Fjodor Dostojewski: Der Idiot



Fürst Myschkin reist nach einem längeren Kuraufenthalt in der Schweiz in seine Heimatstadt St. Petersburg zurück. Nach dem Tod seines Ziehvaters steht der an Epilepsie leidende Myschkin mittellos vor einer ungewissen Zukunft und sucht zunächst Unterschlupf bei einer entfernten Verwandten. In dem vornehmen Familienkreis gilt er aufgrund seiner gutmütigen Art schon bald als Idiot und wird zur Zielscheibe zahlreicher Intrigen. Zudem rückt ihn eine unerwartete Erbschaft in den Fokus zwielichtiger Gestalten…

Diesen Klassiker hab ich vor einiger Zeit als Hörbuch versucht, kam aber nicht so richtig rein in die Geschichte mit dem Fazit, dass ich es an anderer Stelle nochmal mit der Lesefassung versuche. Und das war jetzt.

Tja, und so richtig warm geworden bin ich mit ‚Der Idiot‘ immer noch nicht. Passenderweise vereinigen sich darin die zwei Seiten meiner Einstellung zu Klassikern, denn dieses Buch hat mich sehr zwiegespalten zurückgelassen.
Gerade die erste Hälfte des Romans hat mir von der Thematik und Stimmung her gut gefallen. Die Figur des Fürsten Myschkin, der in seiner naiv-gutmütigen Art von seiner Umgebung nicht ernst genommen und ausgenutzt wird, ist von Dostojewski als Prototyp des Gutmenschen sehr gut in Szene gesetzt worden. Das Besondere daran ist, dass der vermeintliche ‚Idiot‘ im Kontrast zu der völlig überdrehten großbürgerlichen Familie und den moralisch fragwürdigen Figuren ihres Umfeldes eigentlich als der einzig ‚Normale‘ erscheint. Dieser gesellschaftskritische Aspekt ist für mich die große Stärke dieses Romans.

Nur leider ist es mir hier ähnlich ergangen wie bei ‚Schuld und Sühne‘. Nach einem guten Start flacht die Geschichte in der zweiten Hälfte deutlich ab. In diesem Fall zog sich das Geschehen unnötig in die Länge, ohne dass wesentlich Neues beigesteuert wurde. Stattdessen verliert sich die Geschichte in endlosen Diskussionen und Streitereien, die zu nichts führen. Das war auf die Dauer sehr anstrengend und hat meine Lesefreude doch deutlich getrübt. Dazu muss man sagen, dass Dostojewski nicht gerade die einfachste Lektüre ist. Die Figuren haben durchgängig dreiteilige Namen, die jedoch nicht einheitlich verwendet werden. Mal wir nur der Nachname verwendet oder auch nur die ersten beiden Namen, die sich häufig auch noch stark ähneln. Also schon dabei muss man sich höllisch konzentrieren, wer überhaupt wer ist. Ohne meine Aufzeichnungen wäre ich komplett aufgeschmissen gewesen.

Bewertung: 3 von 5.

Fjodor Dostojewski: Der Idiot. Klagenfurt: Neuer Kaiser Verlag, 1986 (Original 1889)

Gabriele Tergit: Effingers

Ein Buch mit 885 Seiten ist eine Herausforderung und hat etwas Anlaufzeit gebraucht. Und um es gleich vorweg zu sagen: diesen groß angelegten Familienroman liest man am besten am Stück. Denn er enthält jede Menge verwandschaftliche Verzweigungen, bei denen man schnell den Überblick verlieren kann. Der Stammbaum am Ende des Buches ist zwar hilfreich, ersetzt aber nicht den inhaltlichen Lesefluss.

