ich ihn irgendwie ins Herz geschlossen – vielleicht gerade wegen seiner sperrigen Art. Und weil er mit Selbstkritik nicht spart – immerhin gehen seine spöttischen Bemerkungen auch häufig an die eigene Adresse und schaffen so auch eine Distanz zu manch gewöhnungsbedürftigen Sichtweisen. Gleiches gilt für seine ebenfalls nicht ganz einfachen Freunde Humpel und Agueda, die später zu dem Männerduo dazustößt.

In Gesprächen über das Buch wurde teilweise Kritik an der sprunghaften Erzählweise geäußert. Tatsächlich springen die einzelnen, kurz gehaltenen Kapitel zwischen Zeiten und Ereignissen hin und her, was in der Geschichte begründet ist. Toni schreibt am Abend die Gedanken nieder, die ihm in den Sinn kommen und die sind nicht chronologisch geordnet. Es gibt Bücher, bei denen mich so etwas auch wahnsinnig macht. Hier stört es mich gar nicht, ich finde es im Gegenteil sehr passend und macht das Ganze deutlich dynamischer als eine chronologischer Erzählung.

Allerdings muss man sagen, dass hier ein paar Seiten weniger nicht geschadet hätten. Das Wesentliche hätte man wahrscheinlich auch auf 500 Seiten gut untergebracht, ohne dass es der Geschichte oder dem Erzählfluss geschadet hätte.

Trotzdem eine ganz klare Leseempfehlung von meiner Seite!

Bewertung: 4.5 von 5.

Fernando Aramburu: Die Mauersegler. Hamburg: Rowohlt Verlag, 2022

Juli Zeh: Über Menschen

Frühjahr 2020: Der Lockdown hat Deutschland fest im Griff. Dora, zunehmend unzufrieden mit dem Leben in der Großstadt und ihrem Freund, der sich zum ausgeprägten Klimaaktivisten entwickelt. Kurzentschlossen kauft sie ein Haus im brandenburgischen Bracken. Doch die erhoffte Dorfidylle stellt sich nicht ein. Das Haus renovierungsbedürftig, der Garten verwildert und ein Nachbar, der sich als Nazi entpuppt…

Ich mochte Unterleuten, ebenfalls ein Roman mit dörflichem Mikrokosmos, ausgesprochen gerne. Ähnliches hatte ich mir auch hier versprochen.
Nur leider konnte ich mich mit dieser Neuauflage des Dorflebens gar nicht anfreunden.
Vielleicht war es kein guter Auftakt, neben den täglichen Corona-Nachrichten jetzt auch noch in Buchform darüber zu lesen. Da will man eigentlich direkt wieder zuklappen. Nun hätte einen der Rest der Geschichte über dieses leidige Thema hinwegtrösten können. Nur leider fand ich sie nur mäßig interessant und inhaltlich nicht ganz unproblematisch. Klar möchte die Autorin mit der Figur des Dorfnazis ein Statement gegen platte Schwarzweiß-Malerei setzen und dagegen ist ja erstmal nichts einzuwenden. Nur empfinde ich Dora in ihrer Haltung als zu blass und zaghaft, um hier ein überzeugendes Gegengewicht zu bilden. Leider wurde bei der Figur des Grote auch nicht mit Kitsch gespart, denn er leidet nicht nur unter einer schweren Krankheit, sondern ist auch noch Vater einer herzallerliebsten Tochter, die bei Dora direkt verschüttete Muttergefühle weckt. Puhhh, das war eindeutig zu viel des Guten.
Statt Verständnis und Mitgefühl hat dieses Figurenensemble bei mir eher genervtes Kopfschütteln ausgelöst, das war für mich einfach drüber. Sehr schade.

Bewertung: 2 von 5.

Juli Zeh: Über Menschen. München: Luchterhand Verlag, 2021

Isabel Allende: Fortunas Tochter


Valparaiso, Mitte des 19.Jh.: Eliza wächst als chilenisches Findelkind in einer wohlhabenden englischen Familie auf. Es ist ein harmonisches und unbeschwertes Familienleben, bis sich die heranwachsende Eliza unsterblich in einen Angestellten der Familie verliebt. Als er sich den Goldsuchern anschließt und nach Amerika auswandert, beschließt Eliza, ihm zu folgen und den Geliebten zu suchen. Sie reißt von zu Hause aus und schmuggelt sich als blinder Passagier auf ein Segelschiff, das sie nach San Francisco bringt…

