Henning Ahrens: Mitgift

Ein Todesfall steht im Zentrum dieses Romans, den die alteingesessene Bauernfamilie Leeb ereilt. Zu Hilfe wird die alte Gerda gerufen, die traditionell die Toten des kleinen Dorfes herrichtet. Diese ist wenig erfreut über diesen Auftrag, verbinden sie doch mit Leeb senior einige unschöne Erlebnisse, aber auch Abhängigkeiten. In jungen Jahren hat er sie sitzenlassen, um eine reichere Bauerstochter zu heiraten. Seitdem plagt ihn das schlechte Gewissen und eine tiefe Unzufriedenheit.
In Rückblicken wird die Vergangenheit des alten Leeb beleuchtet – ein Querschnitt jahrhundertelanger Anpassung an Familientraditionen und äußere Zwänge…

Dieses Buch von der Longlist war mir schnell ins Auge gesprungen, denn ich mag solche groß angelegten Familiengeschichten. Thematisch war es auf jeden Fall interessant – gerade die Zwänge und festgefahrenen Rollen, in der sich die einzelnen Protagonisten befinden, sind gut herausgearbeitet worden.
Auch der Aufbau des Romans ist grundsätzlich gut gemacht: durch die langsame Enthüllung der Vergangenheit von Leeb senior beantworten sich schrittweise die offenen Fragen zum Schicksal des Toten.
Allerdings wird dabei für meinen Geschmack teilweise zu weit und vor allem zu sprunghaft ausgeholt. Da auch noch sämtliche männliche Familienmitglieder über die Generationen Wilhelm heißen, ist das nicht immer einfach.
Für mich war der Vater-Sohn-Konflikt das Spannenste an diesem Roman, davon hätte ich gerne mehr gehabt. So bleibt für mich das Gefühl, das in diesem Roman ein Potential steckt, das nicht ganz ausgeschöpft wurde.

Bewertung: 3.5 von 5.

Henning Ahrens: Mitgift. Stuttgart: Klett-Cotta, 2021

Shida Bazyar: Drei Kameradinnen

Sie kennen sich seit ihrer Kindheit und haben eine wesentliche Gemeinsamkeit: die Erfahrung, fremd in einem Land zu sein und damit verbundene vielfältige Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierung. Anlässlich einer Hochzeit treffen sich die Kameradinnen wieder und feiern die gemeinsame Zeit. Auf dem Hintergrund des Verwurfs, dass eine von ihnen für einen verheerenden Brandanschlag verantwortlich ist…

Dieses Buch ist ein harter Brocken und hat mich zwischendurch richtig wütend gemacht. Denn hier wendet die Autorin die Zuschreibungen der deutschen Dominanzgesellschaft, die sie als Migrantin immer wieder erfährt, gegen die LeserInnen selbst. Ein Wir wendet sich an und gegen ein Ihr und klagt an. Kann man als stilistisches Mittel machen, mediale Aufmerksamkeit und Diskussionsstoff liefert es in jedem Fall.
Ich verstehe den Gedanken dahinter, finde das Thema auch wichtig, aber mir gefällt diese Form der Umsetzung nicht.
Hier ist ein literarischer Sensibilisierungsprozess intendiert und das funktioniert vielleicht auch bei dem einen oder anderen. Aber bei vielen auch einfach nicht, weil sie sich von diesen undifferenzierten Zuschreibungen nicht angesprochen oder auch abgestoßen fühlen. Und das finde ich bei diesem Thema einfach sehr schade. Mich hat diese Variante der Publikumsbeschimpfung auch eher genervt als erhellt, aber hat zumindest viele Gedanken und Diskussionen in unserer Leserunde ausgelöst. Und vielleicht geht es auch einfach darum, über Ausgrenzungserfahrung ins Gespräch zu kommen. Und das ist auf jeden Fall gelungen.

Bewertung: 2 von 5.

Shida Bazyar: Drei Kameradinnen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2021

Dana Grigorcea: Die nicht sterben

Nach ihrem Kunststudium in Paris kehrt eine junge Bukarester Malerin an den Ort ihrer Kindheit zurück: einem kleinen Dorf an der Grenze zu Transsilvanien, in dem sie in der Villa ihrer Großtante die Sommerferien verbrachte.
Vieles ist anders geworden im postkommunistischen Rumänien, doch Korruption, Kriminalität und Vetternwirtschaft sind geblieben und der einst attraktive Touristenort hat seine besten Zeiten lange hinter sich.
Da wünschen sich die Alteingesessenen ein Eingreifen mit starker Hand, so wie einst Fürst Vlad – auch als Dracula bekannt – mit grausamer Konsequenz gegen Kriminelle, Staatsfeinde und Untreue in den eigenen Reihen vorgegangen ist.
Die Glorifizierung der Vergangenheit wird erst richtig angeheizt, als auf dem Friedhof eine geschändete Leiche entdeckt wird…

Von der Zusammenfassung her gehörte dieses Buch für mich zu den reizvollsten der diesjährigen Nominierten und tatsächlich hat mir vieles davon auch gefallen.
Angefangen vom angenehm lesbaren Schreibstil, der von der Ich-Erzählerin als chronistischer Bericht in eigener Sache verfasst ist und dem man gerne folgt. Ich mochte die Geschichten von den schrulligen, abergläubischen Tanten und die Beschreibung des dörflichen Miteinanders. Auch die leicht gruselige Atmosphäre, die beim Thema Dracula und Co an den Originalschauplätzen mitschwingt, ist gut eingefangen worden. Diese Geschichte mit den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen zu verknüpfen, finde ich sehr gelungen.