In diesem umfangreichen Roman entwickelt Tergit die Geschichte dreier jüdischer Familien, die es in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen zu Wohlstand und Ansehen bringen. Dem wechselhaften Familienleben mit seinen alltäglichen und persönlichen Dramen folgt man auf der historischen Kulisse Berlins, beginnend im Jahre 1884 mit der ersten Fabriksgründung Paul Effingers bis zum Frühling 1948, mit dem das Buch endet.
Wie man sich bei der großen und ereignisreichen Zeitspanne denken kann, entfaltet sich hier Weltgeschichte in sehr greifbarer Form. Nicht abstrakt, sondern in ihren unmittelbaren Auswirkungen auf den Einzelnen.
Das hat mir ausgesprochen gut gefallen. Sehr gut herausgearbeitet fand ich das Aufeinanderprallen der Generationen, dem Festhalten an Traditionellem auf der einen und dem Streben nach Fortschritt und Moderne auf der anderen Seite. Das spiegelt nicht nur die gesellschaftliche Entwicklung, sondern auch die relevanten Themen der Zeit wider. Ähnlich gut dargestellt ist der immer stärker anwachsende Antisemitismus, der in der Machtübernahme der Nationalsozialisten und dem Holocaust seinen Höhepunkt findet. Diese Entwicklung aus der Innenansicht einer jüdischen Familie zu betrachten, war sehr authentisch und macht dieses Buch zu einem so eindrucksvollen, wie beklemmenden Zeitzeugnis.

Inhaltlich war das Buch auf jeden Fall ein Gewinn, auch wenn es in den bürgerlichen Alltagsszenen doch deutliche Längen hatte. Da wurden zu viele Seiten mit Nebensächlichkeiten gefüllt, die zum Fortgang oder Gehalt der Geschichte wenig beigetragen haben. Der Roman wirkte dadurch leicht aufgebläht und hat bei mir die Lesefreude zwischenzeitlich etwas getrübt.

Bewertung: 3.5 von 5.

Gebriele Tergit: Effingers. München: btb Verlag, 2020 (Original 1951)

Dante Alighieri: Die göttliche Komödie

Sie gehört zu den ganz großen Werken der Weltliteratur, die Göttliche Komödie – entstanden zwischen 1307 und 1321, in gedruckter Form aber erst 1472 erschienen.
Vieles an persönlicher Auseinandersetzung ist in dieses Werk eingeflossen, denn Dante lebte aufgrund eines gegen ihn verhängten Todesurteils seit 1301 im Exil, nachdem alle seine Güter beschlagnahmt wurden.
Auf dem Hintergrund dieser Lebenskrise wundert es nicht, dass man Dante höchstselbst an der Seite Vergils auf der Wanderung durch die drei Jenseitsreiche begleitet. Dabei begegnet er nicht nur zahlreichen historischen Persönlichkeiten, politischen Widersachern und Weggefährten, die ihre jeweilige Strafe verbüßen, sondern macht auch selbst einen Prozess der Läuterung durch.
In jeweils 33 bzw. 34 Gesängen führt dieser Weg durch die sieben Kreise der Hölle (Inferno), das Fegefeuer (Purgatorio) hin zum Paradies (Paradiso).

Das war wahrlich keine einfache Kost, soviel schon mal vorab. Teilweise auch regelrecht Recherchearbeit, denn spätestens bei den zeitgenössischen Anspielungen zur florentinischen Politik ist man in der Regel raus. Leider hatte ich in meiner Ausgabe aus dem Nikol-Verlag keine Anmerkungen, obwohl ich sie optisch wunderschön finde. Geholfen hat mir beim Verständnis des doch sehr schwierigen Werkes – neben Google – die Einführung von Franziska Meier.

Gut gefallen hat mir die Bildhaftigkeit und die komplexe Anlage der Jenseitsreiche, in der antike und christliche Vorstellungen miteinander verschmelzen. Ich hatte vieles sehr bildlich vor Augen und das hat gerade auf dem Weg durch die Hölle und das Fegefeuer eine sehr apokalyptische Stimmung verbreitet. Auch die unterschiedliche Gewichtung der Sünden und ihrer entsprechenden Strafen, die zum Teil deutlich von unserem heutigen Verständnis abweicht, fand ich sehr interessant.