Verliebte Frau sucht ihren Geliebten ist als Motiv sicher nicht neu und häufig auch nicht frei von Kitsch. Und wenn man gar nichts mit Liebesgeschichten anfangen kann, könnte dieses Buch vielleicht auch nicht das richtige sein, wenn nicht… Isabel Allende sie geschrieben hätte.
Schon beim ‚Geisterhaus‘ habe ich mich gefragt, warum ich nicht schon viel mehr von dieser großartigen Schriftstellerin gelesen habe. Denn sie hat eine ganz wundervolle Art zu erzählen und das findet man auch hier wieder. Eine sehr bildhafte Sprache, mit viel Liebe zum Detail und zu den Figuren, die vor einem quasi lebendig werden. Viele von ihnen schließt man spontan ins Herz, aber auch die Unsympathen sieht man direkt vor sich, fühlt und leidet mit.
Und was Allende noch kann, Geschichte einfangen. Ihres eigenen Landes oder wie hier, die Geschichte amerikanischer Einwanderer. Die Goldsucher-Bewegung war für mich relativ neu und daher umso interessanter, darüber etwas zu erfahren. Und das umso mehr, wenn man weiß, dass die Autorin dabei genau recherchiert und reale Ereignisse mit ein geflochten hat.

Auch wenn dieses Buch für mich nicht die gleiche Kraft hatte wie das Geisterhaus, war es für mich eine große Freude, dieses Buch zu lesen.

Mein Fazit: Unbedingt mehr Allende lesen!

Bewertung: 4.5 von 5.

Isabel Allende: Fortunas Tochter. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1999

Rumaan Alam: Inmitten der Nacht

Amanda und Clay haben sich ihren Familienurlaub einiges kosten lassen. Ein luxuriöses Ferienhaus auf Long Island fernab der Großstadt, in dem sie gemeinsam mit ihren halbwüchsigen Kindern die nächsten Wochen verbringen wollen.
Doch schon kurz nach der Ankunft wird die entspannte Ferienstimmung empfindlich gestört. Mitten in der Nacht klopft es plötzlich an der Tür. Ein älteres Paar steht vor der Tür und behauptet, dies sei ihr Haus. Und sie müssten dort dringend unterkommen, denn an der Ostküste bahne sich eine Katastrophe an und ganz New York liege bereits im Dunkeln…

Dieses Ausgangsszenarion war für mich so reizvoll, dass ich es unbedingt lesen wollte und der Start ins Buch war sehr vielversprechend. Der Autor spielt zu Beginn sehr geschickt mit der Unsicherheit der einzelnen Familienmitglieder. Kann man den alten Leuten trauen oder handelt es sich um Betrüger? Oder gar Schlimmeres? Das hat auf jeden Fall Gruselfaktor und war für mich ausgesprochen reizvoll. Davon hätte ich gerne mehr gehabt.
Nur leider kippt die Geschichte nach dem ersten Drittel und entwickelt sich in eine ganz andere Richtung. Für mich ein klassischer Fall von to much information, sowohl was das Ehepaar als auch die mysteriösen Geschehnisse an der Ostküste betreffen. Das entzaubert das Szenario leider komplett. Ich hätte es deutlich besser gefunden, wenn die Dinge über einen längeren Zeitraum in der Schwebe geblieben wäre. So verpufft der Reiz der Geschichte.
Der weitere Fortgang ist für mich ausgesprochen fad, im Wesentlichen schaut man den unfreiwillig zusammengewürfelten Bewohner:innen des Ferienhauses beim Zusammenleben zu. Sozusagen Big Brother in Buchform.
Im letzten Drittel kommt dann doch noch ein bisschen Dynamik rein, was die Spannungsschraube wieder anzieht. Nur leider mit so einem unrealistischen Detail, dass ich mich ernsthaft gefragt habe. Hat der Autor wirklich so schlampig recherchiert? Da wusste ich ja nach fünf Minuten Googlesuche besser Bescheid. Oder er hat es bewusst für die Effektquote eingebaut – in der Hoffnung, dass keiner den Fehler bemerkt. Beides gar nicht gut.

Auch das Ende war für mich eher einfallslos. Da hätte man mit einem originellen oder kraftvollen Schlusspunkt vielleicht noch einiges raushauen können. So verpufft es leider wie so vieles in diesem Buch. Schade, die Geschichte hatte so vielversprechend begonnen und aus der Idee hätte man viel machen können.

Bewertung: 2.5 von 5.

