Peter Grandl: Turmschatten

Schauplatz des Geschehens ist ein alter Turm, ein ehemaliger Kriegsbunker. Ein älterer, jüdischer Mann hat ihn als Wohnhaus umbauen lassen und lebt dort mit seiner Haushälterin. Eines Tages dringen drei Neonazis in den Turm ein. Der zunächst als Einschüchterung geplante Überfall läuft jedoch aus dem Ruder, die Gewalt eskaliert. Womit die Eindringling nicht gerechnet haben: bei ihrem Opfer handelt es sich keinesfalls um einen wehrlosen alten Mann, sondern einen Ex-Agenten des Mossad. Einen Überlebenden des Holocaust, der nichts mehr zu verlieren hat. Und mehr als bereit ist, ein Exempel zu statuieren.
Er nimmt die drei als Geisel und fordert die Öffentlichkeit zum Online-Voting auf: Freilassung oder Hinrichtung?
Während die Polizei fieberhaft versucht, die Geiseln zu befreien, wittern die Medien einen Quotenhit und inszenieren die Geiselnahme als gigantische Reality-Show.

Ein neuer Autor ist ja wie eine Wundertüte: man weiß nie, was drin ist. Und gerade so ein sensibles Thema kann ja völlig in die Hose gehen.
Oder durch Mark und Bein, wenn es einem gelingt, solch eine extreme Story gekonnt umzusetzen. Und er kann, was für ein Debüt!

Am Anfang dachte ich noch, hier werden aber einige Klischees bedient. Aber nein, es gibt sie ja, die gewaltbereiten Ultrarechten und Holocaustleugner, die Hakenkreuzträger. Das sind die traurigen Originale. Und auch alles andere ist denkbar, inklusive der skrupellosen TV-Sender, die für die Quote bereit sind, jegliche Grenze von Moral und Anstand zu überschreiten.
Besonders gut gefallen hat mir, dass der Autor die einzelnen Charaktere sehr genau beleuchtet, jenseits jeglicher Schwarzweiß-Malerei. So verurteilenswürdig die Taten auch sind, erhält man hier gleichzeitig einen Blick hinter die Nazifassade und sieht dahinter den Menschen, der an einer entscheidenden Stelle seines Weges falsch abgebogen ist. Und das macht dieses Buch für mich so wertvoll. Nicht das spektakuläre Thema, sondern der differenzierte Blick auf die Figuren.

Die tiefgründige und differenzierte Ausarbeitung der Charaktere hat mich in seiner ruhigen und unaufgeregten Art an Adler-Olsen erinnert, der für mich einer der niveauvollsten Thrillerautoren ist, gerade aufgrund seines psychogischen Blicks auf die Figuren. Darüber hinaus ist das Thema als solches natürlich auch eins, das lange nachhallt, denn es wirft Fragen auf, ohne einfache Antworten zu liefern. Nach Gut und Böse, Recht und Unrecht und der Legitimation, Rache zu üben.

Beim Ende war ich mir nicht ganz sicher, ob der Autor nicht auf den letzten Metern Angst vor der eigenen Courage bekommen hat. Aber in jedem Fall ein Buch, dass einen starken Eindruck hinterlässt und das mich noch länger beschäftigen wird.

Bewertung: 4.5 von 5.

Peter Grandl: Turmschatten. Berlin: Eulenspiegel Verlagsgruppe / Das Neue Berlin, 2020

Jasmin Schreiber: Marianengraben

Nach dem Tod ihres kleines Bruders stürzt Paula in eine tiefe Depression. Ihre Welt scheint stillzustehen. Doch dann lernt sie durch einen seltsamen Zufall den etwas verschrobenen Rentner Helmut kennen, mit dem sie auf den ersten Blick so gar nichts gemeinsam hat. Doch auch er hat einen großen Verlust erlitten. Gemeinsam begeben sie sich auf eine Reise…
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‚Wie tief muss man tauchen, um einen leuchtenden und noch nicht entdeckten Tim-Fisch zu finden?‘, fragtest du mich kurz vor deinem Tod.“
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Dieser erste Satz hat mich direkt ins Herz getroffen, denn in ihm ist eigentlich schon alles enthalten, was einen in diesem Buch erwartet. Es geht um die Trauer um ein Leben, dass gerade erst begonnen hatte, ein Leben voll kindlichem Entdeckerdrang und großen Plänen, die nur noch als eine Erinnerung bleiben.
Es geht darum, das Unfassbare zu verstehen und mit dem Verlust leben zu lernen.
Ich denke, jeder der bereits einen Menschen – ob jung oder alt – auf diese Art verloren hat, wird etwas von sich in diesem Buch wiederfinden, denn es bringt wie kaum ein anderes auf den Punkt, was man in solchen Momenten empfindet. Das ist hochemotinal, aufwühlend bis auf den Grund, aber im positivsten Sinne, denn es ist hohe Kunst, Gefühle so in Worte und Bilder zu kleiden. So wie der Graph des Herzens, das bricht (siehe Klappentext innen) – ein grandioses Bild.

Neben all der traurigen Momente ist das Buch in der Begegnung der gegensätzlichen, doch etwas speziellen Charaktere, aber auch sehr komisch und transportiert gleichzeitig eine Leichtigkeit und Zuversicht, die dem Ganzen einen positiven Ausblick gibt.
Ein ganz großartiges Buch!

Bewertung: 4.5 von 5.

