Dagegen die Elefanten

Im Zentrum dieses Romans steht Herr Harald und er ist so ziemlich genau das, was man unter diesem Namen vermutet: ein unauffälliger, etwas farbloser Zeitgenosse ohne Ecken und Kanten, jedoch mit jeder Menge schrulliger Eigenschaften. Passend zum Namen hat er einen langweiligen Job an der Garderobe eines Theaters. Und es wundert nicht, dass er damit ganz zufrieden zu sein scheint.
Was passiert nun, wenn dieser spezielle Charakter in einer Tasche eines hängengelassenen Mantels eine Waffe findet?

Tatsächlich hat mich das so interessiert, dass es eines der wenigen Bücher der Longlist ist, die ich mir gekauft habe. Und grundsätzlich mag ich schräge Charaktere.
Allerdings muss diese Schrägkeit auch irgendwie in Szene gesetzt sein. Entweder durch subtilen Humor, Sprachwitz oder vereinzelte Charaktereigenschaften, in denen man sich irgendwie wiederfinden kann. Leider konnte ich nichts davon in diesem Roman entdecken. Ich fand die Figur des Herrn Haralds in seiner manirierten Art einfach nur sterbenslangweilig und kein bisschen unterhaltsam. Dass liegt sicherlich daran, dass diese Figur so ziemlich das Gegenteil von mir ist und ich da gar keine Anknüpfungspunkte finden konnte.

Zusätzlich zur farblosen Figur des Herrn Harald passiert in diesem Roman zumindest in der ersten Hälfte auch nicht besonders viel. Damit habe ich grundsätzlich erstmal kein Problem, wenn der Charakter selbst interessant ist. Ist er für mich allerdings nicht.
Dazu muss man ein gutes Drittel des Buches lesen, damit der Protagonist überhaupt die bereits im Klappentext beschriebene Waffe findet – was ja eigentlich das besondere Ereignis des Buches ist und auch mein Interesse geweckt hatte.
Leider war ich nach dieser langen Anlaufzeit schon so gelangweilt, dass ich mich nicht überwinden konnte, noch weiterzulesen. Irgendwie habe ich von Herrn Harald nicht mehr so viel Neues erwartet, ob mit oder ohne Pistole.

Möglicherweise tue ich ihm damit jetzt Unrecht, aber vielleicht ist es auch einfach ganz normal, dass nicht jedes Buch zu einem passt. Das heißt aber auch, dass es für andere durchaus passend sein kann, denn dieses Buch hat auch seine Stärken und das ist die ausgefeilte Sprache, in der es verfasst ist. Für mich hatte das leider zum Weiterlesen nicht gereicht, so dass ich meine Begegnung mit Herrn Harald nach der Hälfte des Romans beendet habe.

Allerdings muss man sagen, dass es sprachlich durchaus gut ist und sicher auch mit dazu beigetragen hat, dass es auf die Longlist des Buchpreises zu kommen. Nur hat das in meinem Fall nicht gereicht.

Bewertung: 1.5 von 5.

Dagmar Leupold: Dagegen die Elefanten. Salzburg: Jung und Jung, 2022

Anna Yeliz Schentke: Kangal

Dilek lebt mit ihrem Freund Tekin in Istanbul und leidet zunehmend unter den politischen Verhältnissen. Als ‚Kangal 1210‘ ist sie in den sozialen Medien aktiv und äußert sich kritisch über die Regierung. Doch die Repressionen gegenüber politischen Weggefährt:innen lösen große Ängste in ihr aus.

In Istanbul haben wir gelernt, anonym zu sein, anonym unter vielen und anonym im Netz. Aber das reicht nicht mehr, das habe ich begriffen. Sie können die Wohnung stürmen, dich festhalten, mitnehmen und du kannst noch nicht mal die Polizei rufen. Sie sind die Polizei.