Rumaan Alam: Inmitten der Nacht. München: btb Verlag, 2021

Aharon Appelfeld: Sommernächte



Als ich gelesen habe, worum es in diesem Roman geht, führte mich mein Weg direkt in den nächsten Buchladen. Und dann auch noch mit einem so schönen Cover…

Kurz vor seiner Deportation gibt der jüdische Kaufmann seinen Sohn Michael in die Obhut eines Familienfreundes. Der alte Sergej, inzwischen erblindet, zieht als Landstreicher durch die ukrainischen Wälder und nimmt sich des Kindes an, der fortan Janek genannt wird. Der Junge ersetzt ihm das Augenlicht, während der alte Soldat ihm alles lehrt, was man zum Überleben in der Wildnis braucht.

Eine sehr bewegende Geschichte, vor allem, wenn man bedenkt, dass der Autor hier seine eigenen Kindheitserlebnisse verarbeitet hat. Das Zusammenspiel zwischen dem Kind und dem alten Mann hat etwas sehr anrührendes. Ebenso wie einem die Grundsituation ans Herz geht: wie ein Kind plötzlich aus seinem wohlbehüteten Zuhause gerissen wird und von einem Tag auf den anderen vogelfrei wird. Ich hätte diese Geschichte so gerne geliebt…

Nur leider hat mir die Umsetzung gar nicht gefallen. Rein schriftstellerisch finde ich es sehr schwach. Nach den ersten 50 Seiten gibt es inhaltlich so gut wie keine Entwicklung mehr. Man fühlt sich förmlich wie in einer Murmeltier-Zeitschleife gefangen. Zum Ende kommt zwar noch eine abschließende Variante dazu, die sich von der Dynamik aber leider der flachen Erzählkurve angleicht.
Obwohl die Geschichte viele emotionale Momente hat, wurden sie erzählerisch nicht aufgegriffen. Stattdessen verliert sich das Buch in einer Art Dauerpredigt. Auf fast jeder Seite begegnen einem religiöse Weisheiten, in stetem Wechsel mit wegweisenden Träumen, die Janek jede Nacht heimsuchen. Das hat mich schwer an meine alte Kinderbibel erinnert. Und für religiöse Leser*innen mag das auch eine positive Wirkung haben, aber auf mich wirkte es auf die Dauer regelrecht nervtötend. Nun mag der Glaube im Leben des Autors eine überlebenswichtige Rolle gespielt haben und das ist auch absolut in Ordnung so.

Aber das zum inhaltlichen Mittelpunkt eines Romans zu machen, finde ich problematisch. Für mich wirkte das eher wie eine religiöse Schrift und hat das eigentliche Thema überlagert. Auch wenn der Glaube in der damaligen Situation eine wichtige Rolle gespielt hat. Das hätte man deutlich dezenter einflechten können. Stattdessen hätte ich mir einen tieferen Einblick in die Personen gewünscht, da blieb vieles an der Oberfläche. Auch sprachlich hat mich das Buch nicht überzeugt. Viele Dialoge wirkten steif und ungelenk, die Sprache wenig ausgefeilt. Möglicherweise liegt das auch an der Übersetzung. Insgesamt sehr, sehr schade.

Bewertung: 2 von 5.

Aharon Appelfeld: Sommernächte. Berlin: Rowohlt Verlag, 2022

Patrícia Melo: Gestapelte Frauen

Eine junge Anwältin begibt sich in die Amazonasprovinz Acre, um an Gerichtsverhandlungen zu verschiedenen Frauenmorden teilzunehmen. Besonders betroffen macht sie der grausame Tod einer erst 14jährigen Indigenen, die von drei Männern gefoltert, vergewaltigt und umgebracht wurde. Das Trio, Studenten aus gutem Hause und mit entsprechenden gesellschaftlichen Verbindungen, werden frei gesprochen.
Die Anwältin und ihre Kolleginnen können dieses Unrecht nicht akzeptieren und begeben sich dabei selbst in tötliche Gefahr…

Ein Buch wie ein Blitzeinschlag, das mich wirklich sehr mitgenommen hat. Denn auch wenn es sich um eine fiktive Geschichte handelt, hat sie ihre zahlreichen Entsprechungen in der Realität. Um das zu untermauern, setzt die Autorin reale Ereignisse und Zeitungsmeldungen an den Beginn ihrer Kapitel.
Aber in ihrem Buch geht es nicht nur um diese Extreme, sondern um Gewalt gegen Frauen als solches. In einem Interview sagt die Autorin:
„Wenn eine Frau von einem Mann ermordet wird, ist das nur die Spitze des Eisbergs. Dahinter liegt eine lange Geschichte des Missbrauchs. Ich muss sagen, dass mich noch nie eine Recherche für ein Buch so sehr mitgenommen hat. Ich habe mit Anwälten gesprochen, mit Sozialarbeitern, mit Überlebenden, habe an vielen Prozessen teilgenommen – und die Geschichten sind immer dieselben. Bevor die Frauen ermordet wurden, wurden sie bedroht, geschlagen, erniedrigt, vergewaltigt. Der Mord ist nur das letzte Kapitel.“

