Frank Wedekind: Frühlings Erwachen

Wedekinds bekanntestes Drama, das den Untertitel ‚Eine Kindertragödie‘ trägt, handelt von den Nöten der Heranwachsenen im ausgehenden 19.Jh. und ist um die Jungen Moritz und Melchior, sowie dessen Freundin Wendla zentriert.
Während Moritz und Melchior zwischen Prüfungdruck und anderweitigem Druck aufgrund aufkeimender sexueller Regungen hin- und hergerissen werden, will nun auch Wendla endlich wissen, wo die Kinder herkommen. Ihre Mutter greift in ihrer Ratlosigkeit auf den guten alten Storch zurück. Melchior hat da schon mehr zu bieten und verfasst für seinen Freund eine selbstgeschriebene und bebilderte Aufklärungsschrift, die bei dem von Selbstzweifeln Geplagten nur noch größere Verwirrung auslöst.
Als Melchior und Wendla sich näher kommen und Moritz für sich den Freitod wählt, nimmt die Katastrophe ihren Lauf…

Manche Autoren sind ihrer Zeit voraus. Wedekind war es definitiv, denn in Zeiten größter Prüderie und Doppelmoral Sex zum Thema eines Bühnenstücks zu machen, dazu gehört schon Mut. Wenn man sich dabei auch nicht scheut, über gleichgeschlechtliche Liebe und Masturbation zu schreiben, dann gebührt einem allergrößter Respekt. Natürlich ist den Biedermeiern solle Unmoral übel aufgestoßen und entsprechend verboten oder zensiert war dieses Stück eine geraume Zeit.

Ich finde dieses Drama ganz wunderbar geschrieben und in seiner Doppelmoral hervorragend herausgearbeitet. Trotz seines ernsten und leider auch sehr realitätsnahem Thema ist das Stück von einem grotesken Humor durchzogen, der mich des öfteren zum Lachen gebracht hat. Kein Wunder, dass hier Grabbe und Büchner im Geiste Pate gestanden haben.

Bewertung: 4.5 von 5.

Frank Wedekind: Frühlings Erwachen. Stuttgart: Reclam, 1971 (Original 1890)

Ausgelesen: Januar 2021

Für mich war der Januar mit zehn Büchern sehr umfangreich und voller Highlights – welch ein schöner Start in dieses Jahr!

Zu den Lesehighlights gehören:

📚 Hallie Rubenhold: The Five
📚 Young-Ha Kim: Aufzeichnungen eines Serienmörders
📚 Elif Shafak: Ehre
📚 Takis Würger: Der Club
📚 Volker Kutscher: Märzgefallene
📚 Volker Kutscher: Lunapark
📚 Püstow & Schachner: Jack the Ripper

Mit einigen Abstrichen ganz gut gefallen hat mir:
📚 Marc Raabe: Schlüssel 17

Zwiegespalten war ich bei:
📚 W.G. Sebald: Austerlitz

Gar nicht überzeugen konnte mich:
📚 Taylor Adams: No Mercy

Das Buch des Monats ist diesmal ein aktuelles, dem der Verdienst zukommt, einen neuen und ganz anderen Blick auf ein bekanntes Thema geworfen zu haben. Den Opfern Jack the Rippers einen letzten Dienst zu erweisen und aus der Vergessenheit herauszuholen, hat eine besondere Anerkennung verdient.
📚 Hallie Rubenhold: The Five

Der Klassiker des Monats ist ein Kriminalroman eines Autors, der eigentlich als Dramatiker bekannt geworden ist. Aber auch seine Romane um den Kommissar Bärlach sind lesenswert und so gehaltvoll, dass sie sogar zur verbreiteten Schullektüre geworden sind.
📚 Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker

Franz Kafka: Die Verwandlung

Der Stoff der nun schon gut hundert Jahre alten Erzählung ist allgemein bekannt und wahrscheinlich dem einen oder anderen im Rahmen des Deutschunterricht begegnet – hoffentlich mit nicht allzu schlechten Assoziationen.
Diese Geschichte ist Kafkas bekannteste und so stilprägend, dass der Begriff kafkaesk sogar in den deutschen Wortschatz übergegangen ist. Er beschreibt laut Duden eine unerklärlich bedrohliche oder auch absurde Situation und das ist sie wirklich, wacht doch der Protagonist dieser Erzählung eines Morgens als Käfer auf…

Auch beim zweiten Lesen bin ich wieder beeindruckt über das skurrile Szenario, das wie kein anderes die Entfremdung des Individuums in einem Bild festhält. So ein stilprägendes Werk in einem so jungen Alter zu schreiben, das ist schon eine Meisterleistung, die bis heute inspiriert – wie man kürzlich bei McEwans Kakerlake wieder sehen konnte. In Werk mit hoher Symbolik und Ausdruckskraft, damals wie heute sehr lesenswert.

Bewertung: 4 von 5.


Franz Kafka: Die Verwandlung und andere Erzählungen. Königswinter Tandem Verlag (Original 2015)

Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür

Dieses Dramen ist vielleicht nicht ganz so bekannt, da der Autor bereits 1947 mit nur 26 Jahren verstorben ist, zerbrochen am Krieg und seinen Folgen. Allein zwei Jahre blieben ihm, um sich seine Verzweiflung von der Seele zu schreiben und das Ergebnis ist hier zu lesen, Remarque in dramatischer Form…

Nach sieben Jahren Krieg und sibirischer Gefangenschaft kehrt Beckmann nach Hause zurück, mit steifem Bein und gezeichnet von den Schrecken des Krieges. Doch das Zuhause, von dem er im Schützengraben geträumt hat, gibt es nicht mehr. Seine Frau teilt ihr Bett inzwischen mit einem anderen, seine Eltern sind gestorben und in seinem Elternhaus wohnt eine fremde Familie. Wohin er sich auch wendet, stößt er auf Unverständnis und Abwehr. Der Krieg ist für die Menschen ein längst abgeschlossenes Kapitel, eine unbequeme Wahrheit, mir der man möglichst wenig zu tun haben möchte. Und Beckmann steht draußen, draußen vor der Tür.

Allein der Titel des Dramas steckt schon so voller Aussage über das Leid der Kriegsheimkehrer, die für eine Ideologie und ein Land in den Krieg gezogen sind, das hinterher nichts mehr von ihnen wissen wollte und sie allein gelassen hat mit ihrer Schuld, ihrer Enttäuschung und dem Grauen in ihren Köpfen.
Hier schreibt jemand, der sich nicht erst im stillen Kämmerlein eine Geschichte ausdenken muss, weil er Schriftsteller werden will, sondern der schreibt, weil die Geschichten aus ihm herausschreien und der aus dem tiefsten Grunde seines Herzens etwas mitzuteilen hat. Weil es seine eigene Geschichte ist und die erschüttert bis ins Mark, denn die Verzweiflung steckt hier in jedem einzelnen Wort.
Dieses Drama gehört für mich zu den besten, die je geschrieben wurden. Emotionaler, authentischer und eindringlicher geht es kaum.
Ein Meisterwerk der dramatischen Literatur.

Bewertung: 4.5 von 5.

Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1986 (Original 1947)