Um dem zu entkommen und ohne ihren Freund einzuweihen, beschließt Dilek nach Deutschland zu fliegen – zu ihrer Cousine Ayla, mit der sie viele schöne Kindheitserinnerungen teilt, auch wenn sich ihre Mütter inzwischen verstritten haben.
Doch in Deutschland trifft sie auf treue Anhänger:innen besagter Regierung und eine Cousine, die mit der Türkei nur noch ein Urlaubsparadies verbindet…

Noch ein Buch der diesjährigen Longlist, was für meinen Geschmack zu wenig Beachtung erfahren hat. Denn das Thema, um das es hier geht, ist nach wie vor hochaktuell. Das macht für sich erstmal kein gutes Buch aus. Aber wie genau die Autorin die Problematik herausarbeitet, wie fokussiert sie die Konflikte beschreibt, wie vielschichtig sie dabei vorgeht – das ist für mich gute Literatur.
Ihre Schilderungen bewegen sich zwischen den Innenansichten Dileks, ihres Freundes und ihrer Cousine hin und her und auch wenn sich ihre Standpunkte unterscheiden, kann man doch vieles sehr gut nachvollziehen. Für mich war die Ausnahmesituation, in der sich Dilek befindet sehr greifbar, insbesondere das Gefühl einer permanenten Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die zitierte Passage bringt es für mich sehr gut auf den Punkt.
Für mich ein Buch, dass trotz seiner Kürze einen großen Eindruck hinterlassen hat.

Bewertung: 4 von 5.

Anna Yeliz Schentke: Kangal. Frankfurt/Main: Fischer Verlag, 2022

Fatma Aydemir: Dschinns



Als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, hat Hüseyin nur einen Traum: einmal mit der Familie zurückzukehren, in eine Eigentumswohnung in Istanbul. Und nach dreißig Jahren scheint sich dieser Traum zu erfüllen. Doch am Tag des Einzugs stirbt er völlig unerwartet.
Zur Beerdigung reisen seine mittlerweile erwachsenen Kinder an, sowie seine Frau Emine. Und jeder von ihnen hat seine ganz eigene Geschichte im Gepäck…

Bereits der Anfang dieser Geschichte hat mir die Tränen in die Augen getrieben, denn es ist so unfassbar tragisch. So viele Jahre arbeitet der Familienvater hart für seinen Traum und dann zerplatzt er in dem Moment, wo er endlich am Ziel angekommen ist.
Doch auch die ganz unterschiedlichen Lebenswege seiner vier Kinder und seiner Frau haben mich sehr berührt. Jedes Familienmitglied bekommt in einem Kapitel seine eigene Bühne und Raum für seine ganz persönliche Geschichte. Jede ist dabei sehr individuell und besonders.
Daran hat es teilweise Kritik gegeben. Es wurde in einigen Rezensionen bemängelt, dass hier zu viel Ungewöhnliches, zu viel Konfliktpotential in einer Familie zusammengefasst wurde. Wahrscheinlich ist es in der Form auch nicht die durchschnittliche türkische Familie. Aber für mich ist es genau richtig so, denn die Thematik bekommt dadurch einen ganz speziellen Fokus.
Der Roman beleuchtet in sehr eindrücklicher Weise, was passieren kann, wenn man bei der Verwirklichung seiner Träume nicht mit den ganz anderen Lebenswelten und Bedürfnissen seiner Kinder rechnet. Und mit denen seiner Frau.
Natürlich kennt man diese Geschichten über Gastarbeiterfamilien, die Konflikte der nächsten Generation. Aber durch dieses Buch beginnt man auch im Herzen zu verstehen, was das bedeutet. Mir ist diese Geschichte sehr nahe gegangen und hat einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.

Über das Ende kann man geteilter Meinung sein. Für einige ist es übers Ziel hinausgeschossen und dieser Gedanke kam mir auch. Aber letztlich schließt sich hier der Kreis und führt wieder an den Anfang zurück. Und unter dem Blickwinkel ist es sogar ausgesprochen stimmig. Ein großartiges Buch und mein persönlicher Siegertitel.

Bewertung: 4.5 von 5.

