Uwe Wittstock: Februar 33 – Der Winter der Literatur

Neunzig Jahre ist es jetzt her, dass dieser Monat als Beginn der Naziherrschaft in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Innerhalb weniger Wochen wurden das Parlament und sämtliche Grundrechte außer Kraft gesetzt.
Was das für die Intellektuellen und Kulturschaffenden des Landes bedeutete und wie sie diese Tage durchlebten, davon erzählt dieses Buch.

Auch wenn ich schon einiges über diese Zeit gelesen habe, bin ich immer wieder auf’s Neue entsetzt, wie schnell Hitlers Machtergreifung von statten ging und wie naiv ihm führende Politiker und Funktionäre dafür den Weg bereitet haben. Naiv aus heutiger Sicht, denn auch viele Intektuelle haben diese Entwicklung nicht kommen sehen und gingen davon aus, dass der Spuk bald vorbei ist. Noch zu Beginn des Monats schlägt Heinrich Mann den dringenden Rat eines Freundes zur Flucht in den Wind und hält es für übertriebene Panikmache. Nur sieben Tage später muss er unter größter Geheimhaltung das Land verlassen, bevor ihm der Pass entzogen wird. Buchstäblich in letzter Minute, denn schon am nächsten Tag durchsucht die SA seine Wohnung. So weitsichtig wie Joseph Roth sind seinerzeit nur die Wenigsten – so unvorstellbar erscheint das, was kommen wird. In einem Brief an Stefan Zweig schreibt er bereits Ende Januar 33:
„Inzwischen wird es Ihnen klar sein, daß wir großen Katastrophen zutreiben. Abgesehen von den privaten – unsere literarische und materielle Existenz ist ja vernichtet – führt das Ganze zum neuen Krieg. Ich gebe keinen Heller mehr auf unser Leben. Es ist gelungen, die Barberei regieren zu lassen. Machen Sie sich keine Illusionen. Die Hölle regiert.“ (S. 31)

Das Buch spiegelt die ganze Palette der Einschätzungen der politischen Lage innerhalb der damaligen Künstlerszene wieder und die jeweiligen Handlungen, die daraus folgten. Einige passten sich den veränderten Bedingungen an, andere bezahlten für ihre politische Einstellung mit dem Leben. Für die meisten führte der Weg ins Exil.

Für mich ein ausgesprochen interessantes und lesenswertes Buch. Allerdings sollte man schon einiges an Vorwissen über die Kulturschaffenden dieser Zeit mitbringen, um das Geschriebene besser einordnen zu können. Es fallen viele Namen und es ist daher hilfreich, wenn man dazu ein Bild vor Augen hat oder den einen oder anderen Klassiker kennt.

Bewertung: 4 von 5.

Uwe Wittstock: Februar 33 – Der Winter der Literatur. München: Beck, 2021

Fabrice Le Hénanff: Wannsee

Im Januar jährte sich zum 80. Mal ein Tag, der als Jahrestag eines beispiellosen Verbrechens in die Geschichte eingegangen ist.
Am 20. Januar 1942 trafen sich in einer Villa am Wannsee 15 ranghohe Vertreter der NSDAP, um die systematische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung zu beschließen. Der Startschuss für einen bürokratisch strukturierten Völkermord, der bereits in vollem Gange war.

Das ist meine erste Graphic Novel überhaupt und wahrscheinlich hätte ich ohne eine Genre-Challenge auf Instagram auch die nächsten Jahre keine gelesen. Nach einem ersten Blick auf die aktuellen Graphic Novels auf dem Markt war dieses Buch konkurrenzlos – auch wenn ich mich zu diesem Zeitpunkt schon gefragt habe, ob es das richtige Thema für eine Graphic Novel ist.

Diese Frage stelle ich mir auch nach dem Lesen. Ich bin ja wenig geübt mit Graphic Novels und bei mir ruft es aufgrund der Form erstmal die typische Assoziation zum Comic auf – für dieses Thema denkbar unpassend.
Allerdings passiert hier etwas, dass es dann doch sehr passend macht. Durch die verknappte Sprache und die eindrücklichen Bilder bekommen die geschilderten Ereignisse nochmal eine andere Kraft. Da ist jede Seite wie ein Hammerschlag und hat mich tief betroffen gemacht. Nicht nur, wie kaltschnäutzig bei einem Arbeitstreffen (mit anschließendem Frühstück) über die systematische Vernichtung von Millionen Menschen diskutiert wird, sondern dass tatsächlich einige von ihnen damit davongekommen sind.

