Alba de Céspedes: Aus ihrer Sicht

Alessandra muss von Beginn an in die Fußstapfen Ihres früh verstorbenen Bruders treten, von dem sie (mit einer leichten Abwandlung) auch den Namen geerbt hat. Als einziges Kind genießt sie die besondere Aufmerksamkeit der Mutter, mit der sie ein innige Verhältnis verbindet. Sie ist fasziniert von der Eleganz und den künstlerischen Fähigkeiten ihrer Mutter, die als Klaviervirtuosin wohlhabenden Damen Privatunterricht erteilt.
Der Vater hat für sie nur Verachtung übrig. Sie ist ihm zu dünn, zu hässlich und hat – so wie die literaturbegeisterte Tochter – eine Schraube locker, was er ihnen bei jeder Gelegenheit unmissverständlich unter die Nase reibt . Beide passen nicht in das Bild, dass man von italienischen Frauen in den 30er Jahren erwartet.
Als die Mutter versucht, aus diesem Gefängnis auszubrechen, bahnt sich eine Tragödie an…

Das Buch war für mich wie eine kleine Zeitreise ins Italien der 30er und 40er Jahre, dessen Atmosphäre die Autorin ganz wunderbar eingefangen hat. Ebenso wie die starken Frauenfigur, die versuchen, in dem patriarchialischen System ihre Nischen zu finden. Da spürt man an jeder Ecke den Geist des Aufbegehrens, offen oder im stillen und sehr viel Solidarität unter den Frauen. Dass die fiktive Ich-Erzählerin ihrer mutigen Mutter erzählerisch ein Denkmal setzt, ist sehr schön zu lesen.
Es wundert da nicht, dass sie einen ähnlich unbeugsamen Geist hat und sich für ihr Leben noch anderes vorstellt als Kinder zu kriegen und den Haushalt zu führen.
Sie beschließt zu studieren und ein unabhängiges Leben zu führen. Doch dann kreuzt Francesco ihren Weg, der im antifaschistischen Untergrund arbeitet…

Tja und hier wendet sich leider für mich auch die Geschichte. Denn Francesco ist zwar auf den ersten Blick deutlich umgänglicher als ihr griesgrämiger Vater, aber das Thema Gleichberechtigung kommt auch in seiner Welt nicht vor.
Nach dem ersten Teil des Romans hatte ich ja erwartet, dass sie Francesco ordentlich die Leviten liest.

Stattdessen hat die Liebe zu diesem Intellektuellen ihr aber sämtliche Zähne gezogen. Statt ihm gehörig in den Hintern zu treten, wird er angeschmachtet, was das Zeug hält und pausenlos die Liebe zu ihm beschworen, die er zunehmend immer weniger verdient. Das war für mich teilweise nur schwer auszuhalten und ich habe ständig Alessandras Temperament und Selbstbewusstsein aus der ersten Hälfte des Buches vermisst. Das Ende war einigermaßen überraschend, aber sehr stimmig und konsequent. Ein guter Abschluss, der den Titel auch erst dann wirklich erklärt. Auch wenn ich im zweiten Teil ganz schön gelitten habe, hat mir das Buch gut gefallen und ich kann es ohne Bedenken weiterempfehlen.

Bewertung: 3.5 von 5.

Alba de Céspedes: Aus ihrer Sicht. Berlin: Insel Verlag, 2023

Uwe Wittstock: Februar 33 – Der Winter der Literatur

Neunzig Jahre ist es jetzt her, dass dieser Monat als Beginn der Naziherrschaft in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Innerhalb weniger Wochen wurden das Parlament und sämtliche Grundrechte außer Kraft gesetzt.
Was das für die Intellektuellen und Kulturschaffenden des Landes bedeutete und wie sie diese Tage durchlebten, davon erzählt dieses Buch.