Beim Paradies war dann aber für mich Schluss – was hat das zu bedeuten…
Ähnlich wie Dantes Begleiter Vergil kam ich hier auch nicht rein, gedanklich gesehen. Das war mir zu theologisch mystifiziert, zu verklärend, auch wenn diese Art der Darstellung zum Gesamtentwurf passt. Aber auch die Idealisierung von Dantes Jugendliebe Beatrice, die ihn engelsgleich durch die Kreise des Himmels führt, war mir zu viel des Guten. Trotzdem bin ich froh, es gelesen zu haben, denn es liefert das nötige Hintergrundwissen für all die Verweise, die es in der Literatur immer wieder auf dieses Werk gibt. Allerdings sollte man nicht mit dem Anspruch rangehen, jedes Detail verstehen zu wollen. Dann könnte es ein ziemlich umfangreiches Projekt werden…

Bewertung: 2.5 von 5.

Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. Hamburg: Nikol Verlag, 2016 (italienisches Original 1307-1321)

Hermann Hesse: Der Steppenwolf

Das Buch beginnt mit dem Vorwort eines fiktiven Herausgebers, der von dem seltsamen Untermieter seiner Tante berichtet, mit dem er eine zeitlang Wand an Wand gewohnt hat. Dessen hinterlassene Aufzeichnungen sind wesentlicher Bestandteil des Romans.
Dass es sich bei besagtem Untermieter um eine etwas spezielle Person handelt, macht schon der Untertitel dieser Aufzeichnungen deutlich: Nur für Verrückte…
Aber es ist weniger eine Geisteskrankheit die den Protagonisten hier umtreibt, sondern die innere Verzweiflung an einer Welt, der er sich nicht zugehörig fühlt.
Dem überholten Preußentum und den bürgerlichen Wertvorstellungen kann er wenig abgewinnen und isoliert sich zunehmend von den Menschen, er wird zum Steppenwolf – einsam und verschlossen.
Doch bevor er sich das Leben nehmen kann, kommt es zu einer schicksalhaften Begegnung…

Eigentlich mag ich ja die etwas eigenwilligen Charaktere und an Hesses ‚Unterm Rad‘ habe ich noch positive Erinnerungen, auch wenn dieses Schullektüre schon lange zurückliegt.
Aber mit diesem Steppenwolf konnte ich gar nichts anfangen.
Da gibt es sicher eine Reihe kluger Gedanken, aber das war für mich eine überwiegend zähe Abhandlung mit nihilistischem Unterton, zumindest im ersten Teil des Buches. Der Grundton wird nach der Begegnung mit Hermine zwar positiver und der Ausblick ist ja durchaus erfreulich, aber den negativistischen Beigeschmack hab ich nicht wegbekommen.
Vielleicht liegt meine mangelnde Begeisterung auch daran, dass mir Harry Haller als Persönlichkeit fremd geblieben ist. Vielleicht bin ich dazu ein zu lebensbejahender und geselliger Mensch, um mich in einen Steppenwolf wirklich einfühlen zu können.

Aber das Buch wäre kein Klassiker geworden, wenn es nicht genug Leute gäbe, die das an meiner Stelle tun… Von daher nicht mein Buch, aber durchaus eins für andere Steppenwölfe!

Bewertung: 2.5 von 5.

Hermann Hesse: Der Steppenwolf. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag,1974 (Original 1927)

Isabel Allende: Das Geisterhaus

Ein höchst ungleiches Paar bildet den Eckpfeiler dieser umfangreichen Familiensaga. Da ist die sanftmütige, der Welt entrückte Clara, die mit Geistern spricht und über telepathische Fähigkeiten verfügt. Und als Gegenstück der Patriarch Esteban, ein ehrgeiziger Großgrundbesitzer, zutiefst konservativ, engstirnig und jähzornig.
Der Leser begleitet ihre Familie durch die Jahrzehnte vor dem Hintergrund der chilenischen Geschichte. Dem Aufstieg und Fall des Sozialismus und dem Militärputsch 1973, der Jahre des Terrors einläutet.