Nur leider, leider haben sich für mich Teile des Buches einfach nicht erschlossen und blieben bis zum Schluss ungeklar. Um da weiter ins Detail zu gehen, muss ich etwas spoilern, von daher an dieser Stelle vielleicht nicht weiterlesen, wenn man das Buch noch lesen möchte…

Die geschilderte Entwicklung der Ich-Erzählerin war für mich ziemlich wirr und befremdlich, denn offenbar hat sie immer wieder Erlebnisse, die darauf hindeuten, dass sie von einem Vampir heimgesucht wurde und dadurch selbst zu einem solchen Wesen geworden ist. Was davon tatsächlich passiert oder nur eine Vision ist, bleibt unklar. Die Entwicklung ist offenbar ganz eng verknüpft mit Ereignissen in dem Dorf, die mit einem ungeklärten Todesfall und dem korrupten Bürgermeister in Verbindung stehen. Nach diversen Gesprächen ist es offenbar als eine vorrübergehende übersinnliche Fähigkeit zu verstehen, um den Übeltäter zur Strecke zu bringen. Also man merkt, die Zusammenhänge sind nicht so leicht zu entschlüsseln…
Das und die teilweise mühsam zu lesenden historischen Abhandlungen haben mein Leseerlebnis etwas getrübt.

Bewertung: 3.5 von 5.

Dana Grigorcea: Die nicht sterben. München: Penguin Verlag, 2021

Heinz Strunk: Es ist immer so schön mit dir

Der Inhalt ist kurz erzählt: Mann liebt Frau, sie ihn irgendwie auch, aber so richtig findet es nicht zusammen, das junge Pärchen…

Mit das Beste beim diesjährigen Buchpreis war für mich die Entdeckung von Heinz Strunk. Der Name war mir hier zwar schon des öfteren begegnet, aber schlafmützigerweise ohne direkten Handlungsbedarf auszulösen. Wie konnte das passieren!
Denn dieses Buch ist trotz des nicht ganz undramatischen Inhalts ausgesprochen komisch und genau nach meinem Geschmack. Endlich mal nicht diese Schwere, dass man sich nach der Lektüre gleich von der nächsten Brücke stürzen möchte. Endlich mal jemand, der nicht beim politischen Korrektheitswettbewerb antritt. Ich fand das ausgesprochen erfrischend, mal über den ganz normalen Alltagswahnsinn zu lesen, bei dem man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen muss.
Das eine oder andere kam einem auch nicht so ganz unbekannt vor, wenn vielleicht auch nicht in ganz so ausgeprägter Form. Das sind die Geschichten, bei denen man sich währenddessen erschießen möchte, aber hinterher drüber lachen kann.

Für mich war das Buch wie eine angeregtes Kneipengespräch mit einem guten Freund: kurzweilig, witzig und absolut authentisch. Ich glaub, mit dem sitz ich noch öfter mal zusammen…

Bewertung: 4.5 von 5.

Heinz Strunk: Es ist immer so schön mit dir. Hamburg: Rowohlt Verlag, 2021

Gert Loschütz: Besichtigung eines Unglücks

Im Zentrum dieses Roman steht ein Unfall: das schwerste Zugunglück der deutschen Geschichte im Bahnhof von Genthin 1939, bei dem zwei Züge frontal gegeneinander prallten. Es gibt zahlreiche Tote und noch mehr schwer Verletzte. Eine von ihnen ist Carla, verlobt mit dem Juden Richard aus Neuss. Doch nicht er begleitet sie auf dieser schicksalhafen Reise, sondern der Italiener Guiseppe Buonomo, der bei dem Unfall stirbt. Und als dessen Frau sich Carla kurz nach dem Unfall ausgibt…

Schon dieser kurz umrissene Inhalt war es, der mich auf dieses Buch unter den zwanzig nominierten Titeln des Buchpreises aufmerksam machte. Die historische Kulisse des Unglücks in der Zeit des Nationalsozialismus und beginnenden zweiten Weltkrieges und das Thema der Judenverfolgung war für mich sehr vielversprechend und entsprechend motiviert bin ich an das Buch herangegangen. Nur leider bekam diese positive Grundeinstellung einen derben Dämpfer.

Das gesamte erste Drittel des Buches beschäftigt sich in chronistischer Weise mit der Rekonstruktion des Unfalls in sämtlichen Details. Das mag vielleicht für Eisenbahner und ihre Fans interessant sein, bestimmt auch für ErmittlerInnen, RechtsanwältInnen oder VersicherungsbeamtInnen und den persönlich betroffenen Autor, aber sicherlich nicht für die durchschnittlichen LeserInnen. Für die ist das ausgesprochen dröge. Nun hatte ich auf die mysteriöse (Liebes)Beziehung zwischen Carla und dem Italiener gehofft, da sie in der Anlage ja das Potential für eine richtig gute Geschichte bietet. Nur leider begann sie in ähnlich trockener Schreibe als wäre sie aus Aktennotizen zum Unfallhergang zusammengeschustert. Ich habe dabei jegliche Dynamik, Spannung und Tiefgang vermisst.

Vielleicht kommt das noch im zweiten Teil des Buches, was dramaturgisch auch sehr unglücklich wäre, da man zu dem Zeitpunkt schon einen Großteil der LeserInnen abgehängt hat. Wie zum Beispiel mich.

Bewertung: 1.5 von 5.

Gerd Loschütz: Besichtigung eines Unglücks. Frankfurt amMain: Schöffling und Co, 2021