Auch wenn ich schon einiges über diese Zeit gelesen habe, bin ich immer wieder auf’s Neue entsetzt, wie schnell Hitlers Machtergreifung von statten ging und wie naiv ihm führende Politiker und Funktionäre dafür den Weg bereitet haben. Naiv aus heutiger Sicht, denn auch viele Intektuelle haben diese Entwicklung nicht kommen sehen und gingen davon aus, dass der Spuk bald vorbei ist. Noch zu Beginn des Monats schlägt Heinrich Mann den dringenden Rat eines Freundes zur Flucht in den Wind und hält es für übertriebene Panikmache. Nur sieben Tage später muss er unter größter Geheimhaltung das Land verlassen, bevor ihm der Pass entzogen wird. Buchstäblich in letzter Minute, denn schon am nächsten Tag durchsucht die SA seine Wohnung. So weitsichtig wie Joseph Roth sind seinerzeit nur die Wenigsten – so unvorstellbar erscheint das, was kommen wird. In einem Brief an Stefan Zweig schreibt er bereits Ende Januar 33:
„Inzwischen wird es Ihnen klar sein, daß wir großen Katastrophen zutreiben. Abgesehen von den privaten – unsere literarische und materielle Existenz ist ja vernichtet – führt das Ganze zum neuen Krieg. Ich gebe keinen Heller mehr auf unser Leben. Es ist gelungen, die Barberei regieren zu lassen. Machen Sie sich keine Illusionen. Die Hölle regiert.“ (S. 31)

Das Buch spiegelt die ganze Palette der Einschätzungen der politischen Lage innerhalb der damaligen Künstlerszene wieder und die jeweiligen Handlungen, die daraus folgten. Einige passten sich den veränderten Bedingungen an, andere bezahlten für ihre politische Einstellung mit dem Leben. Für die meisten führte der Weg ins Exil.

Für mich ein ausgesprochen interessantes und lesenswertes Buch. Allerdings sollte man schon einiges an Vorwissen über die Kulturschaffenden dieser Zeit mitbringen, um das Geschriebene besser einordnen zu können. Es fallen viele Namen und es ist daher hilfreich, wenn man dazu ein Bild vor Augen hat oder den einen oder anderen Klassiker kennt.

Bewertung: 4 von 5.

Uwe Wittstock: Februar 33 – Der Winter der Literatur. München: Beck, 2021

Ray Bradbury: Halloween

Üblicherweise kennt man ihn nur als den Autor von Fahrenheit 451. Aber das Ray Bradbury neben futuristischen Romanen auch zahlreiche Fantasy- und Horrorgeschichten geschrieben und Stephen King mit beeinflusst hat, ist eher weniger bekannt.

So ist auch dieser kurze Roman eine Mischung aus Fantasy- und Gruselgeschichte, die am titelgebenden Halloweenabend spielt.
Acht Jungen sind wie jedes Jahr ausgezogen, um in ihren gruseligen Kostümen die Nachbarschaft zu erschrecken und Süßigkeiten zu sammeln. Doch auf ihrem Weg geraten sie diesmal an ein Haus, das ihnen das Fürchten lehrt. Und nicht nur das…

Ohne Frage, dieses Buch ist speziell. Wenn man sich nicht auf fantasievolle Szenarien einlassen kann, ist es wahrscheinlich nicht die richtige Lektüre. Hier passieren definitiv Dinge, die den üblichen Rahmen der Realität sprengen.
Der Autor lässt seine acht Protagonisten am eigenen Leibe erleben, was das Halloweenfest wirklich bedeutet und welche Wurzeln es hat und begibt sich mit ihnen auf eine ungewöhnliche Reise. Das ist in seiner Art auf jeden Fall ungewöhnlich, aber auch sehr interessant. Und für den Anlass ausgesprochen stimmungsvoll.

Da ich selbst mit Fantasy teilweise meine Schwierigkeiten habe, bin ich bei diesem Buch etwas hin- und hergerissen. Auch wenn es thematisch sehr stimmig ist, fand ich es in der Umsetzung teilweise zu abgedreht. Allerdings geht mir das mit Stephen King auch hin und wieder so und Fans von Fantasy werden hier sicher ihre Freude haben. Und wahrscheinlich auch eher die, denn so richtig gruselig wird es hier nicht. Allerdings lernt man einiges Wissenswertes über das allseits bekannte Fest und das ist in jedem Fall die Lektüre wert.

Bewertung: 3 von 5.

