Alba de Céspedes: Aus ihrer Sicht

Alessandra muss von Beginn an in die Fußstapfen Ihres früh verstorbenen Bruders treten, von dem sie (mit einer leichten Abwandlung) auch den Namen geerbt hat. Als einziges Kind genießt sie die besondere Aufmerksamkeit der Mutter, mit der sie ein innige Verhältnis verbindet. Sie ist fasziniert von der Eleganz und den künstlerischen Fähigkeiten ihrer Mutter, die als Klaviervirtuosin wohlhabenden Damen Privatunterricht erteilt.
Der Vater hat für sie nur Verachtung übrig. Sie ist ihm zu dünn, zu hässlich und hat – so wie die literaturbegeisterte Tochter – eine Schraube locker, was er ihnen bei jeder Gelegenheit unmissverständlich unter die Nase reibt . Beide passen nicht in das Bild, dass man von italienischen Frauen in den 30er Jahren erwartet.
Als die Mutter versucht, aus diesem Gefängnis auszubrechen, bahnt sich eine Tragödie an…

Das Buch war für mich wie eine kleine Zeitreise ins Italien der 30er und 40er Jahre, dessen Atmosphäre die Autorin ganz wunderbar eingefangen hat. Ebenso wie die starken Frauenfigur, die versuchen, in dem patriarchialischen System ihre Nischen zu finden. Da spürt man an jeder Ecke den Geist des Aufbegehrens, offen oder im stillen und sehr viel Solidarität unter den Frauen. Dass die fiktive Ich-Erzählerin ihrer mutigen Mutter erzählerisch ein Denkmal setzt, ist sehr schön zu lesen.
Es wundert da nicht, dass sie einen ähnlich unbeugsamen Geist hat und sich für ihr Leben noch anderes vorstellt als Kinder zu kriegen und den Haushalt zu führen.
Sie beschließt zu studieren und ein unabhängiges Leben zu führen. Doch dann kreuzt Francesco ihren Weg, der im antifaschistischen Untergrund arbeitet…

Tja und hier wendet sich leider für mich auch die Geschichte. Denn Francesco ist zwar auf den ersten Blick deutlich umgänglicher als ihr griesgrämiger Vater, aber das Thema Gleichberechtigung kommt auch in seiner Welt nicht vor.
Nach dem ersten Teil des Romans hatte ich ja erwartet, dass sie Francesco ordentlich die Leviten liest.

Stattdessen hat die Liebe zu diesem Intellektuellen ihr aber sämtliche Zähne gezogen. Statt ihm gehörig in den Hintern zu treten, wird er angeschmachtet, was das Zeug hält und pausenlos die Liebe zu ihm beschworen, die er zunehmend immer weniger verdient. Das war für mich teilweise nur schwer auszuhalten und ich habe ständig Alessandras Temperament und Selbstbewusstsein aus der ersten Hälfte des Buches vermisst. Das Ende war einigermaßen überraschend, aber sehr stimmig und konsequent. Ein guter Abschluss, der den Titel auch erst dann wirklich erklärt. Auch wenn ich im zweiten Teil ganz schön gelitten habe, hat mir das Buch gut gefallen und ich kann es ohne Bedenken weiterempfehlen.

Bewertung: 3.5 von 5.

Alba de Céspedes: Aus ihrer Sicht. Berlin: Insel Verlag, 2023

Jean-Christophe Grangé: Die marmornen Träume

Berlin 1939: Während sich auf der politischen Bühne der zweite Weltkrieg anbahnt, führt der Psychoanalytiker und Traumforscher Simon Krauss ein komfortables Leben. Während er seine reichen Klientinnen verführt, lässt er sich gleichzeitig für sein Stillschweigen gut bezahlen. Denn sie sind allesamt Frauen der Nazi-Elite und haben viel zu verlieren.
Als eine von ihnen grausam ermordet wird, sucht der SS-Offizier Beween Antworten bei dem Psychoanalytiker. Und tatsächlich hatten einige seiner Patientinnen, allesamt Mitglieder im elitären Club der Adlon-Damen, vor ihrem Tod verstörende Träume, in denen derselbe bedrohliche Mann erschien.
Als weitere Frauen aus dem Kreis der Adlon Damen ermordet aufgefunden werden, wird Krauss immer mehr in die Ermittlungen der Gestapo verstrickt. Gemeinsam mit Beween und der Psychiaterin Minna von Hassel begibt er sich auf die Spur des Mörders…