Otto Hofmann, Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes – von 25 Jahren Haft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nur 9 Jahre verbüßt.
Gerhard Klopfer, einer der einflussreichsten NS-Parteibürokraten, zuständig für Rasse- und Volkstumsfragen – 1949 als minderbelastet aus der Haft entlassen.
Wilhelm Stuckart, Mitverfasser der Nürnberger Rassegesetze – 1952 als Mitläufer entnazifiziert.
Und schließlich: Georg Leibbrandt, in leitender Funktion im Ministerium für die besetzten Ostgebiete an der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung beteiligt – wird 1949 aus der Haft entlassen und arbeitete später als politischer Berater der Bundesregierung.

Das Ende des Buches skizziert den späteren Werdegang der einzelnen Konferenzteilnehmer und die geschilderten Beispiele haben mich zusätzlich zu alle den anderen Ungeheuerlichkeiten wirklich sprachlos gemacht. Und wenn ein Buch solch einen tiefen Eindruck hinterlässt, ist es vielleicht auch egal, ob es wirklich die richtige Form ist. Dann hat es seinen Zweck erfüllt. Abschließend will ich nicht unerwähnt lassen, dass die Novel wirklich sensationell gut gezeichnet ist. Ästhetisch sehr ansprechend. Und auch das… nicht ganz unproblematisch…

Fabrice Le Hénanff: Wannsee. München: Knesebeck Verlag, 2019 (Franz. Original 2018)

Püstow & Schachner: Jack the Ripper

Nun hab ich ja zu Beginn des Jahres ‚The Five‘ gelesen und das fand ich so interessant, dass ich gleich noch einen Nachschlag brauchte – diesmal aus der anderen Perspektive.
Wer also bei ‚The Five‘ Mord und Totschlag und Informationen rund um den Serienmörder vermisst hat, voilà!

Dieses Buch gilt als Standardwerk der Ripperforschung, in dem die wesentlichen Forschungsergebnisse zum Thema zusammengetragen wurden.
Im Gegensatz zu anderen oft recht einseitigen Büchern zum Ripper, die von sich behaupten, das Rätsels Lösung gefunden zu haben, ist dieses Buch angenehm neutral und sachlich gehalten und gibt einen sehr detaillierten Rundumblick.
Im zweiten Teil gibt es eine Zusammenfassung der Verdächtigen, so dass man selbst ein bisschen Sherlock Holmes spielen kann.

Ich fand das Buch ausgesprochen interessant und fühle mich jetzt in Sachen Ripper bestens informiert – soweit man das in diesem Fall sein kann. Denn fertige Lösungen gibt es hier nicht.

Hendrik Püstow / Thomas Schachner: Jack the Ripper. Anatomie einer Legende. Leipzig: Militzke Verlag, 2017 (Original 2006)

Hallie Rubenhold: The Five

Bei dem Untertitel könnte man auf den ersten Blick denken, es ginge hier um die Mordserie, der die fünf Frauen ihre vergleichsweise bescheidene Bekanntheit zu verdanken haben. Und tragischerweisen wären sie ohne dieses schreckliche Ende wohl tatsächlich vollkommen in Vergessenheit geraten.

Dass dies kein vollkommenes Vergessen ist, dafür sorgt dieses Buch. Und nicht nur das. Es richtet den Blick auf die Tatsache, dass sie noch etwas mehr waren als nur die Mordopfer eines grausamen Serienkillers. In der damaligen Presse und späteren Literatur als Prostituierte gekennzeichnet und als Nebenfiguren eines aufregenden Spektakels betrachtet, gilt hier der Blick den Frauen, die sie einst waren und ihrer Lebensumstände.

Und das ist so erstaunlich wie erschütternd. Beispielsweise gilt nur bei zwei der fünf Frauen als gesichert, dass sie zumindest gelegentlich der Prostitution nachgingen. Bei allen anderen ist das reine Mutmaßung, die allerdings die ärmeren unverheirateten Frauen schnell erteilte, sobald sie in Gesellschaft eines Mannes unterwegs waren. Trotzdem ist Jack the Ripper als Prostituiertenmörder in die Geschichte eingegangen.
Gesichert ist aber, dass sie alle in bitterster Armut gelebt haben und ihre letzten Jahre von Entbehrungen, Krankheit, Alkohol und Gewalt gezeichnet waren.