Ray Bradbury: Halloween. Zürich: Diogenes, 1974

Juli Zeh: Über Menschen

Frühjahr 2020: Der Lockdown hat Deutschland fest im Griff. Dora, zunehmend unzufrieden mit dem Leben in der Großstadt und ihrem Freund, der sich zum ausgeprägten Klimaaktivisten entwickelt. Kurzentschlossen kauft sie ein Haus im brandenburgischen Bracken. Doch die erhoffte Dorfidylle stellt sich nicht ein. Das Haus renovierungsbedürftig, der Garten verwildert und ein Nachbar, der sich als Nazi entpuppt…

Ich mochte Unterleuten, ebenfalls ein Roman mit dörflichem Mikrokosmos, ausgesprochen gerne. Ähnliches hatte ich mir auch hier versprochen.
Nur leider konnte ich mich mit dieser Neuauflage des Dorflebens gar nicht anfreunden.
Vielleicht war es kein guter Auftakt, neben den täglichen Corona-Nachrichten jetzt auch noch in Buchform darüber zu lesen. Da will man eigentlich direkt wieder zuklappen. Nun hätte einen der Rest der Geschichte über dieses leidige Thema hinwegtrösten können. Nur leider fand ich sie nur mäßig interessant und inhaltlich nicht ganz unproblematisch. Klar möchte die Autorin mit der Figur des Dorfnazis ein Statement gegen platte Schwarzweiß-Malerei setzen und dagegen ist ja erstmal nichts einzuwenden. Nur empfinde ich Dora in ihrer Haltung als zu blass und zaghaft, um hier ein überzeugendes Gegengewicht zu bilden. Leider wurde bei der Figur des Grote auch nicht mit Kitsch gespart, denn er leidet nicht nur unter einer schweren Krankheit, sondern ist auch noch Vater einer herzallerliebsten Tochter, die bei Dora direkt verschüttete Muttergefühle weckt. Puhhh, das war eindeutig zu viel des Guten.
Statt Verständnis und Mitgefühl hat dieses Figurenensemble bei mir eher genervtes Kopfschütteln ausgelöst, das war für mich einfach drüber. Sehr schade.

Bewertung: 2 von 5.

Juli Zeh: Über Menschen. München: Luchterhand Verlag, 2021

Isabel Allende: Fortunas Tochter


Valparaiso, Mitte des 19.Jh.: Eliza wächst als chilenisches Findelkind in einer wohlhabenden englischen Familie auf. Es ist ein harmonisches und unbeschwertes Familienleben, bis sich die heranwachsende Eliza unsterblich in einen Angestellten der Familie verliebt. Als er sich den Goldsuchern anschließt und nach Amerika auswandert, beschließt Eliza, ihm zu folgen und den Geliebten zu suchen. Sie reißt von zu Hause aus und schmuggelt sich als blinder Passagier auf ein Segelschiff, das sie nach San Francisco bringt…

Verliebte Frau sucht ihren Geliebten ist als Motiv sicher nicht neu und häufig auch nicht frei von Kitsch. Und wenn man gar nichts mit Liebesgeschichten anfangen kann, könnte dieses Buch vielleicht auch nicht das richtige sein, wenn nicht… Isabel Allende sie geschrieben hätte.
Schon beim ‚Geisterhaus‘ habe ich mich gefragt, warum ich nicht schon viel mehr von dieser großartigen Schriftstellerin gelesen habe. Denn sie hat eine ganz wundervolle Art zu erzählen und das findet man auch hier wieder. Eine sehr bildhafte Sprache, mit viel Liebe zum Detail und zu den Figuren, die vor einem quasi lebendig werden. Viele von ihnen schließt man spontan ins Herz, aber auch die Unsympathen sieht man direkt vor sich, fühlt und leidet mit.
Und was Allende noch kann, Geschichte einfangen. Ihres eigenen Landes oder wie hier, die Geschichte amerikanischer Einwanderer. Die Goldsucher-Bewegung war für mich relativ neu und daher umso interessanter, darüber etwas zu erfahren. Und das umso mehr, wenn man weiß, dass die Autorin dabei genau recherchiert und reale Ereignisse mit ein geflochten hat.

Auch wenn dieses Buch für mich nicht die gleiche Kraft hatte wie das Geisterhaus, war es für mich eine große Freude, dieses Buch zu lesen.

Mein Fazit: Unbedingt mehr Allende lesen!

Bewertung: 4.5 von 5.