Fatma Aydemir: Dschinns. München: Hanser Verlag, 2022

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter

Das Gewicht der Mutter ist das dominierde Thema in Elas Kindheit, der Erzählerin dieser Geschichte. Genauer, ihr Übergewicht – Ursache allen Übels, das dem Vater wiederfährt. Der fehlenden Anerkennung im Beruf und Kollegenkreis, dem zu geringen Ansehen innerhalb der Dorfgemeinschaft.
Die Vielgescholtene quält sich durch diverse Diäten und stemmt nebenher nicht nur Beruf, Familie und Weiterbildung, sondern auch die Pflege der dementen Mutter und die Sorge für ein Pflegekind. Doch die verdiente Anerkennung bleibt aus.

Ein wahres Feuerwerk an Gefühlen hat dieses Buch bei mir ausgelöst. Mir hat es ausgesprochen Spaß gemacht, in diesen Mikrokosmos der 80er Jahre einzutauchen. An vieles konnte ich mich noch aus meiner Kindheit erinnern. Bestimmte Fernsehsendungen oder Süßigkeiten, Radiohits, die plötzlich aufkommende Tenniseuphorie nach dem Sieg von Boris Becker. Da kommen nostalgische Gefühle hoch. Allerdings kommt auch gleich der bittere Nachgeschmack hinterher angesichts der trügerischen bürgerlichen Familienfassade. Wichtig ist der Blick der anderen, was andere über einen denken könnten. Und auch, wenn ich nicht auf dem Dorf, sondern in der Großstadt aufgewachsen bin, kommt mir das ebenfalls sehr bekannt vor.

Das viel stärkere Gefühl, das beim Lesen hochkam, war jedoch das der Wut. Vor allem, weil der ständig kritisierende Vater selbst so wenig auf die Reihe kriegt. Die wesentlichen Arbeiten erledigt seine Frau, die spätestens nach ihrer Erbschaft auch den Wohlstand der Familie sichert. Geld, das ihr Mann gerne und mit vollen Händen ausgibt. Trotzdem ist alles, was sie tut, nie richtig, nie genug.

Aber ebenso wie das Verhalten des Vaters hat mich das der Mutter aufgeregt. Es hat bei mir fast körperliche Schmerzen verursacht, dass sie sich das alles hat gefallen lassen und ihn nicht direkt verlassen hat.

Sicher ist es Teil des traditionellen Frauenbildes, aber auch schön immer haben sich Frauen dagegen zur Wehr gesetzt und das hätte ich mir so gewünscht. Ihre Tochter hat ihr genau diese Frage gestellt. Sie wäre zu schwach gewesen, sagt sie daraufhin. Und das ist für mich das Tragische an diesem Buch. Dass sie alle Möglichkeiten gehabt hätte und doch so wenig davon für sich selbst genutzt hat. Gerne hätte ich noch mehr von der Mutter selbst erfahren, ihre Sicht der Dinge. Es wird viel über sie geredet, aber ihre eigene Stimme hört man nicht. Aber vielleicht ist es im Rahmen des Buches auch einfach nur konsequent.

Bewertung: 4 von 5.

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2022

Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins



Ksenia ist Russin, sie ist Deutsche, sie ist Jüdin, sie ist unter Zeugen Jehovas aufgewachsen, sie ist eine junge Frau, Mutter, Schriftstellerin und Wissenschaftlerin – das alles ist sie und gleichzeitig nichts davon.

Schon der erste Satz des Klappentextes umreißt ziemlich genau, worum es in diesem Romandebüt geht – um die Suche nach der eigenen Identität. Dabei fließt Vergangenes und Gegenwärtiges ineinander, fällt der Blick auf Familienmitglieder und Freunde, aber auch Fremdes, dessen Verbindung lediglich in ähnlichen Wurzeln besteht.
Daher besteht der Text nicht nur aus Erinnerungen und Gedanken, sondern auch Rechercheergebnissen aus dem Internet zum Stichwort ‚russisch‘, aus Zitaten religiöser Schriften und Notizzetteln. Eine Collage der Selbstverortung.

