Anna Yeliz Schentke: Kangal

Dilek lebt mit ihrem Freund Tekin in Istanbul und leidet zunehmend unter den politischen Verhältnissen. Als ‚Kangal 1210‘ ist sie in den sozialen Medien aktiv und äußert sich kritisch über die Regierung. Doch die Repressionen gegenüber politischen Weggefährt:innen lösen große Ängste in ihr aus.

In Istanbul haben wir gelernt, anonym zu sein, anonym unter vielen und anonym im Netz. Aber das reicht nicht mehr, das habe ich begriffen. Sie können die Wohnung stürmen, dich festhalten, mitnehmen und du kannst noch nicht mal die Polizei rufen. Sie sind die Polizei.

Um dem zu entkommen und ohne ihren Freund einzuweihen, beschließt Dilek nach Deutschland zu fliegen – zu ihrer Cousine Ayla, mit der sie viele schöne Kindheitserinnerungen teilt, auch wenn sich ihre Mütter inzwischen verstritten haben.
Doch in Deutschland trifft sie auf treue Anhänger:innen besagter Regierung und eine Cousine, die mit der Türkei nur noch ein Urlaubsparadies verbindet…

Noch ein Buch der diesjährigen Longlist, was für meinen Geschmack zu wenig Beachtung erfahren hat. Denn das Thema, um das es hier geht, ist nach wie vor hochaktuell. Das macht für sich erstmal kein gutes Buch aus. Aber wie genau die Autorin die Problematik herausarbeitet, wie fokussiert sie die Konflikte beschreibt, wie vielschichtig sie dabei vorgeht – das ist für mich gute Literatur.
Ihre Schilderungen bewegen sich zwischen den Innenansichten Dileks, ihres Freundes und ihrer Cousine hin und her und auch wenn sich ihre Standpunkte unterscheiden, kann man doch vieles sehr gut nachvollziehen. Für mich war die Ausnahmesituation, in der sich Dilek befindet sehr greifbar, insbesondere das Gefühl einer permanenten Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die zitierte Passage bringt es für mich sehr gut auf den Punkt.
Für mich ein Buch, dass trotz seiner Kürze einen großen Eindruck hinterlassen hat.

Bewertung: 4 von 5.

Anna Yeliz Schentke: Kangal. Frankfurt/Main: Fischer Verlag, 2022

Thomas Kunst: Zandschower Klinken

Nachdem sein Hund gestorben ist, packt Bengt Claasen seine ganzes Hab und Gut in den Kofferraum und beschließ,t ein neues Leben zu beginnen. Auf dem Armaturenbrett das Halsband seines Hundes, beschließt er sich in dem Ort niederzulassen, an dem es runterfällt. Das ist nun gerade das etwas verschrobene Zandschow im äußersten Norden des Landes…

Klingt ja erstmal gar nicht so uninteressant und von der Ausgangssituation zumindest reizvoll. Aber dieses Buch ist so wenig meins, dass ich es nach dem ersten Viertel auch direkt wieder beende mit der Frage: Was soll das sein? Eine neue Variante der Känguru-Chroniken (nur sehr viel schlechter)?
Hier wird einem auf dem Einband ein Roman mit viel Witz angekündigt, ich frage mich nur gerade, für welche Altersgruppe…
Mir hat sich der Witz eines Rehs, das in die Karibik fährt und dort einen Taxischein macht, jedenfalls nicht erschlossen. Auch lösen die Überlegungen des Inhabers von ‚Getränke Wolf‘, seine Hilfskräfte durch Ratten zu ersetzen, weil sie resistenter gegen Asbest sind, bei mir eher Stirnrunzeln als Anfälle von Heiterkeit aus.

Leider hat man als LeserIn hier nicht nur mit diesem stark gewöhnungsbedürftigen Humor zu kämpfen, sondern mit einer permanenten Wiederholung von Sätzen oder Abschnitten. Ich weiß nicht, wie oft ich gelesen habe, dass das Taxi weiß ist. Vielleicht dient es der Absicherung des Inhalts, falls man zwischendurch weggenickt ist…eine Methode, mit wenig Inhalt viele Seiten zu füllen, ist es allemal.
Nun wird es sicher diverse LiteraturkritikerInnen geben, die hier große Kunst sehen – anarchistische gar, wie der Klappentext verkündet. Auch wird die Redundanz wahrscheinlich ein ganz pfiffiges Stilmittel sein. Irgendwie muss es dieses Buch ja auf die Shortlist geschafft haben…
Nur leider suche ich hier sämtliche Kriterien eines guten Buches vergebens. Aber manche Dinge halten sich wohl geschickt verborgen. Eins sollte ein Buch aber auf keinem Fall: mir auf die Nerven gehen.

Bewertung: 1 von 5.

Thomas Kunst: Zandschower Klinken. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2021

Valerie Fritsch: Herzklappen von Johnson & Johnson

Wie wird ein Kind zum Menschen, zu einem mitfühlenden sozialen Wesen, wenn es die Verwundbarkeit nicht kennt? Wenn es nicht versteht, wie sehr etwas wehtun kann?
Diese Frage stellt der Klappentext stellvertretend für Alma, deren Sohn keinen Schmerz empfinden kann.
Ein Roman einer emotionalen Spurensuche, den gelebten, aber vor allem den ungelebten, die Generationen überdauern.

