Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse


Das Marschland von North Carolina ist eine Landschaft von atemberaubender Schönheit. In den frühen 50er Jahren ist es aber auch die Heimat der Ärmsten, die ein Leben am Rande der Gesellschaft führen. In einer dieser heruntergekommenen Hütten wohnt die sechsjährige Kya mit ihrer Familie in einfachsten Verhältnissen. Als die Mutter die Schläge des ständig betrunkenen Vaters nicht mehr erträgt, verlässt sie die Familie und lässt ihre fünf Kinder allein zurück. Die drei ältesten Geschwister folgen schon bald ihrem Beispiel, nur Kya großer Bruder bleibt. Aber auch er kann das ständige Leben in Angst nicht lange ertragen und verlässt als Kyas letzter Verbündeter ebenfalls das elterliche Haus, das kleine Mädchen bleibt alleine beim tyrannischen Vater zurück. Das kleine Mädchen versucht sich mit der Situation zu arangieren und eine kurze Zeit scheint sie das Gemüt des Vaters besänftigen zu können, doch dann kehrt er nach einem Saufgelage nicht mehr nach Hause zurück und das kleine Mädchen ist fortan auf sich alleine gestellt. Es beginnt ein Kampf ums Überleben in der Wildnis, ausgegrenzt von der Gesellschaft, doch in Einklang mit der Natur. Und so wächst das kleine Mädchen zu einer schönen jungen Frau heran und weckt das Interesse der männlichen Dorfbewohner. Schon bald entwickeln sich daraus ernsthafte Schwierigkeiten…


Ich bin ja nicht immer ein Fan von ausgedehnten Naturschilderungen, aber in diesem Fall hätte ich noch weitere 100 Seiten lesen können. Man merkt an jedem Satz, dass die Autorin Zoologin ist, denn aus ihr spricht nicht nur Sachkenntnis, sondern auch Liebe zur Natur und das hat mir ausgesprochen gut gefallen. Neben all der Traurigkeit hat die Geschichte durch diese Naturverbundenheit auch etwas sehr Schönes, auf mich hat es eine ruhig-entspannte Atmosphäre ausgestrahlt, fast etwas Meditatives. Gleichzeitig kommt durch einen Todesfall, der parallel zu der Geschichte rund um das heranwachsende Mädchen untersucht wird, Spannung und Dynamik rein. Einige Kritiken beschreiben die Story als kitschig, weil darin das bekannte Motiv der schönen jungen Wilden aufgegriffen wird. Ich hab das gar nicht so empfunden, auf mich wirkte die Geschichte sehr authentisch. Auch schriftstellerisch finde ich dieses Buch gelungen. Zwei zeitlich getrennte Erzählstränge, die sich aufeinander zubewegen und eine tragische Lebensgeschichte und eine Mordermittlung miteinander verbinden, in dessen Zentrum das ‚Marschmädchen‘ Kya steht. Ich hab das Buch in einem Zug durchgelesen, was schon mal ein sicheres Zeichen ist, dass einen die Geschichte wirklich in den Bann gezogen hat. Persönlich hätte mir ein anderes Ende gewünscht, für meinen Geschmack hat das nicht so richtig gepasst, deshalb ist dieses Debüt ganz knapp an der vollen Sternezahl vorbeigeschrammt.

Bewertung: 4.5 von 5.

Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse. München: Carl Hanser Verlag, 2019

Miku Sophie Kühmel: Kintsugi


Kintsugi ist das japanische Kunsthandwerk, zerbrochenes Porzellan mit Gold zu reparieren. Und um Brüche und um die Versuche, diese Brüche zu kitten, geht es in diesem Romandebüt.
Zwei Paare und ein gemeinsames Wochenende im Ferienhaus. Dass dieses Arrangement Stoff für Dramen jeglicher Art liefert, ist sicher keine Überraschung und auch kein neues literarisches Motiv. Das hat man schon gelesen und wahrscheinlich noch öfter im Fernsehen gesehen.
Aber sicher nicht in der Konstellation. Denn bei Paar Nr. 1 handelt es sich um Max und Reik, die seit zwanzig Jahren eine homosexuelle Vorzeigebeziehung führen. Vermeintlich, wie sich bald herausstellt. Paar Nr. 2 ist Reiks Jugendliebe Tonio und seine inzwischen 18jährige Tochter Pega. Um die Beziehungen untereinander, die feinen Brüche und das Ausloten von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Möglichkeiten und Sehnsüchten handelt dieser Roman.

Für mich ist ein klassisches Beispiel für einen Roman, der mich zwiespältig zurücklässt. Das genaue Ausleuchten der Beziehungen, die leicht melancholische Sprache und das Bild der zerbrochenen Teetasse, die verschiedenste Leute zu reparieren versuchen, hat mich sehr angesprochen. Zerstört, aber kunstvoll wieder zusammengesetzt – welch ein Bild. Und ein Ausblick, denn damit endet auch dieses Buch.