Das Buch lässt mich ein wenig zwiegespalten zurück. Einiges hat mir wirklich gut gefallen, beispielsweise ihre Beschreibung, wie sie als Kind nach Deutschland gekommen ist. Das Gefühl des Fremdseins und der Sprachlosigkeit, in die man sich gut hineinfühlen kann. Persönlich haben mich die Abschnitte zum Einfluss der Zeugen Jehovas auf ihre Familie und ihre Erziehung besonders gefesselt, da meine beste Freundin aus Kindertagen einer ähnlichen religiösen Gruppierung angehörte. Da kam mir vieles sehr bekannt vor.

Trotzdem konnte mich das Buch nicht so richtig in seinen Bann ziehen. Vielleicht lag es an der fragmentierten Erzählform, vielleicht an dem (für meinen Geschmack) doch zu distanzierten Blickwinkel. Der Begriff ’sezierend‘ auf dem Klappentext trifft das ganz gut.

Dafür ist es aber ganz eindeutig von allen nominierten Büchern das mit dem schönsten Cover!

Bewertung: 3 von 5.

Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins. Erlangen: Homunculus Verlag, 2022

Esther Kinsky: Rombo

Rombo ist die Bezeichnung für das Geräusch, das einem Erdbeben vorangeht – ein dumpfes Grollen tief unter der Erde. Es steht für den Gegenstand dieses Romans – die Erdbeben von 1976 in Norditalien, die zahlreiche Städte im Friaul schwer zerstört und knapp tausend Menschen das Leben gekostet haben. Sieben Bewohner*innen eines abgelegenen Bergdorfes berichten von den Spuren, die dieses Ereignis in ihrem Leben hinterlassen hat.

Ich kann mich nicht erinnern, dass mich ein Roman schon mal auf so ungewöhnliche Art berührt hat. Denn hier geht es nicht um individuelle Lebensschicksale oder um einen dramatischen Handlungsverlauf, der einen emotional mitnimmt.
Dieses Buch kommt ohne großes Getöse aus und im Gegenteil, sehr leise daher. Das mag auf den einen oder anderen vielleicht etwas handlungsarm wirken. Ebenso wie die Zeichnung der Charaktere, über die man vergleichsweise wenig erfährt.
Das könnte darüber hinwegtäuschen, dass in diesem Buch wahrhafte Schätze verborgen sind.

Für mich war diese Geschichte wie ein ruhiger Spaziergang, an dem es hinter jeder Ecke etwas Neues zu entdecken gibt. Beim Lesen habe ich mich sehr entschleunigt gefühlt, das hatte schon etwas Meditatives. In jedem Kapitel lenkt die Autorin den Blick der Leser*innen in eine bestimmte Richtung und lässt einen dort verweilen. Und je genauer man dann hinschaut, desto mehr tut sich einem auf.
Dieses Buch ist ein Zusammenspiel von Naturbeschreibungen, wissenschaftlichen und historischen Abhandlungen, Märchen und Mythen, gepaart mit den Berichten der Überlebenden. Dabei wechselt nicht nur der Focus, sondern auch die Erzählebenen, was auf mich aber dennoch sehr harmonisch gewirkt hat.
Dass dies trotz der bruchstückhaften Erzählweise gelingt, liegt im Wesentlichen an der sprachlichen Leistung der Autorin und der besonderen Komposition dieses Romans. Schriftstellerisch auf ganz hohem Niveau und zu Recht für den Buchpreis nominiert.

Dieses Buch war für mich ein absoluter Gewinn, da es einen förmlich erdet. Es lässt einen auf eine Art demütig werden angesichts den Gewalten der Natur und verweist den Menschen auf seinen Platz. Und das ist angesichts der aktuellen klimatischen Entwicklung vielleicht wichtiger denn je.

Bewertung: 4.5 von 5.