Ich liebe ja Kriminalfälle in einer historischen Kulisse und wenn sie in meiner Heimatstadt Berlin spielen, umso besser. Die Zeit, in der die Geschichte spielt, ist ebenso gut gewählt, denn hier passieren schon an sich so viele erschreckende Dinge, dass man eigentlich gar keinen Kriminalfall braucht. Nun gibt es hier einen und der ist außergewöhnlich gut.
Besonders gefallen hat mir dabei, dass er inhaltlich sehr gut mit den ideologischen und politischen Entwicklungen dieser Zeit verknüpft ist. Das historische Setting ist also nicht nur eine interessante Kulisse, sondern aufs engste mit dem Kriminalfall verknüpft. Das war ausgesprochen gut gemacht, eine intelligent Konstruktio, die in sich schlüssig und überzeugend ist. Lediglich zum Ende hin gab es einen Aspekt, der für meinen Geschmack ein bisschen drüber war, was aber der Geschichte als solcher nicht groß geschadet hat.

Also unterm Strich ein ausgesprochen niveauvoller und durchweg spannender Thriller, für den ich eine uneingeschränkte Leseempfehlung aussprechen kann!

Besonders gelungen finde ich auch das ‚Ermittlertrio wider Willen‘, das unterschiedlicher nicht sein könnte. Jeder Charakter ist auf seine Art sehr speziell und grandios ausgearbeitet, ohne zu sehr von der eigentlichen Geschichte abzulenken. Eher durch Zufall zusammengewürfelt ergeben sie das perfekte Team. Das macht Lust, noch mehr von diesem Trio zu hören. Überhaupt ist es mir gerade ein Rätsel, warum ich nach den ‚Purpurenen Flüssen‘ nicht noch mehr von diesem Autor gelesen habe … muss ich dringend nachholen!

Bewertung: 4.5 von 5.

Jean-Christophe Grangé: Die marmornen Träume. Stuttgart: Tropen Verlag, 2023

Tom Rob Smith: Kind 44

Als in Moskau die Leiche eines kleinen Jungen auf den Bahngleisen entdeckt wird, lässt die Auffindesituation eigentlich keinen Zweifel zu: hier handelt es sich um ein Gewaltverbrechen. Doch das ist im Jahre 1953 im sowjetischen System nicht vorgesehen. Der Geheimdienstoffizier Leo Demidow bekommt den Auftrag, das Verbrechen als Unfall einzustufen und das auch unmissverständlich den verzweifelten Angehörigen klarzumachen, die weitere Ermittlungen fordern.
Die Angelegenheit scheint für Leo bereits erledigt, bis er aufgrund interner Machtkämpfe degradiert und in ein kleines Dorf versetzt wird. Dort stößt er überraschend auf neue Spuren des Verbrechens und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln…

Wir haben in der Leserunde festgestellt, dieses Buch zu bewerten, ist nicht einfach. Denn es geht dermaßen gut los, dass man denkt, das könnte ein Highlight werden. Die gesellschaftlichen Bedingungen und der Überwachungsapparat der Sowjetunion in den 50er Jahren sind sensationell gut herausgearbeitet und gibt einen guten Einblick in die Mechanismen eines Polizeistaates, in dem der Einzelnen völligster Willkür ausgesetzt ist. Was heute richtig ist, kann morgen schon falsch sein.
Unter diesen Bedingungen einen Mord aufzuklären – in einem Staat, in dem es offiziell gar keine Mörder gibt -, ist wahrlich eine Kunst und dieses Dilemma ist hier richtig gut herausgearbeitet worden.

Nur leider hat man spätestens ab der Hälfte begonnen, den eigentlichen Kriminalfall schmerzlich zu vermissen, der eigentlich bis zum Schluss eher im Hintergrund geblieben ist. Selbst als der Mörder irgendwann auf der Bildfläche erscheint, bleibt weiterhin Leo im Zentrum des Geschehens. Statt mehr über den Mörder oder die Taten selbst, dreht sich die Geschichte überwiegend um Leos Machtspiele mit seinem Kollegen, seine schwierige Ermittlungsarbeit und seine verkorkste Beziehung.

