Alba de Céspedes: Aus ihrer Sicht

Alessandra muss von Beginn an in die Fußstapfen Ihres früh verstorbenen Bruders treten, von dem sie (mit einer leichten Abwandlung) auch den Namen geerbt hat. Als einziges Kind genießt sie die besondere Aufmerksamkeit der Mutter, mit der sie ein innige Verhältnis verbindet. Sie ist fasziniert von der Eleganz und den künstlerischen Fähigkeiten ihrer Mutter, die als Klaviervirtuosin wohlhabenden Damen Privatunterricht erteilt.
Der Vater hat für sie nur Verachtung übrig. Sie ist ihm zu dünn, zu hässlich und hat – so wie die literaturbegeisterte Tochter – eine Schraube locker, was er ihnen bei jeder Gelegenheit unmissverständlich unter die Nase reibt . Beide passen nicht in das Bild, dass man von italienischen Frauen in den 30er Jahren erwartet.
Als die Mutter versucht, aus diesem Gefängnis auszubrechen, bahnt sich eine Tragödie an…

Das Buch war für mich wie eine kleine Zeitreise ins Italien der 30er und 40er Jahre, dessen Atmosphäre die Autorin ganz wunderbar eingefangen hat. Ebenso wie die starken Frauenfigur, die versuchen, in dem patriarchialischen System ihre Nischen zu finden. Da spürt man an jeder Ecke den Geist des Aufbegehrens, offen oder im stillen und sehr viel Solidarität unter den Frauen. Dass die fiktive Ich-Erzählerin ihrer mutigen Mutter erzählerisch ein Denkmal setzt, ist sehr schön zu lesen.
Es wundert da nicht, dass sie einen ähnlich unbeugsamen Geist hat und sich für ihr Leben noch anderes vorstellt als Kinder zu kriegen und den Haushalt zu führen.
Sie beschließt zu studieren und ein unabhängiges Leben zu führen. Doch dann kreuzt Francesco ihren Weg, der im antifaschistischen Untergrund arbeitet…

Tja und hier wendet sich leider für mich auch die Geschichte. Denn Francesco ist zwar auf den ersten Blick deutlich umgänglicher als ihr griesgrämiger Vater, aber das Thema Gleichberechtigung kommt auch in seiner Welt nicht vor.
Nach dem ersten Teil des Romans hatte ich ja erwartet, dass sie Francesco ordentlich die Leviten liest.

Stattdessen hat die Liebe zu diesem Intellektuellen ihr aber sämtliche Zähne gezogen. Statt ihm gehörig in den Hintern zu treten, wird er angeschmachtet, was das Zeug hält und pausenlos die Liebe zu ihm beschworen, die er zunehmend immer weniger verdient. Das war für mich teilweise nur schwer auszuhalten und ich habe ständig Alessandras Temperament und Selbstbewusstsein aus der ersten Hälfte des Buches vermisst. Das Ende war einigermaßen überraschend, aber sehr stimmig und konsequent. Ein guter Abschluss, der den Titel auch erst dann wirklich erklärt. Auch wenn ich im zweiten Teil ganz schön gelitten habe, hat mir das Buch gut gefallen und ich kann es ohne Bedenken weiterempfehlen.

Bewertung: 3.5 von 5.

Alba de Céspedes: Aus ihrer Sicht. Berlin: Insel Verlag, 2023

Sayaka Murata: Zeremonie des Lebens

Während die Autorin im deutschsprachigen Raum nur durch ihre Romane ‚Das Seidenraupenzimmer‘ und ‚Die Ladenhüterin‘ bekannt ist, wird sie in Japan vor allem wegen ihrer Kurzgeschichten gefeiert. Das könnte sich in Zukunft ändern, denn der Aufbau Verlag hat mit der ‚Zeremonie des Lebens‘ einen Band mit zwölf Kurzgeschichten herausgegeben. Oder auch nicht, denn die Themen in diesen Geschichten sind…nun ja, etwas gewöhnungsbedürftig und vielleicht nicht nach jedermanns Geschmack. Denn hier werden Tabus und kulturelle Übereinkünfte gebrochen und am Rande der Rationalität und Realität entlangspaziert.
Bereits der Klappentext verrät, dass man sich hier auf einiges gefasst machen muss. Zum Beispiel einen Zukunftsentwurf, bei denen man die Toten nicht bestattet, sondern zu Gebrauchsgegenständen verarbeitet oder auch – in einer anderen Geschichte – rituell verspeist…