Jasmin Schreiber: Marianengraben. Köln: Eichborn Verlag, 2020

Cody Cassidy / Paul Doherty: Vom Wal verschluckt

Der Untertitel ist Programm, es geht nämlich um ‚Die interessantesten Methoden, das irdische Jammertal zu verlassen‚ 😅
Dieses Buch führt uns auf eine Reise durch die Wissenschaft der ausgefallensten Todesarten: in der Pringles Fabrik verunfallen und zu einem Kartoffelchip verarbeitet werden, eine Hand in einen Teilchenbeschleuniger halten oder in der Tiefsee aus dem U-Boot aussteigen.
Wer hier nur Klamauk erwartet irrt, denn Paul Doherty ist Doktor der Festkörperphysik und garantiert, dass es hier hochwissenschaftlich zugeht. Wunderbar ausgeglichen durch seinen Coautor Cody Cassidy, der das Ganze in eine verständliche und ausgesprochen witzige Sprache kleidet.

Für mich das zweite Buch, dass ich euch in diesen Coronazeiten ans Herz legen möchte, sozusagen als Gegensatz zu der ernsthaften Lektüre von heute morgen und wenn einem das ganze Jammertal gerade mal wieder zum Hals raushängt.
Ideal an dem Buch ist, dass es aus vielen kleinen Kapiteln besteht, bei denen man immer mal wieder zwischendurch eins lesen kann. Und das schlagartig gute Laune macht, denn es ist sooo lustig geschrieben, dass ich mehrfach Tränen gelacht habe. Gleichwertig lernt man eine Menge, denn jedes Phänomen wird wissenschaftlich und gut verständlich erklärt. Intelligent, witzig und absolut lesenswert 👌

Cody Cassidy / Paul Doherty: Vom Wal verschluckt. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 2018

Max Bentow: Rotkäppchens Traum

Als Annie Friedmann aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht, befindet sie sich in einem Wald, nur spärlich bekleidet mit einem roten Regenmantel. An ihm befinden sich Blutspuren. Jegliche Erinnerungen an die Geschehnisse vorher sind wie ausgelöscht. Auch der Ort, ein Waldstück in der Nähe von Ulm, sind ihr gänzlich fremd und Hunderte von Kilometern von ihrem Wohnort entfernt. Annie beginnt, die Bruchstücke ihrer Erinnerung zusammenzusetzen…

Dieses Buch beantwortet wieder einmal die Frage, warum Bentow zu meinen allerliebsten Thrillerautoren gehört. Seine Bücher üben auf mich immer wieder einen absoluten Sog aus, einmal angefangen kann man nicht mehr aufhören. So ist auch dieses, unfassbar spannend, ohne die oft so lästigen Längen, mit gut konstruierter Geschichte und einer stimmigen Auflösung inklusive Cliffhanger, was will man mehr. Auch die psychologischen Aspekte der Geschichte waren für mich gekonnt herausgearbeitet, so dass man sich gut in die Personen hineinversetzen konnte. Und das Spiel mit dem Märchenmotiv gibt dem Ganzen nochmal einen besonderen Reiz. Für mich einer der besten Thriller des letzten Jahres.

Bewertung: 4.5 von 5.

Max Bentow: Rotkäppchens Traum. München: Goldmann Verlag, 2019

Florian Schwarz: Stichling


Für eine Inhaltsbeschreibung dieses Romans braucht es nicht viele Worte, was nicht daran liegt, dass es hierzu nicht einiges zu sagen gäbe oder der Roman mit seinen knapp 200 Seiten vergleichsweise schmal ist, sondern dass das Thema für sich spricht. Denn in diesem Buch geht es um den Krieg. Und zwar in seiner hässlichsten und damit auch ehrlichsten Form. Es ist die Geschichte des 17jährigen August, der durch die Hölle des ersten Weltkriegs geht. Der Autor hat hier aus den Erinnerungen seines Opas einen Roman geschaffen, der den Wahnsinn des Krieges in all seinen Facetten sehr drastisch beschreibt.

In einigen Rezensionen wurde dieser Roman als neue Pflichtlektüre an Schulen vorgeschlagen. Das ist ein Kompliment. Ihn auf eine Stufe mit Erich Maria Remarque zu stellen sicherlich auch, denn dieser Vergleich ist mir spontan gekommen und das liegt nicht nur am gleichen Thema. Denn auch hier gelingt dem Autor der genaue und schonungslose Blick, der alles auseinandernimmt und einem eine Ahnung davon bekommen lässt, was Krieg eigentlich bedeutet. Und das alles in einer ganz wunderbar ausgefeilten Sprache, einem Nebeneinander von distanzierter Beschreibung und sehr emotionalen, tiefgehenden Innenansichten. Die Schilderung sind so plastisch und kraftvoll, als wäre er selbst dabei gewesen und vielleicht war er es auch auf eine Art, als Zuhörer aus tiefstem Herzen.

Nun ist Im Westen nichts Neues ein Klassiker, dem man nur schwer das Wasser reichen kann, denn authentischer geht es kaum. Der Autor wusste, wovon er spricht und das merkt man an jedem einzelnen Satz. Deshalb ist die Leistung des Autors umso bemerkenswerter. So eine Tiefe und Echtheit in den Schilderungen hinzubekommen, ist schon sehr besonders. Ich hab mich auch gefragt – ohne blasphemisch werden zu wollen , ob mir dieser Roman fast noch besser gefällt als Remarque. Ich finde ihn komprimierter und sprachlich herausragend.

Die Zeitzeugen sind schon lange tot, entweder im Krieg gefallen oder im Laufe eines hoffentlich langen Lebens. Aber ihre Erinnerungen bleiben und setzen ein Zeichen, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.

Bewertung: 4.5 von 5.

Florian Schwarz: Stichling. Buchfink Verlag, 2019