Wer mal Charles Dickens gelesen hat, der kann sich ungefähr vorstellen, wovon hier die Rede ist. London in der zweiten Hälfte des 19. Jh., als Industrialisierung und die gleichzeitige Verelendung der Bevölkerung auf einen Höhepunkt zusteuert. Während England zur führenden Industrienation aufsteigt, lebt ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung unter so katastrophalen Verhältnissen, wie man es sich heute kaum vorstellen kann. Und ganz unten in der Hierarchie des Elends stehen die Frauen. Fünf von ihnen lernen wir in diesem Buch kennen.

Große Leseempfehlung !

Bewertung: 4.5 von 5.

Hallie Rubenhold: The Five. Das Leben der Frauen, die von Jack the Ripper ermordet wurden. München: Nagel & Kimche, 2020

Thees Uhlmann: Die Toten Hosen

Um ehrlich zu sein, habe ich auch nur dazu gegriffen, weil ich was kleines Handliches für zwischendurch brauchte. So richtig Lust hatte ich nicht auf das Buch, denn ich hatte die Geschichte der Band erwartet oder sowas ähnliches. Stand mir gerade nicht der Sinn nach.

Doch was ich dann lesen konnte, war so hundert Prozent meins, dass ich gar nicht mehr aufhören konnte. Denn es geht gar nicht direkt um die Toten Hosen, sondern um Thees Uhlmanns Erlebnissen mit den Toten Hosen und gerade in den Schilderungen aus seiner Jugendzeit konnte ich mich sehr wiederfinden. Das macht sowas von Spaß zu lesen, denn plötzlich sieht man sich wieder als Teenie auf einem Tote Hosen Konzert herumspringen und lauthals mitgrölen. Hinterher ist man glücklich, heiser und nass von mindestens drei Bierduschen.

Dazu muss ich sagen, dass ich eigentlich kein wirklicher Fan dieser Band bin. Ich mochte als Jugendliche die ersten beiden Alben sehr, alles weitere war dann nicht mehr so meins. Aber als Liveband gehören sie für mich nach wie vor zu den ganz Großen. Welch ein magischer Moment, als Campino vor ca. 8 Jahren in der Berliner Waldbühne das Bühnengerüst hochklettert und von ganz oben auf das Publikum heruntersingt. Und alle singen mit, Gänsehaut pur…

Von Momenten wie diesem handelt dieses Buch und noch von viel mehr. Dazu ist es ausgesprochen gut geschrieben, voller Sprachwitz und Ironie und als wenn das noch nicht genug wäre, gibt es zwischendurch noch ein paar kluge Gedanken..

Sehr lesenswert!

Thees Uhlmann: Die Toten Hosen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2019

Cody Cassidy / Paul Doherty: Vom Wal verschluckt

Der Untertitel ist Programm, es geht nämlich um ‚Die interessantesten Methoden, das irdische Jammertal zu verlassen‚ 😅
Dieses Buch führt uns auf eine Reise durch die Wissenschaft der ausgefallensten Todesarten: in der Pringles Fabrik verunfallen und zu einem Kartoffelchip verarbeitet werden, eine Hand in einen Teilchenbeschleuniger halten oder in der Tiefsee aus dem U-Boot aussteigen.
Wer hier nur Klamauk erwartet irrt, denn Paul Doherty ist Doktor der Festkörperphysik und garantiert, dass es hier hochwissenschaftlich zugeht. Wunderbar ausgeglichen durch seinen Coautor Cody Cassidy, der das Ganze in eine verständliche und ausgesprochen witzige Sprache kleidet.