Ich muss sagen, gerade die genannten Geschichten fand ich sehr grenzwertig und das wirft die Frage auf, ob sie hier nicht übers Ziel hinausgeschossen ist – abstoßend ist es allemal. Allerdings entwirft die Autorin ein Szenario, in dem das geschilderte Verhalten sehr logisch und nachvollziehbar hergeleitet wird. Denn letztlich handelt es sich um kulturelle Vereinbarungen, die so oder auch ganz anders sein könnten. Das stößt zumindest Denkprozesse an, zum Beispiel, dass unser Umgang mit den Toten vielleicht gute Gründe hat. Und letztlich sind so ziemlich alle der hier versammelten Geschichten eine Kritik an der Entgrenzung und Entfremdung der japanischen Gesellschaft, sowohl im Hinblick auf die Moral als auch im Umgang mit der Natur. Nur hat Murata für diese Kritik den ganz großen Hammer ausgepackt und das ist natürlich Geschmackssache, ob man die Form als angemessen oder übers Ziel hinausgeschossen empfindet.
Ich bin da tatsächlich hin- und hergerissen und hätte mir gerade im Hinblick auf die Geschichte mit den Möbeln gewünscht, sie hätte sie nicht geschrieben. Vermutlich hätte sie das mit einem deutschen Background auch nicht.

Trotzdem habe ich die Geschichten gerne gelesen. Zum einen aufgrund der bereits erwähnten Denkprozesse, die dadurch angeregt werden. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es eine ideale Lektüre für eine Leserunde, denn hier ergibt sich Diskussionsstoff ohne Ende. Zum anderen mag ich Muratas klare, unverstellte Sprache. Die hat mich sogar darüber hinweggetröstet, dass viele der Geschichten kein wirklich abgeschlossenes (und damit zufriedenstellendes) Ende hatten und irgendwie abgebrochen wirkten. Und letztlich hat die Autorin es geschafft, mit jeder Geschichte mein Interesse zu wecken, was bei Kurzgeschichten ja auch nicht immer ganz einfach ist. Das unterstreicht in jedem Fall ihre schriftstellerischen Qualitäten.

Bewertung: 4 von 5.

Sayaka Murata: Zeremonie des Todes. Berlin: Aufbau Verlag, 2022

Stefanie vor Schulte: Junge mit schwarzem Hahn

Ein namenloses Dorf im Mittelalter: Nach einem Massaker, begangen vom eigenen Vater, ist der elfjährige Martin der einzige Überlebende seiner Familie. Gemeinsam mit seinem schwarzen ist der Junge sich selbst überlassen, denn die abergläubischen Dorfbewohner sehen in dem Hahn den Teufel. Als ein wandernder Maler in das Dorf kommt, entschließt sich Martin mit ihm zu ziehen. Auf seinem Weg muss er mit ansehen, wie ein schwarzer Reiter ein Neugeborenes entführt – so wie schon viele Jahre zuvor. Martin begibt sich auf die Spur der verschwundenen Kinder und begegnet ungeahnten Abgründen…

Ich lese ja gerne Geschichten, die im Mittelalter spielen und auch hier ist die Stimmung und die Lebensumstände der damaligen Zeit sehr eindrücklich eingefangen. Erschreckend, wie verbreitete die schlimmsten Formen der Gewalt, Armut und Krankheit zu dieser Zeit waren. Erschreckend aber auch die Grausamkeit und Willkür der zum Teil völlig verrückten Adligen.
Die Geschichte um den unerschrockenen Martin, der sich trotz aller Widrigkeiten nicht unterkriegen lässt und mit seiner Intelligenz auch den Stärksten trotz, hat mir sehr gut gefallen. Die Geschichte ist durch ihren Erzählstil im Präsens sehr intensiv, wozu auch die kurzen Sätze und der vergleichsweise geringe Seitenumfang des Buches beiträgen. Das lässt die Geschichte noch stärker wirken.
Besonders gefallen hat mir auch das Erlkönig-Motiv, das hier aufgegriffen wird.
Ein sehr gelungenes Debüt!

Bewertung: 4.5 von 5.

