Alba de Céspedes: Aus ihrer Sicht

Alessandra muss von Beginn an in die Fußstapfen Ihres früh verstorbenen Bruders treten, von dem sie (mit einer leichten Abwandlung) auch den Namen geerbt hat. Als einziges Kind genießt sie die besondere Aufmerksamkeit der Mutter, mit der sie ein innige Verhältnis verbindet. Sie ist fasziniert von der Eleganz und den künstlerischen Fähigkeiten ihrer Mutter, die als Klaviervirtuosin wohlhabenden Damen Privatunterricht erteilt.
Der Vater hat für sie nur Verachtung übrig. Sie ist ihm zu dünn, zu hässlich und hat – so wie die literaturbegeisterte Tochter – eine Schraube locker, was er ihnen bei jeder Gelegenheit unmissverständlich unter die Nase reibt . Beide passen nicht in das Bild, dass man von italienischen Frauen in den 30er Jahren erwartet.
Als die Mutter versucht, aus diesem Gefängnis auszubrechen, bahnt sich eine Tragödie an…

Das Buch war für mich wie eine kleine Zeitreise ins Italien der 30er und 40er Jahre, dessen Atmosphäre die Autorin ganz wunderbar eingefangen hat. Ebenso wie die starken Frauenfigur, die versuchen, in dem patriarchialischen System ihre Nischen zu finden. Da spürt man an jeder Ecke den Geist des Aufbegehrens, offen oder im stillen und sehr viel Solidarität unter den Frauen. Dass die fiktive Ich-Erzählerin ihrer mutigen Mutter erzählerisch ein Denkmal setzt, ist sehr schön zu lesen.
Es wundert da nicht, dass sie einen ähnlich unbeugsamen Geist hat und sich für ihr Leben noch anderes vorstellt als Kinder zu kriegen und den Haushalt zu führen.
Sie beschließt zu studieren und ein unabhängiges Leben zu führen. Doch dann kreuzt Francesco ihren Weg, der im antifaschistischen Untergrund arbeitet…

Tja und hier wendet sich leider für mich auch die Geschichte. Denn Francesco ist zwar auf den ersten Blick deutlich umgänglicher als ihr griesgrämiger Vater, aber das Thema Gleichberechtigung kommt auch in seiner Welt nicht vor.
Nach dem ersten Teil des Romans hatte ich ja erwartet, dass sie Francesco ordentlich die Leviten liest.

Stattdessen hat die Liebe zu diesem Intellektuellen ihr aber sämtliche Zähne gezogen. Statt ihm gehörig in den Hintern zu treten, wird er angeschmachtet, was das Zeug hält und pausenlos die Liebe zu ihm beschworen, die er zunehmend immer weniger verdient. Das war für mich teilweise nur schwer auszuhalten und ich habe ständig Alessandras Temperament und Selbstbewusstsein aus der ersten Hälfte des Buches vermisst. Das Ende war einigermaßen überraschend, aber sehr stimmig und konsequent. Ein guter Abschluss, der den Titel auch erst dann wirklich erklärt. Auch wenn ich im zweiten Teil ganz schön gelitten habe, hat mir das Buch gut gefallen und ich kann es ohne Bedenken weiterempfehlen.

Bewertung: 3.5 von 5.

Alba de Céspedes: Aus ihrer Sicht. Berlin: Insel Verlag, 2023

Jean-Christophe Grangé: Die marmornen Träume

Berlin 1939: Während sich auf der politischen Bühne der zweite Weltkrieg anbahnt, führt der Psychoanalytiker und Traumforscher Simon Krauss ein komfortables Leben. Während er seine reichen Klientinnen verführt, lässt er sich gleichzeitig für sein Stillschweigen gut bezahlen. Denn sie sind allesamt Frauen der Nazi-Elite und haben viel zu verlieren.
Als eine von ihnen grausam ermordet wird, sucht der SS-Offizier Beween Antworten bei dem Psychoanalytiker. Und tatsächlich hatten einige seiner Patientinnen, allesamt Mitglieder im elitären Club der Adlon-Damen, vor ihrem Tod verstörende Träume, in denen derselbe bedrohliche Mann erschien.
Als weitere Frauen aus dem Kreis der Adlon Damen ermordet aufgefunden werden, wird Krauss immer mehr in die Ermittlungen der Gestapo verstrickt. Gemeinsam mit Beween und der Psychiaterin Minna von Hassel begibt er sich auf die Spur des Mörders…