Ich hatte das Buch zum ersten Mal kurz vor dem Abitur gelesen und hatte neben vielen diffusen nur eine wesentliche Erinnerung: Dass es mir ausgesprochen gut gefallen hat.
Nun ist seitdem einige Zeit ins Land gegangen, mein abschließendes Fazit nach diesem reread ist aber nahezu identisch: ein großartiges Buch!
Ich mochte von Beginn an den bildhaften Erzählstil und die detaillierten Beschreibungen, die mich sofort in den Mikrokosmos dieser Familie versetzt haben. Wahrscheinlich hätte ich noch weitere 900 Seiten lesen können und nicht umsonst ging es allen aus unserer Leserunde so, dass sie gerne gewusst hätten, wie es mit Enkelin Alba weitergeht.
Ein Buch, dass mich nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich völlig in den Bann gezogen hat.
Das war eine literarisch eingebettete Geschichtsstunde aus erster Hand, handelt es sich doch bei Isabel Allende um eine regimekritische und politisch engagierte Journalistin und Verwandte Salvador Allendes. Auch wenn gerade die Gewaltszenen am Schluss nicht immer leicht zu verdauen waren, fand ich es wichtig, diese Einblicke in den berüchtigten Folterstaat zu bekommen.
Absolut gelungen war für mich auch die Herausarbeitung der Figuren. Jedes für sich ein Charakterporträt, das plastisch vor einem steht. Manche sind einem sehr nah, wie mir Clara; von manchen fühlt man sich zutiefst abgestoßen, wie beispielsweise vom jungen Esteban. Für mich waren die Charaktere in diesem Buch sehr greifbar und haben vieles an der Kraft erzeugt, die diese Geschichte ausmacht.

Bewertung: 5 von 5.

Isabel Allende: Das Geisterhaus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 1984 (span. Original 1982)

Jack London: Der Seewolf

Der wohlhabende Schöngeist Humprey van Weyden wird nach einem Schiffsunglück von dem Robbenschoner ‚Ghost‘ aufgenommen. Das Schiff segelt unter dem Kommando des gewalttätigen und skrupellosen Kapitäns Wolf Larsen, der die Mannschaft terrorisiert und in Angst und Schrecken hält.
Auch für van Weyden ist der Müssiggang vorbei. Er wird als Küchenjunge eingesetzt und muss lernen, sich gegenüber der rohen Gewalt an Deck zu behaupten…

Das Buch ist ja vor über hundert Jahren geschrieben worden, aber die Gedanken, die hier entwickelt werden, sind auch heute noch interessant – wenn vielleicht auch nicht mehr so aktuell wie damals im Vorfeld zweier Kriege.
Kapitän Larsen ist nämlich kein dummer Schläger, sondern ein durchaus belesener Zeitgenosse und hat sich daraus eine darwinistische Philosophie zurechtgelegt. In ihr herrscht das Recht des Stärkeren. Mitgefühl und Altruismus ist ein Luxus, den sich nur der leisten kann, der nicht um sein Überleben kämpfen muss.
Dem steht van Weyden mit seiner humanistischen Gesinnung gegenüber und im Laufe des Buches gibt es immer wieder Gespräche zwischen den beiden, in denen diese Gegensätze aufeinander prallen.
Das hat mir gut gefallen. Auch das Szenario als solches und die Beschreibung des Lebens auf hoher See war gut eingefangen. Also eine rundum solide Seefahrergeschichte mit Tiefgang.
Ein bisschen anstrengend waren für mich die zahlreichen Fachbegriffe. Die sind für die genaue Beschreibung des Lebens auf einem Schiff wohl auch nötig, aber da muss man als Mensch vom Lande schon des öfteren mal recherchieren, was hier eigentlich gemeint ist. Ganz übel und völlig unnötig war für mich das Ende. Kitsch der übelsten Sorte…
Aber wenn man das mal ausblenden, kann man in den alten Seewolf ruhig mal reinschauen…

Bewertung: 3 von 5.

Jack London: Der Seewolf (1904)

Frank Wedekind: Frühlings Erwachen

Wedekinds bekanntestes Drama, das den Untertitel ‚Eine Kindertragödie‘ trägt, handelt von den Nöten der Heranwachsenen im ausgehenden 19.Jh. und ist um die Jungen Moritz und Melchior, sowie dessen Freundin Wendla zentriert.
Während Moritz und Melchior zwischen Prüfungdruck und anderweitigem Druck aufgrund aufkeimender sexueller Regungen hin- und hergerissen werden, will nun auch Wendla endlich wissen, wo die Kinder herkommen. Ihre Mutter greift in ihrer Ratlosigkeit auf den guten alten Storch zurück. Melchior hat da schon mehr zu bieten und verfasst für seinen Freund eine selbstgeschriebene und bebilderte Aufklärungsschrift, die bei dem von Selbstzweifeln Geplagten nur noch größere Verwirrung auslöst.
Als Melchior und Wendla sich näher kommen und Moritz für sich den Freitod wählt, nimmt die Katastrophe ihren Lauf…