Esther Kinsky: Rombo. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2022

Deutscher Buchpreis 2021 – Ein Rückblick

Vor einigen Tagen habe ich mein letztes Buch der zwanzig Nominierten gelesen und bin selber ein bisschen erstaunt, dass es ganze 11 Bücher geworden sind. Und es sind sogar alle Titel der Shortlist dabei. Allerdings war ich von der diesjährigen Auswahl nur mäßig begeistert, um es mal vorsichtig auszudrücken. Auch mit dem Siegertitel konnte ich mich nicht anfreunden.

Von der Shortlist am besten gefallen hat mir:
📚 Christian Kracht: Eurotrash 🌟 4

Tja und das war’s dann auch schon… alle anderen Titel fand ich zwiespätig bis hin zu regelrecht ärgerlich:
📚 Norbert Gstrein: Der zweite Jakob 🌟 3
📚 Antje Ravik Strubel: Blaue Frau 🌟 2,5
📚 Monika Helfer: Vati 🌟 2,5
📚 Mithu Sanyal: Identitti 🌟 2
📚 Thomas Kunst: Zandschower Klinken 🌟 1

Mein persönliches Highlight war daher auch von der Longlist:
📚 Heinz Strunk: Es ist immer so schön mit dir 🌟 4,5

Ganz gut gefallen hat mir auch:
📚 Henning Ahrens: Mitgift 🌟 3,5
📚 Dana Grigorcea: Die nicht sterben 🌟 3,5

Nicht überzeugen konnte mich:
📚 Shida Bazyar: Drei Kameradinnen🌟 2
📚 Gert Loschütz: Besichtigung eines Unglücks 🌟 1,5

Unschwer erkennbar war für mich der Buchpreis in diesem Jahr wenig erfreulich. Viele Nominierungen konnte ich schlichtweg nicht nachvollziehen, vor allem da es andere – deutlich bessere – Bücher, noch nicht mal auf die Liste der zwanzig Nominierten geschafft haben. Ich muss das jetzt erstmal verdauen, aber ich denke, dass ich in Zukunft mehr Abstand zu diesem Preis und seinen Büchern halten werde.

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos

Ein Epos auf eine Heldin unserer Zeit, ehemalige Kämpferin in der kommunistischen Résistance und später der algerischen Unabhängigkeitsbewegung.

Obwohl mich die Leseprobe nicht begeistern konnte, haben mich die vielen positiven Kritiken veranlasst, einen genaueren Blick auf den Siegertitel des diesjährigen Deutschen Buchpreises zu werfen. Außerdem handelt es sich um den diejährigen Siegertitel des Deutschen Buchpreises, was ja vielleicht auch nicht ganz unbegründet ist.
Nur musste ich feststellen, dass es mir nach gut 60 Seiten nicht viel anders ging als nach der Leseprobe. Es ist nicht meins…

Die Geschichte als solche finde ich wirklich interessant. Ich lese Romane aus dieser Zeit sehr gerne, insbesondere wenn sie eine biografische Grundlage haben, und in anderer Form hätte ich sie auch gerne gelesen. Aber als Epos verpackt konnte ich damit nichts anfangen. Mich interessieren an solchen Lebensgeschichten Details, Charaktere, Entwicklungen und Emotionen. Das Besingen von Lebensereignissen war mir in dieser verknappten Form viel zu wenig und auch zu künstlich. Als hätte man die Geschichte in ein Korsett gesperrt. Viele feiern ja gerade die sprachliche Form, aber bei mir konnte sich diese Wirkung nicht entfaltet. Das fand ich ausgesprochen schade, denn aus dieser spannenden Lebensgeschichte hätte man für meinen Geschmack schriftstellerisch sehr viel mehr machen können. Aber das wäre dann ein anderes Buch gewesen.
Nach einem Drittel des Buches habe ich beschlossen, meinem ersten Lesegefühl zu folgen und das Experiment zu beenden. Aber ich hab’s zumindest versucht.

Bewertung: 1.5 von 5.