Ich liebe ja Kriminalfälle in einer historischen Kulisse und wenn sie in meiner Heimatstadt Berlin spielen, umso besser. Die Zeit, in der die Geschichte spielt, ist ebenso gut gewählt, denn hier passieren schon an sich so viele erschreckende Dinge, dass man eigentlich gar keinen Kriminalfall braucht. Nun gibt es hier einen und der ist außergewöhnlich gut.
Besonders gefallen hat mir dabei, dass er inhaltlich sehr gut mit den ideologischen und politischen Entwicklungen dieser Zeit verknüpft ist. Das historische Setting ist also nicht nur eine interessante Kulisse, sondern aufs engste mit dem Kriminalfall verknüpft. Das war ausgesprochen gut gemacht, eine intelligent Konstruktio, die in sich schlüssig und überzeugend ist. Lediglich zum Ende hin gab es einen Aspekt, der für meinen Geschmack ein bisschen drüber war, was aber der Geschichte als solcher nicht groß geschadet hat.

Also unterm Strich ein ausgesprochen niveauvoller und durchweg spannender Thriller, für den ich eine uneingeschränkte Leseempfehlung aussprechen kann!

Besonders gelungen finde ich auch das ‚Ermittlertrio wider Willen‘, das unterschiedlicher nicht sein könnte. Jeder Charakter ist auf seine Art sehr speziell und grandios ausgearbeitet, ohne zu sehr von der eigentlichen Geschichte abzulenken. Eher durch Zufall zusammengewürfelt ergeben sie das perfekte Team. Das macht Lust, noch mehr von diesem Trio zu hören. Überhaupt ist es mir gerade ein Rätsel, warum ich nach den ‚Purpurenen Flüssen‘ nicht noch mehr von diesem Autor gelesen habe … muss ich dringend nachholen!

Bewertung: 4.5 von 5.

Jean-Christophe Grangé: Die marmornen Träume. Stuttgart: Tropen Verlag, 2023

Alexander Oetker / Thi Linh Nguyen: Die Schuld, die uns verfolgt

Eines Morgens klingeln bei dem Polizisten-Ehepaar Linh-Thi und Adam Schmidt die Diensthandys. Während Adam zu einer Kindesentführung im Berliner Arbeiterbezirk Wedding gerufen wird, ist Linh-This Einsatz bei einem Banküberfall mit Geiselnahme im verschlafenen brandenburgischen Flecken-Zechlin gerfordert. Noch ahnt niemand, dass diese so ungleichen Fälle einiges verbindet…

Mit dem Ehepaar Schmidt betritt ein neues Ermittlerpaar die Berliner Krimi Bühne und präsentiert seinen ersten Fall, der auf mehreren Ebenen recht spektakulär daherkommt. Kindesentführung hier, Geiselnahme da ist sicherlich nicht das tägliche Brot der Polizei, aber das will man auch nicht in einem Krimi lesen und somit ist das auch ganz in Ordnung. Das ermittelnde Paar ist entgegen meiner Befürchtung sehr natürlich und kitschfrei, auch die Rekonstruktion ihres gemeinsamen Werdegangs hat mir gut gefallen. Die Anlage dieses Ermittlerteams hat also durchaus Potential.

