Henry Mulisch: Das Attentat

Es ist der letzte Kriegwinter im niederländischen Haarlem: In der von den Nationalsozialisten besetzten Stadt wird ein holländischer Offizier und stadtbekannter Faschist auf offener Straße erschossen.
Unglücklicherweise wird der Leichnam vor dem Haus des zwölfjährigen Anton abgelegt, dessen Familie sofort ins Visier der nach Rache sinnenden Besatzer gerät. Schon wenige Zeit später geht sein Elternhaus in Flammen auf, seine Familie wird er nie wiedersehen.
Nach dem Krieg versucht der mittlerweile Erwachsene die Erinnerung an diese schicksalhafte Nacht zu verdrängen, aber die Vergangenheit holt ihn immer wieder ein…

Manchmal braucht es gar nicht viel Text, um Großes zu sagen, wie dieses vergleichsweise schmale Buch mal wieder unter Beweis stellt. Hier geht es nicht nur um eine Geschichte, die mir persönlich sehr Nahe gegangen ist, sondern die auch viele ganz grundsätzliche moralische Fragen aufwirft, die mich wahrscheinlich auch noch länger beschäftigen werden.
Mulisch beschreibt hier sehr eindrücklich ein Erlebnis, das viele Menschen im Krieg erlebt haben und auch immer noch erleben – wie man von einer Minute auf die andere alles verliert. Eben noch mit der Familie beim Gesellschaftsspiel gesessen, sind kurze Zeit später alle Familienmitglieder tot und das gesamte Hab und Gut dem Erdboden gleichgemacht. Wenn man sich dann noch vergegenwärtigen, dass der einzige Überlebende gerade mal zwölf Jahre alt ist, muss man nicht nur einmal kräftig schlucken.
Aber nicht nur für’s Gemüt, sondern auch für den Kopf hat dieses Buch einiges zu bieten, beispielsweise in der Diskussion Antons mit dem Attentäter über das moralische Recht einen Tyrannen zu liquidieren und der Frage: „Wenn deine Eltern in einem der Häuser gewohnt hätten, hättest du ihn dann auch dort niedergeschossen?“
Wenn ein Buch es schafft, mit so wenigen Worten Kopf und Herz gleichermaßen anzusprechen und einen nachhaltigen Gedankenprozess in Gang zu bringen, dann ist hier etwas ganz Großartiges gelungen.

Bewertung: 4.5 von 5.

Harry Mulisch: Das Attentat. München: Hanser, 1986 (Niederl. Original 1982)

Frank Goldammer: Der Angstmann

Dresden 1944/45: Der letzte Kriegswinter plagt die Bevökerung mit Kälte und Entbehrung und an der Front hört man Gerüchte von schweren Verlusten. Als wenn das noch nicht genug wäre, setzt eine Reihe brutaler Morde die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Mehrere junge Frauen werden in den Ruinen grausamer verstümmelt aufgefunden. Das besonders Unheimliche daran: Immer wieder wurde von Anwohnern im Umfeld der Tatorte von einem verrücktes Lachen und Geheule berichtet, dass die Bevölkerung besonders beunruhigt. Über die Altersgrenzen hinweg wird schnell ein Spitznahme gefunden: Der Angstmann geht um!

Kriminalinspektor Max Heller ermittelt fieberhaft, als die Stadt im Februar 1945 im Bombenhagel versinkt. Doch die erste Annahme, dass der Mörder dabei ums Leben gekommen ist, erweist sich als Trugschluss…

Der Auftakt dieser Krimiserie um den Kommisar Max Heller beginnt historisch spektakulär, denn die Bombennacht in Dresden 1945 gehört zu einem der verheerensten Kriegsereignisse auf deutschem Boden. Allein die historische Schilderung könnte schon einen Roman abgegen und entsprechend fesselnd ist die historische Kulisse dieses ersten Krimibandes. Sowohl die Entbehrungen des Kriegswinters, als auch die Bombardierung selbst hat Goldammer sehr plastisch beschrieben, so dass man sich gut in die Zeit hineinversetzen kann und in ihrem ganzen Schrecken miterlebt. Das ist auf jeden Fall aufwühlend und bindet an die Lektüre.