Das ist zwar nicht uninteressant und mit den vielen dramatischen Verwicklungen auch durchweg spannend, aber ich hätte mir da noch ein bisschen mehr Kriminalfall gewünscht. Das hätte mich aber alles nicht sonderlich gestört, wäre da nicht die Auflösung gewesen. Die Motivation des Täters fand ich doch sehr fragwürdig und wenig überzeugend. Vor allem wenn man denkt, dass die Geschichte auf einer wahren Begebenheit basiert und welche Motivation der reale Täter hatte. Unter diesem Blickwinkel wirkt es ein stückweit verharmlosend und wird der eigentlichen Geschichte nicht gerecht. Muss man in einer fiktiven Darstellung zwar nicht, aber wenn man einen realen Fall in dieser Deutlichkeit aufgreift, sollte man ihn nicht durch eine gänzlich andere Motivation des Täters verharmlosen. So bekommt dieser eigentlich gute Thriller durch das Ende einen etwas bitteren Nachgeschmack.

Bewertung: 3.5 von 5.

Tom Rob Smith: Kind 44. München: Goldmann Verlag, 2010

Alexander Oetker / Thi Linh Nguyen: Die Schuld, die uns verfolgt

Eines Morgens klingeln bei dem Polizisten-Ehepaar Linh-Thi und Adam Schmidt die Diensthandys. Während Adam zu einer Kindesentführung im Berliner Arbeiterbezirk Wedding gerufen wird, ist Linh-This Einsatz bei einem Banküberfall mit Geiselnahme im verschlafenen brandenburgischen Flecken-Zechlin gerfordert. Noch ahnt niemand, dass diese so ungleichen Fälle einiges verbindet…

Mit dem Ehepaar Schmidt betritt ein neues Ermittlerpaar die Berliner Krimi Bühne und präsentiert seinen ersten Fall, der auf mehreren Ebenen recht spektakulär daherkommt. Kindesentführung hier, Geiselnahme da ist sicherlich nicht das tägliche Brot der Polizei, aber das will man auch nicht in einem Krimi lesen und somit ist das auch ganz in Ordnung. Das ermittelnde Paar ist entgegen meiner Befürchtung sehr natürlich und kitschfrei, auch die Rekonstruktion ihres gemeinsamen Werdegangs hat mir gut gefallen. Die Anlage dieses Ermittlerteams hat also durchaus Potential.

Gut gelungen fand ich auch die Rückblenden in Linh This Vergangenheit, in der man einiges Interessantes rund um die vietnamesische Zigarettenmafia der 90er Jahre erfährt. Und immer wieder liebe ich es, mich in Romanen in meiner Heimatstadt wiederzufinden, deren Schauplätze man oft sehr genau kennt.
Die Story selbst ist gut konstruiert und über weite Strecken spannend. Thematisch war Geiselnahme und Entführung nicht ganz so mein Geschmack, aber für Fans von Tatort und Co sicher genau das Richtige. Also, ein solider, gut zu lesender Krimi mit einer Reihe spannender Momente.

Dem ich allerdings ein ABER anschließen möchte, da ich mich doch an einigen Stellen sehr über das Buch geärgert habe. Bereits zu Beginn wird sich über die Lehrerin aufgeregt, die ständig krankfeiert. Wenige Seiten später trifft es die Erzieherinnen, die – wahlweise inkompetent oder von vorgestern – ihrer Aufsichtspflicht nicht nachkommen.

Damit man die Seitenhiebe auf die Pädagogenzunft auch ja nicht überliest, wird am Ende des Romans nochmal nachgeschoben: „Ich bin am Zaun der Kita entlanggelaufen, als die Erzieherinnen wie so oft mal wieder was Besseres zu tun hatten, als auf die Kinder zu achten.“ (S. 300) Offenbar glaubt das Autorenduo noch an das Märchen der faulen Lehrerschaft oder der Erzieherinnen, die den ganzen Tag nur auf der Bank sitzen und Kaffee trinken. Daher gehen Grüße raus an die Lehrerinnen im realen Leben, die jeden Tag in überfüllten Klassen mit schwierigsten Kindern ihr Besstes geben, oft auf Kosten ihrer Gesundheit. An die Erzieherinnen, die aufgrund des Personalmangels immer größere Gruppen beaufsichtigen müssen. Auf dass solch undifferenzierte und unzeitgemäße Pauschalverurteilungen bald der Vergangenheit angehören!

Bewertung: 3.5 von 5.