Dieses Buch ist eine schonungslose Anklage in einer zum Teil sehr derben Sprache und in seiner Direktheit auch nichts für zartbesaitete Gemüter. Aber vielleicht braucht es für dieses Thema auch genau diese Form von Hammerschlag, um dafür zu sensibilisieren.
Natürlich muss man immer aufpassen, hier nicht zu verallgemeinern und in diesem Kontext war mir das Ende schon fast zu viel des Guten. Denn natürlich gibt es auch andere Männer.
Ähnliches gilt für die Abschnitte zu den Amazonen, die der Anwältin immer wieder in Träumen oder drogenbedingten Visionen erscheinen. Diese sind ebenso blutrünstig wie die Taten, die hier in diesem Buch angeprangert werden. Da hätte ich mir einen positiveren Gegenentwurf gewünscht.

Trotz dieser Kritikpunkte ein wichtiges Buch über ein Thema, das jede erdenkliche Aufmerksamkeit verdient.

Bewertung: 4 von 5.

Patrícia Melo: Gestapelte Frauen. Zürich: Unionsverlag, 2019

Hannah Lühmann: Auszeit

Die Freundinnen Paula und Henriette ziehen sich in ein abgelegenes Ferienhaus im Wald zurück, nachdem Henriette an einem Tiefpunkt in ihrem Leben angekommen ist. Mit Mitte dreißig hat sie das Gefühl, noch nichts im Leben erreicht zu haben. Weder eine Familie noch eine Karriere hat sie vorzuweisen, dafür jede Menge Selbstzweifel, flüchtige Beziehungen und eine angefangene Dissertation, bei der sie nicht weiterkommt. Dann wird sie ungewollt schwanger…

Mhhh, was soll ich sagen…ich glaube, falsches Buch zur falschen Zeit trifft es vielleicht am ehesten. So zu Beginn des Studiums, wo man selbst noch einigermaßen orientierungslos durch die Welt irrt, hätte es mir wahrscheinlich besser gefallen. Heute kann ich mit dieser Form von Nabelschau nicht mehr so viel anfangen. Was nicht heißt, dass mir Geschichten von seelischen Innenansichten grundsätzlich nicht gefallen. Zum Teil sogar sehr. Aber diese hatte für mich einen ziemlich pubertären Beigeschmack, gepaart mit einer großen Portion Selbstmitleid.
Dazu kommt, dass mir eigentlich beide Frauenfiguren nicht sonderlich sympathisch waren, was den Zugang zusätzlich erschwert. Weder bei der von Selbstzweifeln geplagten Henriette noch der verständnisvollen Powerfrau an ihrer Seite konnte ich innerlich andocken. Vor allem die Ich-Erzählerin Henriette ging mir im Verlauf des Buches zunehmend auf den Geist, was durch das überraschende Ende noch getoppt wurde. Kopfschütteln XXL… was in Bezug auf das Ende übrigens auf beide Protagonistinnen zutrifft.
Aber mein Kopfschütteln ist bei anderen vermutlich ein begeistertes Nicken, denn gerade in einer vergleichbaren Lebenssituation kann das eine durchaus interessante Lektüre sein. Nur leider nicht für mich.

Bewertung: 2.5 von 5.

Hannah Lühmann: Auszeit. München: Hanser Verlag 2021

Dave Eggers: Every

Es ist die Fortsetzung des Circle, in dem sich der Anbieter der größten Suchmaschine der Welt mit dem erfolgreichsten Onlineanbieter zusammengetan und ein System absoluter sozialer Kontrolle entwickelt hat. Die neue Mitarbeiterin Delany ist angetreten, das System von innen zu zerschlagen…

Klingt gut und ist es auch im ersten Drittel. Man begleitet Delany auf ihrem Weg in das Imperium, ist mit ihr entsetzt und lernt ihre Sabotagepläne kennen. Wir haben viel diskutiert in diesem ersten Teil über die Parallelen zur Realität und dem eigenen Umgang mit Social Media und das hat wieder mal zum Nachdenken angeregt. Das hat mir sehr gut gefallen und entsprechend motiviert war ich, das Buch weiterzulesen.