Isabel Allende: Fortunas Tochter. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1999

Dante Alighieri: Die göttliche Komödie

Sie gehört zu den ganz großen Werken der Weltliteratur, die Göttliche Komödie – entstanden zwischen 1307 und 1321, in gedruckter Form aber erst 1472 erschienen.
Vieles an persönlicher Auseinandersetzung ist in dieses Werk eingeflossen, denn Dante lebte aufgrund eines gegen ihn verhängten Todesurteils seit 1301 im Exil, nachdem alle seine Güter beschlagnahmt wurden.
Auf dem Hintergrund dieser Lebenskrise wundert es nicht, dass man Dante höchstselbst an der Seite Vergils auf der Wanderung durch die drei Jenseitsreiche begleitet. Dabei begegnet er nicht nur zahlreichen historischen Persönlichkeiten, politischen Widersachern und Weggefährten, die ihre jeweilige Strafe verbüßen, sondern macht auch selbst einen Prozess der Läuterung durch.
In jeweils 33 bzw. 34 Gesängen führt dieser Weg durch die sieben Kreise der Hölle (Inferno), das Fegefeuer (Purgatorio) hin zum Paradies (Paradiso).

Das war wahrlich keine einfache Kost, soviel schon mal vorab. Teilweise auch regelrecht Recherchearbeit, denn spätestens bei den zeitgenössischen Anspielungen zur florentinischen Politik ist man in der Regel raus. Leider hatte ich in meiner Ausgabe aus dem Nikol-Verlag keine Anmerkungen, obwohl ich sie optisch wunderschön finde. Geholfen hat mir beim Verständnis des doch sehr schwierigen Werkes – neben Google – die Einführung von Franziska Meier.

Gut gefallen hat mir die Bildhaftigkeit und die komplexe Anlage der Jenseitsreiche, in der antike und christliche Vorstellungen miteinander verschmelzen. Ich hatte vieles sehr bildlich vor Augen und das hat gerade auf dem Weg durch die Hölle und das Fegefeuer eine sehr apokalyptische Stimmung verbreitet. Auch die unterschiedliche Gewichtung der Sünden und ihrer entsprechenden Strafen, die zum Teil deutlich von unserem heutigen Verständnis abweicht, fand ich sehr interessant.

Beim Paradies war dann aber für mich Schluss – was hat das zu bedeuten…
Ähnlich wie Dantes Begleiter Vergil kam ich hier auch nicht rein, gedanklich gesehen. Das war mir zu theologisch mystifiziert, zu verklärend, auch wenn diese Art der Darstellung zum Gesamtentwurf passt. Aber auch die Idealisierung von Dantes Jugendliebe Beatrice, die ihn engelsgleich durch die Kreise des Himmels führt, war mir zu viel des Guten. Trotzdem bin ich froh, es gelesen zu haben, denn es liefert das nötige Hintergrundwissen für all die Verweise, die es in der Literatur immer wieder auf dieses Werk gibt. Allerdings sollte man nicht mit dem Anspruch rangehen, jedes Detail verstehen zu wollen. Dann könnte es ein ziemlich umfangreiches Projekt werden…

Bewertung: 2.5 von 5.

Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. Hamburg: Nikol Verlag, 2016 (italienisches Original 1307-1321)

Patrícia Melo: Gestapelte Frauen

Eine junge Anwältin begibt sich in die Amazonasprovinz Acre, um an Gerichtsverhandlungen zu verschiedenen Frauenmorden teilzunehmen. Besonders betroffen macht sie der grausame Tod einer erst 14jährigen Indigenen, die von drei Männern gefoltert, vergewaltigt und umgebracht wurde. Das Trio, Studenten aus gutem Hause und mit entsprechenden gesellschaftlichen Verbindungen, werden frei gesprochen.
Die Anwältin und ihre Kolleginnen können dieses Unrecht nicht akzeptieren und begeben sich dabei selbst in tötliche Gefahr…

Ein Buch wie ein Blitzeinschlag, das mich wirklich sehr mitgenommen hat. Denn auch wenn es sich um eine fiktive Geschichte handelt, hat sie ihre zahlreichen Entsprechungen in der Realität. Um das zu untermauern, setzt die Autorin reale Ereignisse und Zeitungsmeldungen an den Beginn ihrer Kapitel.
Aber in ihrem Buch geht es nicht nur um diese Extreme, sondern um Gewalt gegen Frauen als solches. In einem Interview sagt die Autorin:
„Wenn eine Frau von einem Mann ermordet wird, ist das nur die Spitze des Eisbergs. Dahinter liegt eine lange Geschichte des Missbrauchs. Ich muss sagen, dass mich noch nie eine Recherche für ein Buch so sehr mitgenommen hat. Ich habe mit Anwälten gesprochen, mit Sozialarbeitern, mit Überlebenden, habe an vielen Prozessen teilgenommen – und die Geschichten sind immer dieselben. Bevor die Frauen ermordet wurden, wurden sie bedroht, geschlagen, erniedrigt, vergewaltigt. Der Mord ist nur das letzte Kapitel.“