Und an den Stellen, wo die Risse waren, die Splitter, die Brüche, glänzt in verästelten Linien das Gold wie Adern aus Licht.“

Mir gefällt die fein beobachtende, poetische Sprache wirklich sehr und die japanischen Kapitelüberschriften sind sensationell gut. Ein Wort, eine ganze Geschichte. Nur leider, leider blieben mir die Charaktere bis zum Ende seltsam fremd und wie auf dem Reißbrett entworfen. Ich konnte keinen wirklichen Zugang zu diesem Buch finden.

Bewertung: 3 von 5.

Miku Sophie Kühmel: Kintsugi. Frankfurt am Main: Fischer, 2019

Karen Köhler: Miroloi

Eine namenslose Insel, wie aus der Zeit gefallen. In dieser archaisch-patriarchalischen Dorfgemeinschaft herrschen eigene Traditionen und Gesetze, eine eigene Religion. Die Errungenschaften der modernen Gesellschaft finden zwar gelegentlich den Weg übers Meer, werden aber vom Ältestenrat abgelehnt, man wähnt sich im Mittelalter. Frauen haben hier keine Stimme, sie sind in erster Linie fürs Arbeiten zuständig. Lesen und Schreiben lernen ist den Männern vorbehalten. Wer aufbegehrt, kommt an den Pfahl. Von dieser Insel entkommt man nicht.

Hier erzählt uns die Außenseiterin des Dorfes ihre Geschichte. Als Findelkind vom Bethausvater, dem religiösen Oberhaupt der Gemeinde, aufgezogen, wird sie von den Dorfbewohnern geächtet, den Kindern verspottet und für Schicksalschläge jeglicher Art verantwortlich gemacht. Ohne Familie ist sie nicht in den Stammbüchern verzeichnet, hat keinerlei Rechte und noch nicht einmal einen Namen, denn dazu müsste man nach den Gesetzen des Dorfes die Eltern kennen. Sie wächst in dem Bewusstsein auf, dass niemand sich für ihr Leben interessiert und dass niemand ihr nach dem Tod ein Miroloi singen wird, das traditionelle Totenlied der griechisch-orthodoxen Kirche, dass das Leben des Verstorbenen zusammenfasst. Und so singt sie es selbst, ein Totenlied für sich selbst, in 128 Strophen.

Über ihr Leben als Ausgestoßene, aber auch über erste Schritte hinaus aus der Unmündigkeit, denn heimlich lernt sie lesen und schreiben. Und sie lernt mit dem Bethausschüler Yael die Liebe kennen, die ungeahnte Kräft freisetzt.

Als ich die Kritiken über dieses Buch gelesen habe, dachte ich einen kurzen Moment, das Buch wäre noch gar nicht zu Ende, denn interessanterweise stammten die negativsten Statements ausnahmslos von Männern. Und tatsächlich ist das ein Buch, dass man nicht nur mit dem Kopf lesen kann. Auf dieses Buch muss man sich auch gefühlsmäßig einlassen, sonst findet man keinen Zugang. Dieses Buch muss man fühlen. Und wer das tut, dem eröffnet sich eine ganze Welt.

Mich hat das Buch von der ersten bis zur letzten Seite gehabt.  Gerade die einfache, zum Teil etwas infantile Sprache, die ja vielfach kritisiert wurde, macht das Buch für mich so authentisch. So spricht ein 15jähriges Mädchen in einer geschlossenen Gesellschaft, das von jeglichem Weltwissen abgeschnitten ist. Alles andere wäre falsch gewesen.

Ich habe mit der namenlosen Erzählerin mitgelebt, mitgefühlt und mitgekämpft und es hat mich sehr, sehr berührt. Ein Buch voller Traurigkeit, aber gleichzeitig voller Mut und Würde. Es ist keine Übertreibung wenn ich sage, dass es zu den besten Büchern gehört, die ich bisher gelesen habe.

Bewertung: 5 von 5.

Karen Köhler: Miroloi. München: Hanser Verlag, 2019

Stephen King: Friedhof der Kuscheltiere


Louis Creed zieht mit seiner Frau und seinen beiden Kindern von Chicago nach Maine, in ein kleines Haus am Waldrand. Hinter ihrem Haus beginnt ein riesiges Waldgebiet, ehemaliger Stammesbesitz der Micmac-Indianer. Schon bald stellt die Familie fest, dass es im Wald hinter ihrem Haus einen Haustierfriedhof gibt, der von den Kindern des Dorfes genutzt wird, um ihre Haustiere zu beerdigen. Und Louis hört von dem Gebiet hinter dem Friedhof, hinter der Grenze, die nicht überschritten werden darf. Wer seine Toten dort begräbt, wird sie schon bald wiedersehen…

