Eva Menasse: Dunkelblum


Direkt an der ungarischen Grenze im österreichischen Burgenland liegt die kleine Gemeinde Dunkelblum, auf den ersten Blick eine ganz normale Kleinstadt. Doch hinter der gutbürgerlichen Fassaden verbirgt sich die Geschichte eines Verbrechens, in das eine Vielzahl der älteren Dorfbewohner verwickelt war. Das Wissen um die Ereignisse, die sich in den letzten Kriegsjahren ereigneten, verbindet die Dorfbewohner auf unheilvolle Weise.
Doch im Jahr 1989, einer Zeit des allgemeinen Umbruchs, statten verschiedene Fremde dem verschlafenen Dorf an der Grenze einen Besuch ab und beginnen, unangenehme Fragen zu stellen…

Ein wirklich gutes Buch offenbart sich oft schon auf der ersten Seite. Wenn es dem Autor gelingt, mit wenigen Sätzen eine Stimmung zu transportieren, die einen sofort ergreift und in die Geschichte zieht.
Genau das passiert hier. Schon nach der ersten Seite spürt man die unangenehme Atmosphäre dieses nach außen hin gutbürgerlichen Dorfes, hinter dessen Fassade es nur so brodelt. Die soziale Kontrolle und die Enge in diesem dörflichen Mikrokosmos war sehr gut herausarbeitet und zieht sich als düstere Stimmung durch das ganze Buch, ebenso wie das Grundthema: die kollektive Verdrängung einer großen Schuld.
Dass sich die Österreicher mit der Vergangenheitsbewälrigung mitunter schwer tun, ist nicht neu, aber selten wurde es literarisch so auf den Punkt gebracht wie in diesem Buch. Die Prozesse der Verdrängung und des Verschweigens, die so raumgreifend sind, weil so viele etwas zu verlieren haben.
Für mich war es erschreckend zu lesen, wie viele in diesem kleinen Dorf von der Vertreibung der Juden profitiert haben. Ich habe selten so eindrückliche Schilderungen der Judenvertreibung gelesen, die von einem Tag auf den anderen alles verlieren: Ihr Eigentum, ihr Dach über dem Kopf, ihre Familie, ihre Menschenwürde, ihr Leben.

Mich hat das Buch in jeglicher Hinsicht tief bewegt und erschüttert und wird sicher noch lange nachwirken. Ein wichtiges Buch, dass ich nur jedem wärmstens ans Herz legen kann.

Bewertung: 4.5 von 5.

Eva Menasse: Dunkelblum. Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 2021

Sonja Weichand: schuld bewusstsein

Nach einem Autounfall nimmt sich Anna eine Auszeit und fährt nach Würzburg, um die Geschichte ihrer Oma aufzuarbeiten. Die war zur Zeit des zweiten Weltkrieges überzeugte Nationalsozialistin und BDM Scharführerin.
Doch die traumatischen Umstände des Unfalls und die Auseinandersetzung mit den dunklen Kapiteln der Vergangenheit hinterlassen Spuren…

Debütromane sind ja immer so eine kleine Wundertüte, da einem die Erfahrungswerte fehlen. Noch dazu, wenn kein großer Verlag dahinter steht und für Publicity sorgt.
Aber welch eine positive Überraschung kam da aus dem Hut gezaubert!