Dieses Buch ist eine schonungslose Anklage in einer zum Teil sehr derben Sprache und in seiner Direktheit auch nichts für zartbesaitete Gemüter. Aber vielleicht braucht es für dieses Thema auch genau diese Form von Hammerschlag, um dafür zu sensibilisieren.
Natürlich muss man immer aufpassen, hier nicht zu verallgemeinern und in diesem Kontext war mir das Ende schon fast zu viel des Guten. Denn natürlich gibt es auch andere Männer.
Ähnliches gilt für die Abschnitte zu den Amazonen, die der Anwältin immer wieder in Träumen oder drogenbedingten Visionen erscheinen. Diese sind ebenso blutrünstig wie die Taten, die hier in diesem Buch angeprangert werden. Da hätte ich mir einen positiveren Gegenentwurf gewünscht.

Trotz dieser Kritikpunkte ein wichtiges Buch über ein Thema, das jede erdenkliche Aufmerksamkeit verdient.

Bewertung: 4 von 5.

Patrícia Melo: Gestapelte Frauen. Zürich: Unionsverlag, 2019

Eva Menasse: Dunkelblum


Direkt an der ungarischen Grenze im österreichischen Burgenland liegt die kleine Gemeinde Dunkelblum, auf den ersten Blick eine ganz normale Kleinstadt. Doch hinter der gutbürgerlichen Fassaden verbirgt sich die Geschichte eines Verbrechens, in das eine Vielzahl der älteren Dorfbewohner verwickelt war. Das Wissen um die Ereignisse, die sich in den letzten Kriegsjahren ereigneten, verbindet die Dorfbewohner auf unheilvolle Weise.
Doch im Jahr 1989, einer Zeit des allgemeinen Umbruchs, statten verschiedene Fremde dem verschlafenen Dorf an der Grenze einen Besuch ab und beginnen, unangenehme Fragen zu stellen…

Ein wirklich gutes Buch offenbart sich oft schon auf der ersten Seite. Wenn es dem Autor gelingt, mit wenigen Sätzen eine Stimmung zu transportieren, die einen sofort ergreift und in die Geschichte zieht.
Genau das passiert hier. Schon nach der ersten Seite spürt man die unangenehme Atmosphäre dieses nach außen hin gutbürgerlichen Dorfes, hinter dessen Fassade es nur so brodelt. Die soziale Kontrolle und die Enge in diesem dörflichen Mikrokosmos war sehr gut herausarbeitet und zieht sich als düstere Stimmung durch das ganze Buch, ebenso wie das Grundthema: die kollektive Verdrängung einer großen Schuld.
Dass sich die Österreicher mit der Vergangenheitsbewälrigung mitunter schwer tun, ist nicht neu, aber selten wurde es literarisch so auf den Punkt gebracht wie in diesem Buch. Die Prozesse der Verdrängung und des Verschweigens, die so raumgreifend sind, weil so viele etwas zu verlieren haben.
Für mich war es erschreckend zu lesen, wie viele in diesem kleinen Dorf von der Vertreibung der Juden profitiert haben. Ich habe selten so eindrückliche Schilderungen der Judenvertreibung gelesen, die von einem Tag auf den anderen alles verlieren: Ihr Eigentum, ihr Dach über dem Kopf, ihre Familie, ihre Menschenwürde, ihr Leben.

Mich hat das Buch in jeglicher Hinsicht tief bewegt und erschüttert und wird sicher noch lange nachwirken. Ein wichtiges Buch, dass ich nur jedem wärmstens ans Herz legen kann.

Bewertung: 4.5 von 5.