Stefanie vor Schulte: Junge mit schwarzem Hahn. Zürich: Diogenes, 2021

Andreas Moster: Kleine Paläste

„Es ist nicht das erste Mal, dass der Hund versucht, mich umzubringen.“
Manchmal spürt man bereits beim ersten Satz: Das könnte ein Buch für mich werden…


Nach dem Tod seiner Mutter kehrt Hanno nach vielen Jahren in sein Elternhaus zurück, dass er nach einem Zerwürfnis verlassen hat, um seinen dementen Vater zu pflegen – den Mann, der ihn einst aus dem Haus getrieben hat.
An der Seite des hilflosen Altenpflegers: die Nachbarin Susanne, einst Hannos Jugendfreundin, die nach dem Tod ihrer Eltern dort wohnen geblieben ist. Nachdem sie jahrelang das Geschehen im Nachbarhaus durch das Fernglas beobachtet hat, hat sie nun freie Bahn, sich um die Person ihres gesteigerten Interesses zu „kümmern“: Hannos Vater Carl. Dass hier nicht pure Nächstenliebe im Spiel ist, merkt man spätestens bei den Rückblenden ins Jahr 1986, die regelmäßig in die Geschichte eingestreut werden. Ein Ereignis aus dieser Zeit lässt auch die Verstorbenen der beiden Familien nicht ruhen…

In meiner kleinen Leserunde haben wir uns schon gefragt, wie man die Vielschichtigkeit und feinen Nuancen in diesem Buch beschreiben soll. Tatsächlich eine Herausforderung. Vielleicht reicht es einfach zu sagen, dass der Autor ganz viele wichtige Themen in diesem Buch anschneidet und zwar nicht, indem er alles auf einen Haufen kippt und den Leser darunter erschlägt, sondern daraus ein Art Teppich webt, den man staunend beschreitet. Sprachlich geschickt hat er die Themen Generationenkonflikt, stereotype Geschlechterrollen, Pflege von Familienangehörigen, Demenz, Alkoholismus und dysfunktionale Familien miteinander verknüpft. Das große Thema des Romans ist jedoch ein anderes: das Wahren der gutbürgerlichen Fassade um jeden Preis. Für das große Schweigen hat Moster großartige Worte gefunden. Sehr eindringlich und absolut lesenswert.

Bewertung: 4.5 von 5.

Andreas Moster: Kleine Paläste. Hamburg: Arche Verlag, 2021

Dagegen die Elefanten

Im Zentrum dieses Romans steht Herr Harald und er ist so ziemlich genau das, was man unter diesem Namen vermutet: ein unauffälliger, etwas farbloser Zeitgenosse ohne Ecken und Kanten, jedoch mit jeder Menge schrulliger Eigenschaften. Passend zum Namen hat er einen langweiligen Job an der Garderobe eines Theaters. Und es wundert nicht, dass er damit ganz zufrieden zu sein scheint.
Was passiert nun, wenn dieser spezielle Charakter in einer Tasche eines hängengelassenen Mantels eine Waffe findet?

Tatsächlich hat mich das so interessiert, dass es eines der wenigen Bücher der Longlist ist, die ich mir gekauft habe. Und grundsätzlich mag ich schräge Charaktere.
Allerdings muss diese Schrägkeit auch irgendwie in Szene gesetzt sein. Entweder durch subtilen Humor, Sprachwitz oder vereinzelte Charaktereigenschaften, in denen man sich irgendwie wiederfinden kann. Leider konnte ich nichts davon in diesem Roman entdecken. Ich fand die Figur des Herrn Haralds in seiner manirierten Art einfach nur sterbenslangweilig und kein bisschen unterhaltsam. Dass liegt sicherlich daran, dass diese Figur so ziemlich das Gegenteil von mir ist und ich da gar keine Anknüpfungspunkte finden konnte.

Zusätzlich zur farblosen Figur des Herrn Harald passiert in diesem Roman zumindest in der ersten Hälfte auch nicht besonders viel. Damit habe ich grundsätzlich erstmal kein Problem, wenn der Charakter selbst interessant ist. Ist er für mich allerdings nicht.
Dazu muss man ein gutes Drittel des Buches lesen, damit der Protagonist überhaupt die bereits im Klappentext beschriebene Waffe findet – was ja eigentlich das besondere Ereignis des Buches ist und auch mein Interesse geweckt hatte.
Leider war ich nach dieser langen Anlaufzeit schon so gelangweilt, dass ich mich nicht überwinden konnte, noch weiterzulesen. Irgendwie habe ich von Herrn Harald nicht mehr so viel Neues erwartet, ob mit oder ohne Pistole.