Manche Autoren sind ihrer Zeit voraus. Wedekind war es definitiv, denn in Zeiten größter Prüderie und Doppelmoral Sex zum Thema eines Bühnenstücks zu machen, dazu gehört schon Mut. Wenn man sich dabei auch nicht scheut, über gleichgeschlechtliche Liebe und Masturbation zu schreiben, dann gebührt einem allergrößter Respekt. Natürlich ist den Biedermeiern solle Unmoral übel aufgestoßen und entsprechend verboten oder zensiert war dieses Stück eine geraume Zeit.

Ich finde dieses Drama ganz wunderbar geschrieben und in seiner Doppelmoral hervorragend herausgearbeitet. Trotz seines ernsten und leider auch sehr realitätsnahem Thema ist das Stück von einem grotesken Humor durchzogen, der mich des öfteren zum Lachen gebracht hat. Kein Wunder, dass hier Grabbe und Büchner im Geiste Pate gestanden haben.

Bewertung: 4.5 von 5.

Frank Wedekind: Frühlings Erwachen. Stuttgart: Reclam, 1971 (Original 1890)

Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund

Im Herbst 1937 treffen mehrere Menschen in der Ostseestadt Rerik aufeinander, um mit einem Schiff in das freie Schweden überzusetzen. Ihre Motive sind so unterschiedlich wie ihre Charaktere.

Da ist die Jüdin Judith, die vor den Nazis fliehen muss und dafür an den Kommunisten Gregor verwiesen wird. Er soll in einem Parteiauftrag nach Schweden übersetzen. Möglich machen soll es der Fischer Knudsen, dem letzten noch aktiven Kommunisten der Stadt, der aber zunehmend distanzierter dem sowjetischen System gegenübersteht und sich von der Parteiarbeit lösen will. Auch sein Schiffsjunge möchte weg von Rerik und vor allem von den Erwachsenen – ihm schwebt allerdings weniger Schweden als das ferne Sansibar und ein Leben als Huckleberry Finn vor.

Als quasi zusätzlicher Mann fungiert eine Skulptur aus Pastor Helanders Kirche, der ‚Betende Klosterschüler‘. Er soll in Schweden vor den Nazis in Sicherheit gebracht werden, um nicht als entartete Kunst vernichtet zu werden.

Dieser recht kurz gehaltene Roman über den Kampf nach Freiheit und inneren und äußeren Widerstand ist nicht umsonst als Schullektüre populär. Er fängt verschiedene Charaktere und Motive ein und bietet eine gute Vorlage, Bewegunggründe und Formen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus zu analysieren. Darin liegt für mich auch der Wert dieses Romans. Er zeigt kleine Wege gegen das Regime auf, die zumindest in dieser Zeit noch begehbar waren. Das tragische an dieser Geschichte über die Freiheit ist, dass dem Schiffsjungen der titelgebende letzte Grund zur Flucht, nämlich die Flucht vor dem Naziterror, verborgen geblieben ist. Vermutlich wird er diese jugendliche Naivität mit dem Tod auf dem Schlachtfeld bezahlt haben.

Obwohl ich rein inhaltlich das Buch durchaus gelungen finde, hatte ich damit trotzdem meine Mühe. Ich finde es schriftstellerisch ziemlich fad und behäbig geschrieben. Trotz der interessanten Thematik konnte da bei mir der Funke nicht überspringen. Schade!

Bewertung: 3 von 5.

Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund. Zürich: Diogenes,1970

Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker

Der Schweizer Polizist Schmied wird erschossen auf einer Landstraße in seinem Wagen aufgefunden. Der alte und schwer magenkranke Kommissar Bärlach nimmt sich des Falls an, unterstützt von seinem jungen Kollegen Tschanz. Schnell stoßen die Ermittler auf den mysteriösen und einflussreichen Gastmann, der für den Kommissar kein Unbekannter ist. Gastmann entpuppt sich als alter Bekannter, mit dem Bärlach einst eine Wette abgeschlossen hat. Gastmann behauptete, dass es das perfekt ausführte Verbrechen gäbe, dass man weder aufgeklären noch bestrafen könne. Zur Untermauerung dieser These ermordete er einen Kaufmann, dessen Tod vor Gericht als Selbstmord eingestuft wurde. Und dies sollte nicht sein einziges Verbrechen werden. Bärlach beschließt, ihm das Handwerk zu legen…

Das Besondere an diesem Roman ist für mich die Person Bärlachs, der sich einer einfachen Kategorisierung entzieht. Er ist nicht nur der moralisch integre Ermittler, der seinen alten Kontrahenten zur Strecke bringen will. Er ist gleichzeitig ein genau kalkulierender Stratege, der buchstäblich über Leichen geht, um seinen Plan zu verfolgen. Von daher ist dies nicht nur ein Kriminalroman, sondern geht in seiner moralischen Fragestellung weit über dieses Genre hinaus und macht ihn gerade deshalb so gehaltvoll und lesenswert.

In diesem Sinne finde ich Dürrenmatts wohl bekanntesten Kriminalroman in jedem Fall lesenswert, wenn ihm für meinen Geschmack auch etwas Altbackenes und Behäbiges anhaftet.

Bewertung: 3.5 von 5.

Friedrich Dürrenmatt: Der Richer und sein Henker – Der Verdacht. Zürich: Diogenes, 1985 (Original 1950)

Gabriel García Marquez: Hundert Jahre Einsamkeit

Das ist die Geschichte des fiktiven Dorfes Macondo und der Familie, die es einst gegründet hat: den Buendías. Wir begleiten diese Familie über viele Generationen hinweg. Die reale Vorlage dieser Familiengeschichte bilden die politischen Konflikte und der Bürgerkrieg in Kolumbien Anfang des 20. Jahrhunderts. Der stetige Kampf zwischen Tradition und Moderne, zwischen Konservativen und Liberalen in diesem von Konflikten erschütterten Land. Der Autor hat diesen auf überzeugende Art in eine Form gegossen in diesem Familienepos, der durch die Urmutter Ursula zusammengehalten wird. Die männlichen Familienmitglieder schlagen die unterschiedlichsten Wege ein, sind jedoch durch ein Wesensmerkmal miteinander verbunden: ihren leicht melancholischen Hang zur Einsamkeit.

Bei manchen Büchern fragt man sich, warum sie so lange ungelesen im Regal gestanden haben. Dies ist auf jeden Fall eins davon und ich bin froh, es endlich gelesen zu haben. Ein ganz wunderbar erzählter Roman von großer Anschaulichkeit, der einem die Figuren so ans Herz wachsen lässt, dass man richtig traurig ist, wenn sie schließlich den Weg alles Irdischen gehen. Ich mochte vor allem Márquez Erzählweise und seine feine Ironie, die sich trotz vieler durchaus ernster Momente durch die Geschichte zieht.
Sehr interessant dargestellt fand ich den Umgang mit der Macht, die unter verschiedenen politischen Vorzeichen ähnliche fatale Auswirkungen hat. Dass man die Grausamkeit und Willkür, die man zunächst verurteilt, schließlich selbst anwendet, ist ein immer wiederkehrendes historisches Phänomen. Márquez‘ Oberst Buendía ist dessen Verkörperung und es ist sein schriftstellerischer Verdienst, Geschichte in diese literarische Form gekleidet zu haben.

Einziger wirklicher Kritikpunkt ist die völlig verwirrende Namensgebung: Sämtliche männliche Familienmitglieder heißen Aureliano, Arcadio oder José in verschiedenen Kombinationen, so dass man eigentlich nur mit einem Stammbaum wirklich durchblickt. Das macht das Lesen manchmal mühsam und zäh, auch wie die eine oder andere Länge zwischendurch.

Trotzdem eine eindeutige Leseempfehlung für diesen Klassiker!

Bewertung: 4 von 5.

Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit. München: dtv, 1984 (Original 1967)