Für mich das zweite Buch, dass ich euch in diesen Coronazeiten ans Herz legen möchte, sozusagen als Gegensatz zu der ernsthaften Lektüre von heute morgen und wenn einem das ganze Jammertal gerade mal wieder zum Hals raushängt.
Ideal an dem Buch ist, dass es aus vielen kleinen Kapiteln besteht, bei denen man immer mal wieder zwischendurch eins lesen kann. Und das schlagartig gute Laune macht, denn es ist sooo lustig geschrieben, dass ich mehrfach Tränen gelacht habe. Gleichwertig lernt man eine Menge, denn jedes Phänomen wird wissenschaftlich und gut verständlich erklärt. Intelligent, witzig und absolut lesenswert 👌

Cody Cassidy / Paul Doherty: Vom Wal verschluckt. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 2018

Daniel Schreiber: Zuhause


Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen‚ ist der Untertitel dieses schmalem Büchleins, ein autobiographisch inspirierter Essay zu der Frage: Was ist unser Zuhause?
Ist es der Ort, an dem wir geboren sind und unsere Kindheit verbracht haben? Ist es unser jetziger Lebensmittelpunkt oder ein Ort, an den wir uns wünschen? Was beinhaltet dieses Gefühl, irgendwo zu Hause zu sein? Schreiber geht dieser Frage aus soziologischem, philosophischem und psychologischem Blickwinkel nach, aber vor allem auch aus einem ganz persönlichen. Es ist die Beschreibung seiner Suche nach einem Zuhause und sich selbst.
Sich ein Zuhause zu suchen bedeutet nicht, nach einer besseren Stadt Ausschau zu halten, nach einem schöneren Landstrich, einem anderen Land. Sich ein Zuhause zu suchen bedeutet, einen Ort in der Welt zu finden, an dem wir ankommen – und dieser Ort wird zuallererst ein innerer Ort sein, ein Ort, den wir uns erarbeiten müssen.“ (S. 57)

Sätze wie diese ziehen sich durch das gesamte Buch und deshalb ist es für mich das ideale Buch für diese entschleunigte Zeit, in der man auf sich und seine vier Wände zurückgeworfen ist. Obwohl das Buch relativ schmal ist, hab ich eine Weile daran gelesen, weil ich immer wieder Pausen zum Nachdenken eingelegt habe. Gedanken über meine eigene Definition von Zuhause sein. Über mein Verhältnis zu meiner Heimatstadt Berlin, mit der der Autor immer wieder ringt, der Ort, an dem ich geboren bin und mein gesamtes Leben verbracht habe. Also, dieses Buch hat es in sich und zwar in der positivsten Art und Weise, denn ist eine Goldgrube voller kluger und tiefsinniger Gedanken. Gleichzeitig ist es so emotional und authentisch, dass es mich in jeder Hinsicht berührt hat. Absolute und ausdrückliche Leseempfehlung 👌

Daniel Schreiber: Zuhause. München: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 2018 (Erstausgabe Hanser Verlag, 2017)

Flake: Heute hat die Welt Geburtstag

Wem Flake nichts sagt, es handelt sich um den Keyboarder von Rammstein, der nebenbei auch ganz erfrischende Bücher schreibt, wie ich feststellen konnte. Das ist schon sein zweites Werk und ich habe es bereits vor einem Jahr gelesen, aber hier bisher noch nicht vorgestellt. Worum geht’s?
Man stelle sich vor, man begleite die Band einen Tag auf Tour, in diesem Fall nach Budapest, angefangen von der Anfahrt über die Proben bis hin zur Backstageparty nach dem gelungenen Auftritt. Wem die spektakuläre Bühnenshow der Band ein Begriff ist, kann sich in etwa vorstellen, dass das Stoff für ein ganzes Buch ist. Kleine Kostprobe vom Klappentext gefällig?

In den Boden sind Lampen eingebaut, an die ich nicht rankommen darf, weil die viehisch heiß werden. ich habe mich bei einer Probe mal darauf abgestützt und mir dabei fürchterlich die Hände verbrannt, da bleib richtig meine Haut an dem dünnen Schutzgitter davor kleben. Es hat ganz eklig nach verbranntem Fleisch gerochen. Warum riecht es dann beim Grillen so lecker? Liegt es an dem Salz oder dem Bier? Oder an der Fleischsorte?

Aber das allein wäre vielleicht auch etwas wenig gewesen. Ergänzt wird der kurzweilige Konzertbericht durch jede Menge Anekdoten und Biografisches aus der langjährigen Bandgeschichte. Ein lesenswertes Buch, nicht nur für Fans.

Bewertung: 4 von 5.

Flake: Heute hat die Welt Geburtstag. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 2017