Möglicherweise tue ich ihm damit jetzt Unrecht, aber vielleicht ist es auch einfach ganz normal, dass nicht jedes Buch zu einem passt. Das heißt aber auch, dass es für andere durchaus passend sein kann, denn dieses Buch hat auch seine Stärken und das ist die ausgefeilte Sprache, in der es verfasst ist. Für mich hatte das leider zum Weiterlesen nicht gereicht, so dass ich meine Begegnung mit Herrn Harald nach der Hälfte des Romans beendet habe.

Allerdings muss man sagen, dass es sprachlich durchaus gut ist und sicher auch mit dazu beigetragen hat, dass es auf die Longlist des Buchpreises zu kommen. Nur hat das in meinem Fall nicht gereicht.

Bewertung: 1.5 von 5.

Dagmar Leupold: Dagegen die Elefanten. Salzburg: Jung und Jung, 2022

Nino Haratischwili: Das mangelnde Licht

Anlässlich eine Fotoretrospektive treffen die drei alten Freundinnen Keto, Nene und Ira wieder aufeinander. Gezeigt werden Bilder aus ihrer gemeinsamen Zeit in Georgien – aufgenommen von der Vierten im Bunde, die nicht mehr bei ihnen sein kann.
Beim Betrachten reflektiert Keto die Geschichte hinter den Bildern und entwirft so ein Bild von einem Staat im Umbruch, der ersten großen Liebe und einer tiefen Freundschaft.

Spätestens seit ‚Das achte Leben‘ kennt man Haratischwili als Autorin monumentaler Geschichten mit großem Seitenumfang. Tatsächlich erschlägt es einen aber nur vorab, als Respekt vor der Aufgabe sozusagen. Denn erstmal angefangen, spürt man eigentlich nur noch an der Schwere des Buchs, dass es so viele Seiten sind. Denn Haratischwilis Sprache ist so schön, dass es eine Freude ist und sich kein bisschen wie Arbeit anfühlt.

Auch in diesem Roman schafft sie es, einem die Figuren sehr nahe zu bringen. Und das nicht nur die Hauptpersonen, sondern auch die Nebenfiguren erwachen in diesem Roman quasi zum Leben und das ist für mich die ganz große Stärke der Autorin: die gute Ausarbeitung der Charaktere.
Gleiches gilt für die Darstellung der gesellschaftlichen Entwicklungen in ihrem Heimatland Georgien, das eng mit der eigenen Geschichte verknüpft ist. Ich denke, dass hier auch sehr viele eigene Erlebnisse eingeflossen sind und das macht diesen Roman so authentisch.

Auch wenn mich ‚Das mangelnde Licht‘ nicht ganz so berührt hat, wie ‚Das achte Leben‘, hat dieses Buch wieder bestätigt, dass Harataschwili für mich zu den besten deutschsprachigen Autorinnen gehört.

Bewertung: 4.5 von 5.

Nino Haratischwili: Das mangelnde Licht. Frankfurt/Main: Frankfurter Verlagsanstalt, 2022

Benedict Wells: Hard Land

Grady ist eine kleine Stadt in Missouri, in der herzlich wenig passiert – vor allem in den Sommerferien. Um der Langeweile und den häuslichen Problemen zu entkommen, nimmt Sam einen Ferienjob in einem alten Kino an. Und trifft dort auf drei künftige Freunde, die sein Leben verändern werden. Alle drei werden zwar im Herbst die Stadt verlassen. Aber es bleibt ihnen dieser gemeinsame Sommer, in dem sich Sam so fühlt, wie er sich schon sein ganzes Leben lang fühlen wollte: „übermütig und wach und mittendrin und unsterblich.“

Als das Buch im letzten Jahr erschien, hat es hier einen derartigen Hype ausgelöst, dass ich erstmal Abstand genommen habe. Vor allem auch deshalb, weil ich nicht noch einen Coming-of-Age Roman lesen wollte. Ein Jahr später sah das schon etwas anders aus und ich muß sagen: da hätte ich richtig was verpasst. Denn hier ist mal wieder ein Beispiel, wo ein Hype auch absolut berechtigt ist. Was für ein wunderbares Buch.