Ein wirklich gut entwickelter Roman über ein großes Fragezeichen, das einem im historischen Rückblick immer wieder überkommt. Was waren das für Menschen, die Hitler folgten und auch noch bis kurz vor Kriegsende an ihn glaubten? Die einer offensichtlich menschenverachtenden und realitätsfremden Ideologie folgten und nicht wahrhaben wollten, dass der Krieg schon längst verloren war? Der Roman entschuldigt und relativiert nicht, sondern gibt eine Idee zur Motivation dahinter. Wie in dem vorliegenden Roman ist das oft ein komplexes Geflecht an Ursachen.
Das ist ohne Zweifel befremdlich und auch nicht immer einfach zu lesen, beispielweise als Rose-Marie in Erwägung zieht, ihren eigenen Vater zu denunzieren, aber es wird in diesem Kontext nachvollzienbar, wie es zu solchen Taten kommen konnte.
In diesem Roman hat mich vor allem die detaillierte Ausarbeitung des Alltags im Krieg beeindruckt. Das war sehr anschaulich und entsprechend beklemmend, vor allem die Schilderung der Bombardierung Würzburgs. Man ist sehr nah dran am Geschehen und kann sich dadurch ein ungefähres Bild von der Stimmung und dem Elend dieser Tage machen.

Der Roman besteht aus einem beständigen Wechsel zwischen Gegenwart und Rückblenden, der übrigens in den Übergängen sehr gut gemacht ist.
Anfangs hat es mich fast gestört, wenn ich aus der Vergangenheit gerissen wurde, weil mich diese Passagen sehr gefesselt haben. Die Szenen in der Gegenwart fand ich vergleichsweise fad. Doch dann entwickelt die Geschichte der schreibenden Enkelin eine ganz eigene, überraschende Dynamik und hat mich zum Schluss dann auch in diesen Sequenzen gepackt.

Abschließend kann ich diesem Roman nur viele Leser und vor allem die Aufmerksamkeit der Verlage wünschen. Wäre verdient.

Bewertung: 3.5 von 5.

Sonja Weichand: schuld bewusstsein. Norderstedt: Books on Demand, 2020

Volker Kutscher: Olympia

Ganz Berlin steht Kopf, denn die Stadt ist Austragungsort der Olympischen Spiele. Während die Nationalsozialisten das als Kulisse ihres Propagandafeldzugs missbrauchen, geschieht im olympischen Dorf ein Mord an einem amerikanischen Funktionär. Die Machthaber setzen alles daran, die Ereignisse zu vertuschen und beauftragen Rath für diskrete Ermittlungen vor Ort. Doch es kommt zu weiteren Todesfällen…

Wenn man denkt, es kann kaum noch besser werden…
Dieser Roman ist von vorne bis hinten sensationell gut gemacht. Das beginnt mit der perfekt eingefangen Stimmung rund um die Olympischen Spiele und der Propagandamaschinerie, der man sich kaum entziehen konnte. Bereits in den Bänden davor war in der Figur des Fritz ja schon gut herausgearbeitet worden, welche Faszination die HJ auf junge Menschen ausüben konnte, gleichzeitig aber auch, welcher Gehirnwäsche sie unterzogen waren. Diese Begeisterung bekommt in diesem Band erste Risse.
Man taucht hier förmlich ein in die Begeisterungswelle, die Berlin in diesen Tagen erfasst hatund wird Teil dieser Inszenierung. Das gerade vor dem Hintergrund dieser Kulisse ein Mord geschieht, ist so brisant wie spannend.
Auch Rath und Charly werden immer stärker mit dem Terrorapparat des Regimes konfrontiert. Immer häufiger werden vermeintliche Regimegegner willkürlich inhaftiert und gefoltert. Kutscher hat hier sehr gut die beiden Seiten des Regimes, den Schein und das Sein herausgearbeitet, inklusive der Mechanismen dieser großen Propaganda maschinerie.
Der Gedanke, das Land zu verlassen, nimmt Formen an…

Für mich bisher der beste Band der Serie, leider mit einem fiesen Cliffhanger am Schluss.
Wie kann man denn so ein offenes Ende einbauen!
Also, ich bin auf jeden Fall sehr gespannt, wie es weitergeht… um es mal vorsichtig auszudrücken.

Bewertung: 4.5 von 5.