Gut gelungen fand ich auch die Rückblenden in Linh This Vergangenheit, in der man einiges Interessantes rund um die vietnamesische Zigarettenmafia der 90er Jahre erfährt. Und immer wieder liebe ich es, mich in Romanen in meiner Heimatstadt wiederzufinden, deren Schauplätze man oft sehr genau kennt.
Die Story selbst ist gut konstruiert und über weite Strecken spannend. Thematisch war Geiselnahme und Entführung nicht ganz so mein Geschmack, aber für Fans von Tatort und Co sicher genau das Richtige. Also, ein solider, gut zu lesender Krimi mit einer Reihe spannender Momente.

Dem ich allerdings ein ABER anschließen möchte, da ich mich doch an einigen Stellen sehr über das Buch geärgert habe. Bereits zu Beginn wird sich über die Lehrerin aufgeregt, die ständig krankfeiert. Wenige Seiten später trifft es die Erzieherinnen, die – wahlweise inkompetent oder von vorgestern – ihrer Aufsichtspflicht nicht nachkommen.

Damit man die Seitenhiebe auf die Pädagogenzunft auch ja nicht überliest, wird am Ende des Romans nochmal nachgeschoben: „Ich bin am Zaun der Kita entlanggelaufen, als die Erzieherinnen wie so oft mal wieder was Besseres zu tun hatten, als auf die Kinder zu achten.“ (S. 300) Offenbar glaubt das Autorenduo noch an das Märchen der faulen Lehrerschaft oder der Erzieherinnen, die den ganzen Tag nur auf der Bank sitzen und Kaffee trinken. Daher gehen Grüße raus an die Lehrerinnen im realen Leben, die jeden Tag in überfüllten Klassen mit schwierigsten Kindern ihr Besstes geben, oft auf Kosten ihrer Gesundheit. An die Erzieherinnen, die aufgrund des Personalmangels immer größere Gruppen beaufsichtigen müssen. Auf dass solch undifferenzierte und unzeitgemäße Pauschalverurteilungen bald der Vergangenheit angehören!

Bewertung: 3.5 von 5.

Alexander Oetker / Thi Linh Nguyen: Die Schuld, die uns verfolgt. München: Piper Verlag, 2023

Max Bentow: Das Bernsteinkind

Im mittlerweile 10. Fall dieser Reihe ermittelt Kommissar Trojan in einer Mordserie, in der die Opfer augenscheinlich nichts verbindet, bis auf ein grauenvolles Detail: ihre Augen leuchten golden wie Bernstein.
Bei seinen Ermittlungen stößt Trojan auf eine weitere Gemeinsamkeit. Vor ihrem Tod scheinen alle Opfer in den Besitz eines mysteriösen Buches gekommen zu sein – geschrieben von einem anonymen Verfasser, das den Namen ‚Nachland‘ trägt.
Und das scheint nicht nur der Titel des Buches zu sein…

Wie man an dem Foto bereits unschwer erkennen kann: Ich bin Fan und das schon seit vielen Jahren. Seinen ersten Band hatte ich zufällig als Neuerscheinung in meiner Bibliothek entdeckt und habe seitdem jedem neuen Band entgegengefiebert.
Ich mag den Charakter Nils Trojan und finde insgesamt, dass Bentows Figuren gut ausgearbeitet sind. Das trifft insbesondere auf die Täterpersönlichkeiten und ihre Motive zu, die psychologisch sehr ausdifferenziert sind. Häufig entsteht die besondere Spannung der Geschichten aus den sehr speziellen psychischen Eigenarten der Täter selbst, die sie mit ihren Opfern verbindet und ihr Handeln antreibt. Plottwists und Action am laufenden Band sind hier gar nicht nötig, um ein Höchstmaß an Spannung zu erzeugen.
Dazu kann Bentow ganz wunderbar schreiben: einmal angefangen ist es nur schwer, wieder aufzuhören. Man fliegt förmlich durch die Seiten.
Und als Berlinerin freue ich mich immer wieder, meine Stadt in seinen Büchern wiederzufinden. Auch in diesem Band war Trojan an vielen sehr vertrauten Orten unterwegs, unter anderem in dem Lichtenberger Kiez, in dem mein Freund wohnt. Sowas macht Spaß!