Auch wenn das Grundmotiv nicht neu ist, hat es in der Wellschen Version eine ganz besondere Kraft. Die Magie dieses Sommers überträgt sich komplett – zumindest war das bei mir der Fall.

Was ich bei Wells so mag, ist die Art der Sprache. Ich empfinde sie als sehr echt und unverstellt und dadurch kommt sie einem auch sehr nah. Entsprechend dem meist jungen Alter der Protagonist:innen (wie auch in diesem Roman), ist die Sprache recht einfach gehalten, aber immer wieder von einer großen Tiefe durchzogen. Dadurch entstehen immer wieder sehr berührende Momente. Gerade die Liebesgeschichte fand ich hier ausgesprochen herzerwärmend.
Und auch wenn das Buch mit einigen Problemthemen daherkommt, hat es einen sehr positiven Grundton und ein ausgesprochen schönes Ende. Und vor allem, kein bisschen kitschig oder toterzählt.

Für mich ganz klar mein bester Wells.

Bewertung: 4.5 von 5.

Benedict Wells: Hard Land. Zürich: Diogenes Verlag, 2021

Paul Auster: 4321

Auf 1258 Seiten breitet Auster das Leben des Archie Ferguson aus und bei so viel Text drängt sich der Gedanke auf, dass der aber ganz schön viel erlebt haben muss. Hat er auch, aber ganz anders, als man denkt. Denn die markanten Lebensabschnitt gibt es gleich viermal. Vier Varianten eines Lebens, wie es sich abgespielt haben könnte. Mit unterschiedlichen Lebenswegen der Eltern, finanziellen Bedingungen, schulischen und beruflichen Entscheidungen, sexuellen Orientierungen und Lebensgefährt:innen…

Die Anlage des Romans finde ich extrem reizvoll. Den Gedanken, wie das Leben verlaufen wäre, wenn die Familie einen anderen sozialen Hintergrund gehabt hätte, man andere Lebensentscheidungen getroffen hätte. Es spricht für die Originalität und auch den Mut des Autor, dieses Gedankenspiel in einem Buch aufzugreifen, denn das ist schon ein recht komplexes Vorhaben. Und das ist umso faszinierender, da der Autor jede Menge biografischer Details in Archies Lebensgeschichten verarbeitet hat.

Aber nicht nur inhaltlich hat dieser Roman einiges zu bieten, denn Auster ist nicht umsonst eine Ikone der amerikanischen Literatur. Er kann einfach wahnsinnig gut schreiben und Figuren zum Leben erwachen lassen.
Allerdings beginne ich an dieser Stelle mit der ersten Einschränkung: die Sätze waren an einigen Stellen eindeutig zu lang. Ich glaube, einer ging über zwei Seiten. Das ist mir dann doch zu viel des Guten und macht das Lesen unnötig anstrengend.

Größtes Manko an dem Buch war für mich, dass es zeitweise recht aufgebläht wirkte. Das liegt natürlich an der Mehrfachanlage der Geschichte, die in ihren einzelnen Faszetten zwar unterschiedlich ist, aber durchaus auch Gemeinsamkeiten hat. Das hat zeitweilig einen Murmeltier-Effekt. Dazu kommt, dass der Autor bei einigen Themen sehr ins Detail geht, wo es nicht unbedingt nötig wäre. Baseball und Co fand ich jetzt nur bedingt interessant. Das machte es mir bei dem Umfang des Buches manchmal schwer, am Ball zu bleiben.

Bewertung: 3.5 von 5.

Paul Auster: 4321. Hamburg: Rowohlt Verlag, 2017

Margaret Atwood: Penelope und die zwölf Mägde

Die Geschichte des heldenhaften Odysseus ist allgemein bekannt. Am Rande taucht darin seine Ehefrau Penelope auf – treu liebende Ehefrau und Mutter, die ergeben in ihr Schicksal jahrzehntelang auf die Rückkehr ihres Mannes wartet.
Das die Ereignisse möglicherweise ein klein bisschen anders waren, berichtet Penelope hier selbst und das ziemlich unverblümt. Schließlich muss sie auf niemanden mehr Rücksicht nehmen, denn sie spricht direkt aus dem Hades zu uns. Und so redet sie Klartext über die Eskapaden ihrer schönen Cousine Helena, den Skandalen am Hof und dem nicht immer rühmlichen Verhalten ihres Ehegatten. Für seinen Mord an ihren zwölf Mägden fordert sie nun Gerechtigkeit…