Erhöht wird dieser Spannungsfaktor durch die bizarren Mordfälle, die durch die unheimliche Täterpersönlichkeit und die Ruinenkulisse eine sehr gruselige Atmospäre erzeugen. Das ist auf jeden Fall im ersten Teil des Buches sehr gut gemacht und ein großer Pluspunkt. Denn leider verliert sich das Ganze im zweiten Teil merklich und die spannende Atmospäre entwickelt sich zu zunehmendem überkonstruiertem Aktionismus. Die ermittelten Fakten der Morde werden für meinen Geschmack immer abstruser und auch die Auflösung ist in ihrer Motivation alles andere als originell, sondern eher ein Griff in die Klischeekiste.

Auch die Mordserie an sich finde ich unnötig brutal. Da wird mit viel Getöse um Aufmerksamkeit gebuhlt, die es an dieser Stelle gar nicht gebraucht hätte. In Bezug auf den Kriminalfall hätte von allem etwas weniger diesem Roman gut getan.

Abschließend noch ein Wort zur Figur des Ermittlers, der hier ja neu eingeführt wird. Natürlich muss sich diese neue Serie durch ihre Anlage mit Volker Kutschers Babylon Berlin Romanen messen, auch wenn es zeitlich etwas verschoben ist. An die Qualität von Kutscher kommt das natürlich in keiner Weise heran und das gilt auch für den Ermittler. Ich finde ihn zwar insgesamt recht sympathisch, aber im Vergleich zu Gereon Rath deutlich blasser.

Trotz der Mängel zum Ende hin ist es für mich eine Serie, die ich erstmal näher verfolgen möchte…

Bewertung: 3 von 5.

Frank Goldammer: Der Angstmann. München: dtv, 2016

Sonja Weichand: schuld bewusstsein

Nach einem Autounfall nimmt sich Anna eine Auszeit und fährt nach Würzburg, um die Geschichte ihrer Oma aufzuarbeiten. Die war zur Zeit des zweiten Weltkrieges überzeugte Nationalsozialistin und BDM Scharführerin.
Doch die traumatischen Umstände des Unfalls und die Auseinandersetzung mit den dunklen Kapiteln der Vergangenheit hinterlassen Spuren…

Debütromane sind ja immer so eine kleine Wundertüte, da einem die Erfahrungswerte fehlen. Noch dazu, wenn kein großer Verlag dahinter steht und für Publicity sorgt.
Aber welch eine positive Überraschung kam da aus dem Hut gezaubert!

Ein wirklich gut entwickelter Roman über ein großes Fragezeichen, das einem im historischen Rückblick immer wieder überkommt. Was waren das für Menschen, die Hitler folgten und auch noch bis kurz vor Kriegsende an ihn glaubten? Die einer offensichtlich menschenverachtenden und realitätsfremden Ideologie folgten und nicht wahrhaben wollten, dass der Krieg schon längst verloren war? Der Roman entschuldigt und relativiert nicht, sondern gibt eine Idee zur Motivation dahinter. Wie in dem vorliegenden Roman ist das oft ein komplexes Geflecht an Ursachen.
Das ist ohne Zweifel befremdlich und auch nicht immer einfach zu lesen, beispielweise als Rose-Marie in Erwägung zieht, ihren eigenen Vater zu denunzieren, aber es wird in diesem Kontext nachvollzienbar, wie es zu solchen Taten kommen konnte.
In diesem Roman hat mich vor allem die detaillierte Ausarbeitung des Alltags im Krieg beeindruckt. Das war sehr anschaulich und entsprechend beklemmend, vor allem die Schilderung der Bombardierung Würzburgs. Man ist sehr nah dran am Geschehen und kann sich dadurch ein ungefähres Bild von der Stimmung und dem Elend dieser Tage machen.

Der Roman besteht aus einem beständigen Wechsel zwischen Gegenwart und Rückblenden, der übrigens in den Übergängen sehr gut gemacht ist.
Anfangs hat es mich fast gestört, wenn ich aus der Vergangenheit gerissen wurde, weil mich diese Passagen sehr gefesselt haben. Die Szenen in der Gegenwart fand ich vergleichsweise fad. Doch dann entwickelt die Geschichte der schreibenden Enkelin eine ganz eigene, überraschende Dynamik und hat mich zum Schluss dann auch in diesen Sequenzen gepackt.

Abschließend kann ich diesem Roman nur viele Leser und vor allem die Aufmerksamkeit der Verlage wünschen. Wäre verdient.

Bewertung: 3.5 von 5.

Sonja Weichand: schuld bewusstsein. Norderstedt: Books on Demand, 2020