Obwohl ich nun sehr viel Lobendes über diese Thrillerreihe geschrieben habe, die zu weiten Teilen auch auf dieses Buch zutrifft, kann ich in den allgemeinen Jubel zum Bernsteinkind nicht einstimmen, so leid es mir tut.
Es ist für mich leider der schwächste Band der Reihe.

Was ich an Bentow so liebe, nämlich das seine Geschichten logisch gut aufgebaut und komplett nachvollzubar sind, fehlt mir hier streckenweise. Die Grundmotivation des Täters, von der er in eingeschobenen Passagen selbst berichtet, ist zwar gewohnt stimmig und überzeugend, aber zwischendurch waren für mich einige Dinge nicht logisch. Achtung: möglicher Spoiler – die spezielle Buchkonstruktion ist ja sehr aufwändig und vieles seiner ebenfalls aufwändigen Planung hängt davon ab, das genau diese Personen das Buch finden, mitnehmen und genau das damit tun, was sie tun. Wie wahrscheinlich ist sowas, beispielsweise in der U-Bahn Szene? Da waren für mich eindeutig zu viele (für die Geschichte notwendige) Konstruktionen von zu viel unwahrscheinlichen Zufällen abhängig und das hat meine Lesefreude etwas getrübt. Auch vom Schreibstil habe ich Bentow hier teilweise gar nicht wiedererkannt. Es war zwar wie immer gut zu lesen, aber gerade zu Beginn und zum Ende hin fand ich die Dialoge zum Teil regelrecht hölzern. Dass Trojan und seine Kollegin sich (und den Leser:innen) gegenseitig den Fall haarklein erklären, damit das dann auch jeder verstanden hat, musste für meinen Geschmack nicht sein. Insgesamt ist es aber Jammern auf hohem Niveau, denn ich mag die Reihe natürlich auch weiterhin und freue schon auf Band 11!

Bewertung: 3.5 von 5.

Max Bentow: Das Bernsteinkind. München: Goldmann, 2022

Sebastian Fitzek: Mimik

Als die Mimikresonanzexpertin Hannah Herbst, Spezialistin für unbewusste mimische Reaktionen und Beraterin der Kriminalpolizei, nach einer Operation erwacht, steht sie vor einem bekannten Problem. Sie leidet nach Narkosen unter Gedächtnisverlust und auch jetzt ist ihr Erinnerungsvermögen schwer gestört. Was die Situation extrem erschwert. Sie befindet sich in der Gewalt eines Schwerverbrechers und Soziopathen. Und sie soll sich ein Video anschauen, in dem eine Frau den Mord an ihrer Familie gesteht. Nur..diese Frau ist sie selbst…

Warum lese ich immer wieder Fitzek? Für manche eine völlig unverständliche Frage, aber tatsächlich ernst gemeint. Denn gerade das letzte Buch fand ich nicht gut und man hat den Eindruck, dass Inhalt und Tiefe der Geschichten immer mehr in den Hintergrund geraten. Zugunsten von aufwändigem Design und Marketing.

Aber um die Eingangsfrage zu beantworten: Fitzek schreibt einfach gut. Ein sehr eingängiger Schreibstil, man ist sofort drin in der Geschichte und fliegt förmlich durch die Seiten. Einfach gute, spannende Unterhaltung, die Spaß macht.
Wenn man sich darauf einlässt, dass die Geschichten von Fitzek häufig völlig überkonstruiert sind, wie man auch hier schon an der kurzen Einleitung sieht. Da kommt gleich zu Beginn einiges zusammen und setzt sich in ähnlicher Weise fort. Für mich ist es auch hier an einigen Stellen wieder drüber, wie auch schon in seinen letzten Büchern. Zu viel Action und Plottwists, zu viel Um-die-Ecke-gedacht und zu wenig Tiefe in den Charakteren und der Geschichte. Auch wenn ich hier die überraschende Wendung am Ende gut gelungen finde.