Volker Kutscher: Olympia. München: Piper Verlag, 2020

Takis Würger: Stella

Ein junger Schweizer kommt 1942 nach Berlin. Er will Gerüchten nachgehen über Juden, die in Möbelwägen abtransportiert werden. In Berlin angekommen taucht er ein ins Nachtleben und lernt die geheimnisvolle Stella kennen. Er ahnt nicht, welches Doppelleben sie führt.

Vieles hab ich bei diesem Buch erwartet, aber nicht das. Dazu muss ich sagen, dass ich das Buch weder als Rezensionsexemplar bekommen habe noch bestochen worden bin, aber ich finde dieses Buch ganz großartig. Ich finde es sprachlich und schriftstellerisch mit den Einschüben der Zeitgeschehnisse und Gerichtsakten im Kontrast zum glamourösen und unbeschwerten Privatleben des Paares ausgesprochen gelungen. Auch die Figur des Friedrich, der die Kritikerschelte als positionsloser Naivling abbekommen hat, finde ich gut gewählt. Indem er sich nicht eindeutig positioniert, gibt er eine Vorlage für die Frage: Was hätte ich in der Situation gemacht? Und zwar nicht rund 80 Jahre später von der bequemen Couch aus, sondern im Krieg, als Jude, unter permanenter Lebensgefahr. Die Antwort ist nicht schwarz oder weiß, sondern grau, so wie die Figur Friedrichs auch.
Und genau das ist es doch, was gute Literatur ausmacht. Dass sie zum Nachdenken und Diskutieren anregt über Dinge, die nicht vergessen werden sollten.
Irgendwo hab ich gelesen, Würger hätte eine emotionslose Schreibe. Wo auch immer das gewesen sein mag, auf dieses Buch trifft es in jedem Fall nicht zu. Vielmehr ist es von der ersten bis zur letzten Seite durchzogen von wunderbar starken, emotionalen Bildern, die mich sehr berührt haben.

Bewertung: 4.5 von 5.

Takis Würger: Stella. München: Carl Hanser Verlag, 2019

Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land

Ein Ort, der nicht gefunden werden will.

Das ist der Schauplatz dieses Debütromans, der uns in eine surreale Parallelwelt entführt. Ruth ist nach dem Unfalltod ihrer Eltern auf der Suche nach Groß-Einland, deren Geburtsort, an dem sie nach ihrem letzten Wunsch auch beerdigt werden möchten. Doch dieser Ort ist nirgends verzeichnet, es scheint ihn gar nicht zu geben. Ohne Karte und Navigation macht sich Ruth auf die Suche, geleitet von Erinnerungen an Erzählungen über diesen Ort und trifft auf ihrer tagelangen Reise schließlich auf zwei Männer, die genau dorthin wollen: nach Groß-Einland. Über Stock und Stein, tief in den Wald führt der Weg und man fühlt sich ein bisschen wie bei Alice im Wunderland, denn dies ist wahrlich kein gewöhnlicher Ort. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, über der mittelalterlich anmutenden Stadt herrscht eine Gräfin, die alle Fäden des gesellschaftlichen und politischen Lebens in der Hand hält. Sie ist die uneingeschränkte Herrscherin der auf den ersten Blick idyllisch anmutenden kleinen Gemeinde.

Doch der Schein trügt. Beim genaueren Hinsehen stellt man fest: Der Kirchturm steht schief, Straßen und Plätze senken sich ab und tiefe Risse zeichnen die Häuser, notdürftig verborgen durch die Reparaturversuche der Bewohner, die dem fortschreitenden Verfall der Stadt nicht wirklich Herr werden. Denn die Ursache sitzt viel tiefer.

Unter dem Ort befindet sich ein gigantischer Hohlraum, die weit verzweigten Überreste eines Bergwerks, in dem jahrhundertelang Rohstoffe abgebaut und unfachmännisch ausgeführte Grabungen vorgenommen wurden, die die Statik des Ortes nachhaltig beeinträchtigt haben. Die Erde bricht zunehmend auf, wird unterspült, das Land verflüssigt sich und ganz Groß-Einland droht im Loch zu versinken.