Dieses Buch zu lesen macht einfach nur Spaß und wer denkt, klassische Sagenstoffe sind irgendwie dröge, der wird hier eines Besseren belehrt. Denn hier bekommt die Geschichte nicht nur einen komplett anderen Blickwinkel, sondern auch eine andere Sprache. Penelope redet hier, wie ihr der Schnabel gewachsen ist und das ist ausgesprochen unterhaltsam, teilweise sogar richtig lustig. Ihre schnoddrige Art steht in komplettem Gegensatz zur Anlage der Figur in der Literatur, was ich besonders gelungen finde. Auch dass die Mägde im Stil des antiken Chors immer wieder zu Wort kommen und ihr Recht fordern, finde ich ein gut eingesetztes Stilmittel.

Dieses Buch hat mich mal wieder daran erinnert, mehr Atwood zu lesen. Eine tolle Autorin und ein sehr empfehlenswertes Buch!

Bewertung: 4.5 von 5.

Margaret Atwood: Penelope und die zwölf Mägde. München: Wunderraum / Goldmann Verlag, 2022 (Original 2005)

Takis Würger: Unschuld

Fünfunddreißig Tage bleiben Molly Carver noch, um die Unschuld ihres Vaters zu beweisen. Für den Mord an dem Sohn seines ehemaligen Arbeitgebers sitzt er in der Todeszelle und wartet auf die Vollstreckung des Urteils.
Besagter ehemaliger Arbeitgeber gehört zu den reichsten Familien der Vereinigten Staaten und nimmt eine bedeutende Funktion in der Waffenlobby-Organisation des Landes ein.
Und gerade hinter die Kulissen dieser mächtigen Familie möchte Molly einen Blick werfen, denn zufällig ist gerade dort eine Stelle als Zimmermädchen frei…

Das ist ja mal was ganz anderes aus der Feder des Autors. Ein Roman, der als Kriminalfall daherkommt und doch noch etwas anderes ist. Denn hier blickt man nicht nur hinter die Fassade der Schönen und Reichen, sondern direkt auf die massiven Probleme, die dieses Land hat: soziale Ungleichheit, Lobbyismus, Drogenmissbrauch, Todesstrafe, das Recht auf Waffenbesitz und anderes mehr.
Für mich war das Thema sehr interessant, da ich gerade dieses Jahr in den USA war und die Widersprüche dieses Landes hautnah miterleben konnte. Während auf dem Hollywood Boulevard Obdachlose auf der Straße liegen oder im Drogenrausch schreiend herumrennen, findet einige hundert Meter weiter eine Filmpremiere auf dem roten Teppich statt. Daran hat mich die Szene erinnert, als Molly einen verdeckter jungen Mann vor dem Anwesen der Rosendales entdeckt, der dort neben der Einfahrt liegt.
Das gefällt mir besonders an diesem Buch, dass es gut recherchiert und beobachtet ist. Dadurch wirkt das Buch sehr authentisch.
Und was für dieses Buch spricht: ich habe es quasi in einem Stück durchgelesen. Für mich hatte es genau das richtige Maß an Spannung, ohne unnötige Längen oder sonstigen Schnickschnack drumrum. Die Sprache ist schnörkellos und eingängig, so dass sich ein guter Lesefluss, in meinem Fall sogar Sog, ergibt. Ich wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht.

Teilweise wurde in den Rezensionen zum Buch die mangelnde Tiefe der Figuren bemängelt. Ja, stimmt – da geht mehr. Anderseits muss man auch nicht in jedem Roman die Charaktere bis ins Mark aufbohren. Vielleicht geht’s hier auch einfach um andere Dinge. Für mich war das Buch eine Mischung aus guter Unterhaltung und gesellschaftskritischem Blick. Es hatte auf mich nicht ganz die Wirkung von ‚Stella‘ oder ‚Der Club‘, ist aber durchaus sehr lesenswert.

Bewertung: 4 von 5.

Takis Würger:Unschuld. München: Penguin Verlag, 2022