Wie wahrlich nicht alles an diesem Thriller. War da ernsthaft wieder dieser Schneemann? Spontan fallen mir gleich zwei Thriller mit genau diesem Szenario ein und vermutlich gibt es noch viel mehr. Originell ist das nicht. Allerdings haut dieses Defizit die besondere Thematik der Mimikresonanz wieder raus.

Man merkt, ich bin bei diesem Buch hin- und hergerissen.

Mimik gefällt auf jeden Fall besser als das letzte Buch, ist allerdings weit von dem Eindruck entfernt, den damals ‚Die Therapie‘ bei mir hinterlassen hat.

Bewertung: 3.5 von 5.

Sebastian Fitzek: Mimik. München: Droemer Knaur, 2022

Elisa Levi: Anderes kenne ich nicht

„Es gibt keinen Ort, der universeller ist als das kleinste Dorf.“

Bereits der erste Satz des Klappentextes beschreibt, worum es in diesem Buch geht. Dem ganz besonderen Mikrokosmos in einem kleinen spanischen Dorf mit nur vier Straßen, einer Kirche und einem Einkaufsladen. Ein Ort, an dem jeder jeden kennt. Und an dem die Zeit stehenzubleiben scheint.

Welch eine willkommene Abwechslung, als ein Mann im Dorf erscheint, dem sein Hund entlaufen ist. Ausgerechnet im angrenzenden Wald will er den Hund suchen. Wo doch jede*r im Dorf weiß, dass keiner aus diesem Wald lebend wieder herauskommt.
Von dieser und anderen Universalitäten ihres Dorfes erzählte Lea dem ahnungslosen Fremden – bei einer Zigarette auf der Bank in der Nachmittagssonne. Oder auch zwei oder drei…

Tatsächlich besteht das gesamte Buch aus Leas Monolog mit dem Fremden, in dem sich das gesamte gesellschaftliche Leben des Dorfes ausbreitet. Das könnte auf den ersten Blick ziemlich handlungsarm wirken, die Konstruktion ist aber erstaunlich tragfähig. Das liegt vor allem an den interessanten Themen, die im Rahmen dieses Monologs angerissen werden. Den Abhängigkeiten, Wünschen und Sehnsüchten Leas und der anderen Dorfbewohner*innen, ihren Beziehungen untereinander, den überholten Traditionen, der geistigen Enge und dem Wunsch, alles hinter sich zu lassen. Und die Angst davor.
„Lieber das bekannte Übel, als das unbekannte Gute“ ist das Motto des Dorfes, mit dem sich Lea immer weniger abfinden kann.
Wäre da nicht ihre Schwester, die aufgrund schwerer geistiger und körperlicher Beeinträchtigungen auf Leas tägliche Hilfe angewiesen ist…

Was mir an dem Buch so gut gefallen hat, sieht man eigentlich schon am Cover – es strahlt ganz viel Wärme aus. Als würde man selbst in der Nachmittagssonne sitzen und einer (etwas längeren Erzählung lauschen). Trotz Leas Distanz zur dörflichen Enge und vieler negativer Gedanken spürt man immer wieder ihre Zuneigung und Verbundenheit gegenüber den Dorfbewohner*innen.