Aaaaber… und jetzt komme ich leider nicht ohne Spoiler aus, also ggf hier erstmal abbrechen… wer nun ein Feuerwerk des Widerstands à la Tribute von Panem erwartet (so wie ich zum Beispiel), der wird schwer enttäuscht. Delany und ihr Kampfgefährte verlegen sich darauf, Ideen für Apps zu entwickeln, die die Verletzung der Persönlichkeitsrechte und die soziale Kontrolle auf die Spitze treiben – in der Hoffnung, dass die Menschheit rebelliert und Every entmachtet wird. Blöderweise finden die Leute ihre Ideen ziemlich gut und die beiden schustern munter an der Perfektionierung eines Systems, das sie eigentlich bekämpfen wollten.
Nun kann sich ja jeder mal verkalkulieren und dann muss Plan B her. Selbst höher entwickelte Tiere ändern nach wiederholten erfolglosen Versuchen ihre Strategie.

Nicht aber Delany und ihr Kampfgenosse, die entwickeln auch noch die zwanzigste App… wie dumm kann man sein… Da kann dann auch das etwas aktionreichere und überraschende Ende nichts mehr ausrichten. Leider, leider wurde hier ganz viel Potential zu einer wirklich guten Fortsetzung verschenkt. Stattdessen gab es die Appentwickler-Variante von ‚Täglich grüßt das Murmeltier‘. Für mich leider enttäuschend, nachdem mich der Circle so begeistert hat. Schade, der Anfang war so gut…

Bewertung: 3.5 von 5.

Dave Eggers: Every. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2021

Emma Donoghue: Raum

Spätestens seit Natascha Kampusch weiß man, dass es sowas tatsächlich gibt: Mädchen oder junge Frauen, die entführt und jahrelang in Isolation gehalten werden. Einige gebären unter diesen Umständen sogar ein Kind, das ebenfalls abgeschottet von der Außenwelt heranwächst. Von einem Fall wie diesem erzählt diese Geschichte.

Das Besondere an diesem Buch ist, dass es aus der Perspektive des Kindes verfasst ist. Man bekommt dadurch einen Einblick in die Wahrnehmung und Gedankenwelt eines Kindes, dass die reale Welt außerhalb des Raumes, in dem es seine ersten Lebensjahre verfasst hat, nicht kennt. Das gilt auch für andere Menschen, die er (mit Ausnahme seiner Mutter und dem Entführer) bisher nur im Fernsehen gesehen hat.
Dieser Blickwinkel ist auf jeden Fall interessant und hat vielleicht auch zur großen Aufmerksamkeit beigetragen, die dieses Buch bekommen hat – immerhin ist es ein Spiegel Bestseller gewesen.

Allerdings konnte ich mich der großen Begeisterung nicht so ganz anschließen, weil das Buch für meinen Geschmack jede Menge handwerklicher Fehler hat. Darauf kann ich allerdings nicht näher eingehen, ohne zu spoilern, daher… alle, die das Buch noch lesen wollen, bitte an der Stelle abbrechen…

Ich fand das Buch vom Aufbau her nicht gut umgesetzt. Der erste Teil ist wie ein Thriller angelegt und dreht sich um den Versuch, den Entführer zu überlisten und zu fliehen. Die Flucht selbst ist hochdramatisch, bricht aber an der spannendsten Stelle abrupt ab, um auf wenigen Seiten fast wie beiläufig zu erzählen, dass der Entführer geschnappt wurde. Das passiert auch noch an einer Stelle des Buches, wo sich viel Spannung aufgebaut hatte und man dachte, jetzt geht’s erst richtig los. Ging’s nicht…
Stattdessen handelt der zweite Teil des Buches über die Versuche von Mutter und Kind, in der Außenwelt klarzukommen, die ja gerade für das Kind völlig fremd ist. Das ist auf jeden Fall lesenswert, passt nur nicht zum Aufbau des ersten Teils.

Beide Teile haben ganz unterschiedliche Schwerpunkte und es wirkt so, als hätte die Autorin versucht, zwei Bücher mit ganz unterschiedlichem Stil in einem Buch zu schreiben. Dabei geht bei beiden Schwerpunkten eine Menge verloren. Dazu kommen jede Menge Logikfehler, allem voran die völlig inkonsistente Sprache des Kindes, das ja erst fünf Jahre ist. Um das zu verdeutlichen wurden immer wieder Grammatikfehler eingestreut, die aber wenig glaubwürdig sind, wenn der Rest der Sprache jenseits der eines Fünfjährigen ist.

Bewertung: 3 von 5.

Emma Donoghue: Raum. München: Piper Verlag, 2011 (Original 2010)