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos. Berlin: Matthes & Seitz, 2020

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt

Welche Farbe hat die Traurigkeit?“, hatte Samuel gefragt […]
„Nachtblau.“
„Wo fängt sie an?“
„Hier“, sagte Liv und legte die Hände auf die Brust.


Es sind Dialoge wie dieser zwischen Vater und Tochter, die das Buch direkt in mein Herz katapultiert haben und dieser Roman bietet auf seinen gut 200 Seiten eine Fülle davon. Man könnte eigentlich ständig innehalten und Sätze markieren oder rausschreiben.

Dieser Roman erzählt die Geschichte einer rumänischen Familie zur Zeit der Herrschaft Ceauşescus und nach dem Ende der Diktatur. Die einzelnen Kapitel beleuchten jeweils eines der Familienmitglieder oder der Menschen, die ihren Weg kreuzen und das mit solcher Tiefe, dass einem die einzelnen Personen trotz des geringen Umfangs des Romans sehr nah kommen.
Die Autorin tut dies mit einer ganz wunderbar zarten, leicht melancholischen Sprache, die eine große Präzision hat. Sie beleuchtet die Charaktere mit einem scharfen Blick, der einem gleichzeitig ein ganz weiches und warmes Gefühl im Herzen bereitet.

Warum es dieses Buch nicht auf die Shortlist des Buchpreises geschafft hat, ist mir ein absolutes Rätsel. Von allen nominierten Büchern, die ich bisher gelesen habe, gefällt es mir mit Abstand am besten. Allerdings steht der Siegertitel noch aus, den ich nächsten Monat lesen möchte. Aber bis dahin hab ich meinen Sieger gefunden.

Bewertung: 4 von 5.

IrisWolff: Die Unschärfe der Welt. Stuttgart: Klett-Cotta, 2020

Valerie Fritsch: Herzklappen von Johnson & Johnson

Wie wird ein Kind zum Menschen, zu einem mitfühlenden sozialen Wesen, wenn es die Verwundbarkeit nicht kennt? Wenn es nicht versteht, wie sehr etwas wehtun kann?
Diese Frage stellt der Klappentext stellvertretend für Alma, deren Sohn keinen Schmerz empfinden kann.
Ein Roman einer emotionalen Spurensuche, den gelebten, aber vor allem den ungelebten, die Generationen überdauern.

Der Auftakt dieses Romans hat mir außerordentlich gut gefallen, denn hier berichtet die Autorin von Almas Kindheit, die Beziehung zu ihren Eltern und Großeltern. Die erdrückende Atmosphäre der gegenseitigen Fremdheit und Sprachlosigkeit ist sehr gut herausgearbeitet worden, sowohl inhaltlich als auch sprachlich. Die innere Einsamkeit der Protagonistin lässt sich gut nachempfinden.
Je länger ich jedoch gelesen habe – und der Roman ist wahrlich nicht dick – hat mich die Geschichte immer mehr verloren und das lag für mich nicht am Thema, sondern an der Umsetzung.
Man hat das ja manchmal bei Musikvorträgen. Vor lauter Bemühen, besonders gut zu singen und die richtigen Töne zu treffen wird es zu einem seelenlosen Gesang – schön, aber ohne Emotion.
Und so ähnlich ging es mir hier. Vor lauter Bemühen um die perfekte sprachliche Form kam bei mir immer weniger an Emotion an, was umso fataler ist, da es ja genau um dieses Thema geht. Auch fand ich den inneren Klappentext einigermaßen irreführend, denn er suggeriert, die besondere Situation des gefühllosen Kindes wäre ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte. Das hab ich so nicht empfunden. Für mich war das eher ein Aufhänger am Rande. Im wesentlichen geht es hier um Alma und ihre Spurensuche in der Vergangenheit.
Die ist sprachlich schön anzuschauen, aber mitnehmen konnte sie mich nicht.

Bewertung: 2.5 von 5.

Valerie Fritsch: Herzklappen von Johnson & Johnson. Berlin: Suhrkamp, 2020