Und das in einer wunderbar klaren, bildhaften Sprache, die gerade in ihrer Einfachheit viele starke Sätze und Passagen produziert. Dazu passt auch ihre zum Teil derbe Art, bei der sie auch kein Blatt vor den Mund nimmt. Gerade ihre abwertenden Gedanken in Bezug auf ihre Schwester haben Kritik ausgelöst, vielleicht auch nicht zu Unrecht. Aber ich denke, dass es durchaus Gedanken sind, die in solchen Situationen aufkommen können. Nur sind sie gesellschaftlich extrem tabuisiert. Ich finde es im Kontext der Geschichte jedoch durchaus passend. Und sie spricht auch immer wieder ausgesprochen liebevoll über ihre Schwester, was man dabei nicht außer acht lassen sollte. Wahrscheinlich hat man in einer solchen Belastungssituation wirklich diese widersprüchlichen Gefühle in sich. Allerdings hat mich das Ende auch etwas irritiert, muss ich sagen. Das ist schon ziemlich harte Kost. Aber letztlich bleibt vieles auch offen und der Fantasie der Leser*innen überlassen.

Bewertung: 3.5 von 5.

Elisa Levi: Anderes kenne ich nicht. Berlin: Trabanten Verlag, 2022

Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe

Letztes Jahr hat Alex Schulman mit ‚Die Überlebenden‘ in Deutschland auf sich aufmerksam gemacht. Mit diesem Roman gelang ihm 2018 in Schweden der Durchbruch, der nun in der deutschen Übersetzung vorliegt.

Dies ist ein sehr persönliches Buch, denn der Autor schreibt hier über ein Gefühl, unter dem er zunehmend leidet und das die Beziehung zu seiner Familie vergiftet: das Gefühl der Wut.
Um der Ursache dieser Wut auf den Grund zu gehen, taucht der Autor tief in seine eigene Familiengeschichte ein und stößt auf eine tragische Liebesgeschichte, in deren Zentrum seine Großeltern und ein bekannter Schriftstellerkollege des Großvaters stehen.
Schulmans Großvater, ebenfalls eine bekannte literarische Größe, war nicht nur unter den Kollegen, sondern auch im Familienkreis wegen seiner Wutausbrüche und Scharfzüngigkeit gefürchtet.
Anhand von authentischen Tagebuchauszügen und Briefen rekonstruiert Schulman eine dramatische Liebesgeschichte, die die Stimmung in der Familie über Generationen nachhaltig beeinflussen wird.

Wow, was für ein Buch!
Mir hatte ja schon ‚Die Überlebenden‘ gut gefallen, von daher hatte ich auch hier mit einem guten Buch gerechnet, aber nicht damit. Zumindest nicht bei dieser Thematik.
Denn dieses Buch ist spannender als mancher Krimi und von einer ganz besonderen Intensität. Der Autor baut die Geschichte ganz langsam auf, ausgehend von seiner eigenen Verzweiflung an sich selbst. Die Passagen der Gegenwart wechseln sich mit den Erinnerungen des Autors an seine Großeltern und den Briefen und Tagebucheinträgen ab. Dabei dringt der Autor immer mehr zu den damaligen Ereignissen vor und das hat durchaus eine detektivische Komponente, die mich völlig in den Bann gezogen hat. Ich hab das Buch mehr oder weniger in einem Zug durchgelesen.

Sehr vieles ist mir dabei durch den Kopf gegangen. Ich war beeindruckt von der Grundmotivation des Autors, der eigenen Betroffenheit. Traurig über das Schicksal der Großmutter, empört über das Verhalten des Großvaters und sehr, sehr berührt von der Tragik dieser Liebesgeschichte.

Das Wissen, dass der Roman auf wahren Begebenheit beruht, macht diese Geschichte noch intensiver. Ein Buch, dass ich aus vollem Herzen empfehlen kann.

Bewertung: 4.5 von 5.

Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe. München: dtv, 2022 (Schwedische Originalausgabe 2018)

Fernando Aramburu: Die Mauersegler

Toni lebt als Gymnasiallehrer in Madrid und ist mit seinem Leben maximal unzufrieden. Der Job ödet ihn an, ebenso, wie die Menschen, die ihn umgeben. Mittlerweile von seiner Frau getrennt und im Dauerzwist mit seinem Bruder, lebt er zurückgezogen mit seinem Hund Pepa in einer kleinen Wohnung. Kontakt hat er lediglich zu seinem Freund Humpel, wenn man von sporadischen Begegnungen mit seinem Sohn absieht, den er ziemlich missraten findet.
Dieses Lebens überdrüssig beschließt er, seinem Leben in genau 365 Tagen ein Ende zu setzen, beginnend mit dem 31. Juli. In 365 Kapiteln schreibt er über sein bisheriges Leben und die Tage, die ihm noch bleiben.

Klingt nach einem Buch, nachdem man sich am liebsten gleich selbst erschießen möchte und tatsächlich, besonders lebensbejahend ist es auf den ersten Blick nicht. Wäre da nicht dieser herrlich skurrile Ich-Erzähler, der seine eigenen Pläne ad absurdum führt.
Und so hat dieses Buch trotz der Thematik auch nicht den erwartbaren depressiven Unterton, sondern ist ganz im Gegenteil ausgesprochen komisch – zumindest für meinen Geschmack.

Es gibt ja immer wieder diese Bücher, bei denen man beim Lesen die Hälfte der Zeit blöde vor sich hingrinst und zwischendurch immer wieder laut lachen muss und das gehört für mich definitiv dazu.
Das liegt im Wesentlichen an der Figur des Erzählers selbst, der seine gesamte Umgebung und auch sich selbst mit seinen zynischen, schwarzhumorigen Betrachtungen überzieht.
Und das ist so voller Sprachwitz, dass es für mich eine absolute Freude war, dieses Buch zu lesen.

Obwohl Toni alles andere als ein pflegeleichter Zeitgenosse und Menschenfreund ist, habe ich ihn irgendwie ins Herz geschlossen – vielleicht gerade wegen seiner sperrigen Art. Und weil er mit Selbstkritik nicht spart – immerhin gehen seine spöttischen Bemerkungen auch häufig an die eigene Adresse und schaffen so auch eine Distanz zu manch gewöhnungsbedürftigen Sichtweisen. Gleiches gilt für seine ebenfalls nicht ganz einfachen Freunde Humpel und Agueda, die später zu dem Männerduo dazustößt.

In Gesprächen über das Buch wurde teilweise Kritik an der sprunghaften Erzählweise geäußert. Tatsächlich springen die einzelnen, kurz gehaltenen Kapitel zwischen Zeiten und Ereignissen hin und her, was in der Geschichte begründet ist. Toni schreibt am Abend die Gedanken nieder, die ihm in den Sinn kommen und die sind nicht chronologisch geordnet. Es gibt Bücher, bei denen mich so etwas auch wahnsinnig macht. Hier stört es mich gar nicht, ich finde es im Gegenteil sehr passend und macht das Ganze deutlich dynamischer als eine chronologischer Erzählung.

Allerdings muss man sagen, dass hier ein paar Seiten weniger nicht geschadet hätten. Das Wesentliche hätte man wahrscheinlich auch auf 500 Seiten gut untergebracht, ohne dass es der Geschichte oder dem Erzählfluss geschadet hätte.

Trotzdem eine ganz klare Leseempfehlung von meiner Seite!

Bewertung: 4.5 von 5.

Fernando Aramburu: Die Mauersegler. Hamburg: Rowohlt Verlag, 2022

Chris Carter: Blutige Stufen

Detektiv Hunter und sein Kollege Garcia sind Extreme gewohnt. Immerhin arbeiten sie seit vielen Jahren in der Ultra Violent Crimes Unit des Los Angeles Police Departements. Aber der Tatort, an den sie gerufen werden, verschlägt selbst ihnen die Sprache. Dieser Täter hat eine Botschaft und ein Ziel. Er möchte eine Lektion erteilen.