Eva Menasse: Dunkelblum. Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 2021

Maxim Biller: Der falsche Gruß

Der junge Leipziger Erck Dessauer, angehender Schriftsteller mit großen Ambitionen, versucht im Berlin der Jahrtausendwende Fuß zu fassen. Und er bekommt ihn endlich, den lang ersehnten Buchvertrag bei einem renommierten Verlag. Wäre da nicht der intrigante Journalist Hans Ulrich Barsilay, bekannte Größe der Berliner Gesellschaft und Literaturszene, der ihm sein Projekt streitig machen will…

An Biller scheiden sich ja die Geister und auch dieser (recht schmale) Roman beweist mal wieder, everybody’s darling ist er nicht und will es wohl auch nicht sein. Und das mag ich an ihm. Seine kantige Art und den scharfzüngigen Stil, in dem er gerne mal vor sich hinätzt – in diesem Fall in Richtung Literaturbetrieb. Schnell wurden in den Rezensionen bekannte Größen wiedererkannt, wie beispielsweise den verstorbenen Frank Schirrmacher in der Figur des Barsilay. Auch konnte man als LeserIn mitraten, wie viel an Biller in Erck Dessauer steckt und wahrscheinlich findet man einiges von ihm in beiden Figuren, zumal wenn man an seinen verbotenen Roman Esra denkt.

Anfangs hatte ich etwas Mühe, in das Thema des Romans reinzukommen. Es hätten für meinen Geschmack auch ruhig ein paar Seiten mehr sein können. Insgesamt hat mich dieser kleine Ritt durch den Literaturbetrieb der Jahrtausendwende aber gut unterhalten, spätestens beim unangekündigten Besuch seiner Angebeteten, bei dem ich mehrfach laut lachen musste.
Das war für mich auch ein großer Pluspunkt des Romans, dass der Ich-Erzähler nicht mit Ironie in die eigene Richtung spart und sich voller Selbstzweifel durch den noch unbekannten Berliner Literaturbetrieb bewegt.
Einzig das Klischee der blonden vollbusigen Frau seines Begehrens, die natürlich auch noch mit roten Lippen und auf hohen Schuhen daherkommt, hat bei mir ein genervtes Augenrollen ausgelöst, allerdings… wer kann schon was für seine geheimen Fantasien…

Bewertung: 3.5 von 5.

Max Biller: Der falsche Gruß. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2021

Esther Becker: Wie die Gorillas

Zu viert müssen sie mich festhalten. Vielleicht auch zu fünft. Ob ein Paar der vielen Hände zu meinem Vater gehört, ist nicht sicher, meine Augen sind fest verschlossen.
Wer nach diesen ersten Sätzen Schlimmstes befürchtet, ist fast schon ein bisschen erleichtert nur wenige Zeilen später zu erfahren, dass es hier „nur'“ darum geht, einem kleinen Mädchen Augentropfen zu verabreichen, die sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt. Nur in Anführungszeichen, denn sie verliert diesen Kampf.
Jahre später wundert sich der Vater, warum sie sich so problemlos Kontaktlinsen einsetzen kann. Sie erklärt, „dass der entscheidende Unterschied zwischen den Augentropfen und den Kontaktlinsen darin besteht, dass ich es bin, die in mein Gesicht fasst.
Wobei wir direkt beim Thema wären, denn um weibliche Selbstfindung und die Selbstbestimmung über sich und den eigenen Körper geht es in diesem Buch.

Und das habe ich wirklich gerne gelesen, denn es hat eine sehr angenehm leichte Sprache ohne den analytisch-erklärenden oder auch anklagenden Tonfall, den Bücher aus diesem Themenspektrum gerne mal haben. Vielmehr waren die Schilderungen wie die Plauderei einer guten Freundin über die alltäglichen Dramen des Erwachsenwerdens und den mitunter steinigen Weg der Entwicklung vom kleinen Mädchen zur Frau.
Nur leider war dieser angenehme Monolog in Buchform nach gut 150 Seiten auch schon wieder zu Ende, was für mich auch der wesentliche Kritikpunkt an diesem Roman ist. Die Geschichte ist für mich schlichtweg nicht zu Ende erzählt, als wäre der Autorin auf halber Strecke die Puste bzw. der Erzählstoff ausgegangen. Gefühlt bricht die Story mitten in der Handlung ab.
Konsequenterweise endet das Buch auch sprachlich mit einem Cut, dem Ende einer Filmszene. „Schnitt, sage ich.
So bleibt ein Kurzfilm, aber ein guter.

Bewertung: 3.5 von 5.

Esther Becker: Wie die Gorillas. Berlin: Verbrecher Verlag, 2021