Mit den neueren Romanen von King konnte ich oft nicht so viel anfangen, aber diesen finde ich immer noch richtig gut.
King schafft es wie kaum ein anderer, einen in die Geschichte zu verwickeln und eine subtile Spannung zu erzeugen, auch wenn tatsächlich gar nicht so viel passiert. Wo andere Autoren mit viel Getöse arbeiten, kommt er mit ganz unterschwelligen Mitteln aus und selbst die zwischenzeitlichen Längen kommen einem bei ihm viel kürzer vor. Man kann von ihm halten, was man will, gruselige Geschichten erzählen kann er wie kaum ein zweiter.
Und das ist auch diese, gruselig, unheimlich und sehr spannend. Auch wenn ich so gar nicht auf Zombie, Splatter und Co stehe, hat mich dieses Buch auch beim zweiten Lesen gepackt. Für mich eines der Besten von King.

Bewertung: 4 von 5.

Stephen King: Friedhof der Kuscheltiere.

John Katzenbach: Der Patient


Am Abend seines 53. Geburtstages erhält der Psychiater Frederick Starks einen anonymen Brief, unterzeichnet mit dem Namen Rumpelstilzchen. Es ist die Einladung zu einem makaberen Spiel. 15 Tage hat er Zeit, Rumpelstilzchens wahren Namen herauszufinden. Gelingt ihm das nicht, werden seine Familienangehörigen sterben, einer nach dem anderen. Oder er gibt auf und opfert sein eigenes Leben.

Die Grundidee und die Anknüpfung an das Märchen der Gebrüder Grimm finde ich schon mal klasse. Die Geschichte ist ausgesprochen spannend und gut konstruiert. Die allmähliche Auflösung eines sicher geglaubten Lebens, in dem nichts mehr ist, wie es mal war und man niemanden mehr trauen kann, ist sehr überzeugend dargestellt und fesselt einen komplett an dieses Buch. Ich hätte jetzt gerne auch originell geschrieben, denn die Idee ist wirklich gut, nur leider kommen viele Elemente des Buches auch in dem Film ‚The Game‘ vor und das wirkt dann schon etwas abgekupfert. Nun hat der Autor die Geschichte in einen anderen Rahmen gestellt und im zweiten Teil auch etwas ganz Eigenes reingebracht, in dem das Opfer den Spieß umdreht und selbst zum Jäger wird. Und der Film ist einfach mal großartig, so dass es mich letztlich nicht so sehr gestört hat, dass Katzenbach sich hier an der einen oder anderen Stelle bedient hat. Er hat einen super Thriller draus gemacht.

Bewertung: 4.5 von 5.

John Katzenbach: Der Patient. München: Knaur Taschenbuch Verlag, 2016 (Amerikanisches Original 2012)

Ian McEwan: Nussschale

Ein klassisches Motiv: der Vater, die Mutter und ihr Liebhaber. Letztere planen einen Mord an dem im Wege stehenden Ehemann. Erzählt wird das Ganze aus der Perspektive des Sohnes. Nur ist dieser Sohn noch gar nicht geboren. Er befindet sich noch im Mutterleib und ist damit so nah dran am Geschehen, wie man nur sein kann.

So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau. Ich warte, die Arme geduldig gekreuzt, warte und frage mich, in wem ich bin und worauf ich mich eingelassen habe.
Das habe ich mich allerdings auch…


Ganz ehrlich, hätte ich vorher von der Erzählperspektive gewusst, wer weiß, ob ich das Buch gelesen hätte. Denn das klingt für mich schon aus der Entfernung betrachtet ziemlich albern. Das ist jetzt nicht so, dass ich mich nicht auch mal auf Gedankenexperimente und fantastische Geschichten einlassen würde. Es ist zugegebenermaßen auch eine originelle Idee, nur… ich konnte mit ihr so gar nichts anfange
Wenn ein ungeborenes Kind im Mutterleib über philosophische Fragen und die politische Weltlage monologisiert oder sich über die verschiedenen Weinsorten auslässt, die die wenig fürsorgliche Mutter täglich in sich hineinschüttet, kann ich nur sagen: Sorry, da bin ich raus…

Falls sich einer fragt, woher der noch nicht mal Geborene seine ganze Weisheit hat, wo noch nicht mal die Mutter die Allerhellste ist…von den Podcasts, die sie hört! Na aber sicher…
Natürlich kann McEwan auch weiterhin gut schreiben und die Story an sich ist auch nicht schlecht, hat aber in den mitunter seitenlangen Erörterungen des Ungeborenen ihre Längen und scheitert bei mir ganz klar an der Erzählperspektive.
Schade, denn ich schätze den Autor ansonsten sehr.

Bewertung: 2.5 von 5.

Ian McEwan: Nussschale. Zürich: Diogenes Verlag, 2016 (Original 2012)