Die Gräfin sieht in der Physikerin Ruth die Retterin für den drohenden Untergang des Dorfes: sie soll einen Füllstoff entwickeln, der das Loch verschließt. Sie bietet Ruth eine Arbeit im Schloss und eine Unterkunft an, dass sich als Haus ihrer Großeltern entpuppt. Ruth nimmt das Angebot an und taucht ein in diesen unwirklichen Ort, in das bizarre Leben seiner Bewohner, aber auch in seine Vergangenheit. Sie beginnt, in der Geschichte des Ortes und ihrer Vorfahren zu recherchieren und entdeckt, dass sich in Groß-Einland während des Zweiten Weltkriegs eine Außenstelle des Konzentrationslagers Mauthausen befand und dass viele Zwangsarbeiter dort ums Leben kamen. Und wie konnte sich die selbsternannte Gräfin nach dem Krieg in den Besitz der gesamten Kleinstadt bringen?

Anfänglich hatte ich Mühe, in das Buch reinzukommen. Gerade die ersten Seiten fand ich sprachlich holperig, die Namensgebung im Dorf übertrieben albern (Ingenieur Heinzelmann…) und das Verhalten der offenbar medikamentenabhängigen Protagonisten schlichtweg unverständlich. So weiß man letztlich auch nicht, ob die gesamte Geschichte nicht einem eskalierten Drogenrausch entsprungen ist. Wer fährt schon los zu einem Ort, den es gar nicht gibt und schmeißt auch noch unterwegs sein Handy weg?

Aber als sich erstmal herauskristalliert hat, worum es da eigentlich geht, nämlich um eine Parabel über ein ganz dunkles Kapitel in der Geschichte Österreichs, da war ich wach. Und zunehmend begeistert über die Genialität dieser Konstruktion.

Das fiktive Groß-Einland als Sinnbild für den immer noch tabuisierten Umgang Österreichs mit der eigenen Vergangenheit. Bis heute wird die Mitverantwortung an den Verbrechen der NS-Zeit geleugnet oder verharmlost, die Schuldfrage an die deutsche Wehrmacht weitergereicht. So wie in Groß-Einland betrieb das Konzentrationslager Mauthausen im Zweiten Weltkriegs 40 Außenstellen in unterirdischen Anlagen.

Hier begegnet uns dieser schwarze Fleck in der Vergangenheit in der Form des schwarzen Lochs wieder, dass die mühsam aufrechterhaltene Fassade der heilen Welt in die Tiefe zu reißen droht. So wie die Bewohner versuchen, die Risse und Löcher in ihren Häusern zuzuspachteln und den drohenden Untergang ihres Dorfes zu ignorieren, so funktioniert noch heute bei vielen Österreichern die kollektive Verdrängung. Der wunden Stelle in der Vergangenheit, auf die Edelbauers Protagonistin ganz direkt verweist:

Ein letztes Teilrätsel bestand in der Frage, wie zehn Wachmänner das Töten von achthundert Menschen zustande gebracht hatten. Ich vermutete längst, dass man dem Wachpersonal geholfen haben musste, doch auch das wurde unter einer formelhaften, pittoresk bedauernden Standardversion der Dinge verborgen: Die Wehrmacht hatte das getan, die Wehrmacht, die Wehrmacht, die Wehrmacht hatte alles beschlagnahmt.“ (S.189)

Das Loch wird zur Metapher für das Begraben der eigenen Schuld, an der sich alle Dorfbewohner beteiligen. In der Nacht kommen sie aus ihren Häusern, man hört den Aufprall von Gegenständen, die in das Loch geworfen werden. „Was man in das Loch warf, waren Dinge, für die man sich schuldig fühlte.“ (S. 315).

Ein wichtiges Buch gegen das Verdrängen und Vergessen und völlig zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.

Bewertung: 4.5 von 5.

Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land. Stuttgart: Klett-Cotta, 2019