Wow, auf einen Thriller wie diesen hab ich gewartet. Vor einigen Jahren hab ich den ersten Band der Reihe gelesen, sie dann aber nicht weiter verfolgt. Warum auch immer. Zum Glück habe ich beim aktuellen Band nochmal zugegriffen. Denn sonst hätte ich einen der besten Thriller verpasst, die ich jemals gelesen habe.

Unfassbar spannend von der ersten bis zur letzten Seite und mit einer Story, die es in sich hat. Dem Autor gelingt es auf geniale Art, mit den größtmöglichen Ängsten der Leser:innen zu spielen. Das hat absoluten Gänsehautfaktor und sensible Menschen sollten es vielleicht auch nicht lesen, wenn sie abends alleine zu Hause sind. Aber die müssen sich sowieso auf einiges gefasst machen, denn hier geht es ziemlich blutig zu, wie der Titel schon sagt.
Eigentlich mag ich extrem brutale Geschichten nicht. Zum einen finde ich Splatter und Co ziemlich abstoßend. Zum anderen wird in Thrillern oft darauf zurückgegriffen, um eine dünne Story auszugleichen. Das hat der Autor hier nicht nötig. Die Geschichte ist inhaltlich auf einem hohen Niveau und macht in dieser Konstruktion komplett Sinn. Auch wenn ich mich zwischendurch gefragt habe, ob das eine oder andere Detail in der Form so möglich ist. Aber im Großen und Ganzen ist es ist in sich stimmig und gerade das Ende ist wirklich gut gemacht. Und das Buch ist wirklich so spannend und mitreißend, dass ich da auch gerne ein Auge zudrücke.

Ich denke, dass dieser Geschichte sehr zu Gute kommt, dass der Autor als Kriminalpsychologe weiß, wovon er schreibt. Das macht seine Figuren glaubwürdig, auch wenn sie charakterlich nicht nicht bis ins Detail ausgearbeitet sind. Und wenn man dann noch gut schreiben kann, kommen Bücher wie dieses dabei heraus. Ganz großes Kino.

Bewertung: 4.5 von 5.

Chris Carter: Blutige Stufen. Berlin: Ullstein, 2022

Tom Voss: Hundstage für Beck

Kommissar Beck lässt sich nach einem traumatischen Polizeieinsatz in ein kleines Dorf in Norddeutschland versetzen und kämpft mit seinem Alkoholproblem.
Nach etlichen Gläsern zuviel überfährt er im Rausch eine Frau. Doch die Verletzungen der Frau und die Spuren am Auto deuten auf eine andere Todesursache hin…

Also vom Klappentext und Aufmachung her hat es mich spontan an Tatort erinnert und ein bisschen hat es auch davon. Aber von einer wirklich guten Folge.
Ich war ja zunächst bei dem Titel etwas skeptisch, ich finde ihn nicht so glücklich gewählt.
Aber vom Inhalt war ich sehr positiv überrascht.

Das ist ein gut entwickelter, solider Krimi, der durchweg ein Spannngslevel hält, ohne sich in ständigen überraschenden Wendung oder Gewaltorgien zu verlieren. Das ist jetzt nicht alles spektakulär, aber mir ist eine ruhig entwickelte und gut erzählte Geschichte oft lieber als dieser hektische Aktionismus, den man in vielen Thrillern findet.
Besonders gut gefallen hat mir das Ermittlerteam. Beide sehr authentisch und sympathisch. Vor allem Beck mochte ich in seiner unkonventionellen Art, was wahrscheinlich daran liegt, dass er einige Ähnlichkeit mit Nesbøs Harry Hole aufweist. Den mag ich auch.

Auch wenn das Rad hier nicht neu erfunden wird – es hat Spaß gemacht, dieses Buch zu lesen. Einfach entspannte unaufgeregte Unterhaltung, wie bei einem guten Tatort eben.

Bei Teil 2 bin ich wieder mit dabei, das klingt vielversprechend…

Bewertung: 4 von 5.

Tom Voss: Hundstage für Beck. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 2021