Der Auftakt dieses Romans hat mir außerordentlich gut gefallen, denn hier berichtet die Autorin von Almas Kindheit, die Beziehung zu ihren Eltern und Großeltern. Die erdrückende Atmosphäre der gegenseitigen Fremdheit und Sprachlosigkeit ist sehr gut herausgearbeitet worden, sowohl inhaltlich als auch sprachlich. Die innere Einsamkeit der Protagonistin lässt sich gut nachempfinden.
Je länger ich jedoch gelesen habe – und der Roman ist wahrlich nicht dick – hat mich die Geschichte immer mehr verloren und das lag für mich nicht am Thema, sondern an der Umsetzung.
Man hat das ja manchmal bei Musikvorträgen. Vor lauter Bemühen, besonders gut zu singen und die richtigen Töne zu treffen wird es zu einem seelenlosen Gesang – schön, aber ohne Emotion.
Und so ähnlich ging es mir hier. Vor lauter Bemühen um die perfekte sprachliche Form kam bei mir immer weniger an Emotion an, was umso fataler ist, da es ja genau um dieses Thema geht. Auch fand ich den inneren Klappentext einigermaßen irreführend, denn er suggeriert, die besondere Situation des gefühllosen Kindes wäre ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte. Das hab ich so nicht empfunden. Für mich war das eher ein Aufhänger am Rande. Im wesentlichen geht es hier um Alma und ihre Spurensuche in der Vergangenheit.
Die ist sprachlich schön anzuschauen, aber mitnehmen konnte sie mich nicht.

Bewertung: 2.5 von 5.

Valerie Fritsch: Herzklappen von Johnson & Johnson. Berlin: Suhrkamp, 2020

Deutscher Buchpreis 2020: Longlist

Noch zwei Tage, bis der Deutsche Buchpreis 2020 verliehen wird – diesmal in gänzlich anderem Gewand, mittlerweile ein gewohnter Zustand für Großveranstaltungen in Coronazeiten.

Nachdem ich im letzten Jahr sehr viele der nominierten Titel gelesen habe (ich glaube über die Hälfte), habe ich mich dieses Jahr entschieden, wirklich nur die Titel zu lesen, die mich wirklich interessieren. Da war im letzten Jahr zu viel dabei, dass sich im Nachhinein nicht gelohnt hat.

Nach diesem Kriterium habe ich die Bücher ausgewählt, die auf dem Foto zu sehen sind – mit Ausnahme von Leif Randts Allegro Pastell, das möchte ich auch noch lesen.

Zur Übersicht liste ich aber alle 20 der nominierten Titel nochmal auf:

📚 Helena Adler: Die Infantin trägt den Scheitel links
📚 Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite
📚 Bov Bjerg: Serpentinen
📚 Arno Camenisch: Goldene Jahre
📚 Roman Ehrlich: Malé
📚 Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik
📚 Valerie Fritsch: Herzklappen von Johnson & Johnson
📚 Thomas Hettche: Herzfaden
📚 Charles Lewinsky: Der Halbbart
📚 Deniz Ohde: Streulicht
📚 Leif Randt: Allegro Pastell
📚 Stephan Roiss: Triceratops
📚 Robert Seethaler: Der letzte Satz
📚 Eva Sichelschmidt: Bis einer weint
📚 Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos
📚 Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst
📚 Frank Witzel: Inniger Schiffbruch
📚 Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt
📚 Jens Wonneberger: Mission Pflaumenbaum
📚 Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand

Jan Peter Bremer: Der junge Doktorand

Schon seit zwei Jahren wartet das Ehepaar Greilach in ihrer abgelegen Mühle auf die Ankunft des jungen Doktoranden, der dem alternden Maler zu neuem Ruhm verhelfen soll. Doch immer wieder wird der Besuch verschoben und die Erwartungen an den lang ersehnten Gast steigern sich ins Unermessliche. Als er dann endlich eintrifft, präsentiert er sich jedoch in einem gänzlich anderen Licht. „Was war denn das für ein Doktorand! Damit hatten sie einfach nicht rechnen können. Das ließ sich doch keinem erklären…“
Und auch der Doktorand hat nicht mit diesem Ehepaar gerechnet…

Wem bei der Kurzbeschreibung spontan Becketts Warten auf Godot in den Sinn kommt… nein, nicht wirklich, denn der Doktorand taucht schon zu Beginn des Buches auf. Und mit diesem Aufeinandertreffen entspinnt sich ein Feuerwerk an Situationskomik loriotschen Ausmaßes, das ich wirklich lustig fand. Diese Karikatur des oberflächlich-kleinbürgerlichen Lebens in all seiner Beschränktheit und das hilflose Agieren des einigermaßen verplanten Doktoranden war für mich ausgesprochen unterhaltsam, jedenfalls in der ersten Hälfte des Buches. Danach nutzt sich das Motiv etwas ab und der Autor verliert sich in der Person des Malers gelegentlich in Monolgen, was das Unterhaltungsbarometer etwas nach unten getrieben hat. Aber zum Glück ist das Buch recht schmal und ist dann auch zu Ende, bevor sich das zu einem echten Problem auswächst.

Bewertung: 4 von 5.

Jan Peter Bremer: Der junge Doktorand. Berlin: Berlin Verlag, 2019