Alexander Oetker / Thi Linh Nguyen: Die Schuld, die uns verfolgt. München: Piper Verlag, 2023

Niklas Natt och Dag: 1795

In diesem dritten und letzten Teil der Trilogie sind Emil Winge und sein Partner Jean Michael Cardell dem flüchtigen Tycho Ceton auf der Spur – Mitglied der Gesellschaft der Eumeniden, der (gemeinsam mit ihnen) zahlreiche grausame Straftaten zu verantworten hat. Ebenfalls spurlos verschwunden ist die ehemalige Spinnhäuslerin Anna Stina, die eine brisante Information mit sich trägt und nicht nur von dem ihr wohlgesonnen Cardell verzweifelt gesucht wird…

Ein ganz großer Pluspunkt dieser Trilogie ist die gut ausgearbeitete historische Kulisse, insbesondere der Schattenseiten Stockholms im ausgehenden 18. Jahrhundert. Verelendung, Gewalt und Machtmissbrauch sind allerorts gegenwärtig, die politischen Verhältnisse mehr als instabil. Durchgängig sehr gelungen finde ich auch das sehr ungewöhnliche, aber überaus charakterstarke ‚Ermittlerteam‘, allesamt wenig vorzeigbar und mit diversen Problemen beladen, aber mit dem Herz am rechten Fleck. Auch die erzählten Geschichten sind zum Teil hochdramatisch und spannend. Klingt also erstmal alles ganz gut.

Trotzdem habe ich schon nach dem ersten Teil mit mir gerungen, ob ich wirklich weiterlesen möchte, denn das Maß an Grausamkeiten und Perversionen, die hier präsentiert wurden, war für mich nur schwer auszuhalten. Nun konnte mich die Anlage der Geschichte im Hinblick auf die Fortsetzung doch so weit fesseln, dass ich schon wissen wollte. Und den zweiten Teil fand ich doch sehr stark, sowohl von der Story als auch vom Spannungsfaktor her. Hier war am Ende so vieles unabgeschlossen, dass ich wirklich auf diesen dritten Teil gewartet habe. Obwohl es mir auch da deutlich zu gewalttätig zuging, das hat mich auch im zweiten Teil wieder sehr abgestoßen.

Und auch, wenn im dritten Teil vieles nur angedeutet wird, wurden einem leider auch im dritten Teil der Trilogie diverse abstoßende Grausamkeiten nicht erspart. Das mag sein, dass man in dieser Zeit nicht zimperlich war und es sadistische Zirkel, wie die hier geschilderten, auch gegeben hat, aber ich mag sowas eigentlich nicht lesen.

Hätte ich wohl auch nicht, wenn ich gewusst hätte, dass die guten Anlagen des zweiten Teils so wenig aufgegriffen und weitergeführt werden. Für mich steckte da noch so viel Potential drin, das – aus mir unerklärlichen Gründen – kaum aufgegriffen wurde und schlichtweg verpufft ist. Das Ende fand ich entsprechend lau und gerade im Kontrast zum starken zweiten Teil war für mich fand dieser Abschlussband eher enttäuscht. Statt eines starken dramatischen Finales plätscherte die Geschichte oft vor sich hin, wirkte seltsam aufgebläht und kraftlos und war leider so ganz anders, als ich erhofft hatte.

Bewertung: 3 von 5.

Niklas Natt och Dag: 1795. München: Piper Verlag, 2022

Colson Whitehead: Underground Railroad

Cora ist bereits auf der Baumwollplantage geboren – als Tochter einer Sklavin, der die Flucht gelungen ist. Immer wieder plagen sie die Gedanken, warum ihre Mutter sie zurückgelassen hat. Da hört sie von ihrem Freund Caesar von der Underground Railroad – einer geheimen Schleuserorganisation, die Sklaven auf der Flucht aus der Gefangenschaft hilft. Es bedeutet maximales Risiko, denn wer erwischt wird, hat Schlimmstes zu befürchten…

Und das ist keine Floskel, denn was hier als abschreckendes Beispiel mit den geflohenen Sklaven gemacht wird, ist nur schwer zu ertragen. Da der Autor diverse historische Quellen herangezogen hat, muss man davon ausgehen, dass all die geschilderten Grausamkeiten, die an den Sklaven verübt wurden, den Tatsachen entsprechen und das hat mich sehr erschüttert und aufgewühlt. Szenen, in denen der Plantagenbesitzer mit seinen Gästen „kultiviert“ beim Abendessen sitzt, während direkt neben ihnen ein Sklave ausgepeitscht und bestialisch umgebracht wird, sind an Unmenschlichkeit kaum zu überbieten.
>>> Achtung: Ab hier nicht spoilerfrei!

Sehr gelungen finde ich, dass Whitehead in der Schilderung von Coras Flucht durch die verschiedenen Bundesstaaten nicht nur diese offensichtlichste und grausamste Variante des Rassismus zeigt, sondern auch seine verschiedenen Spielarten. Wie die vermeintliche Freiheit, die sich als freundliche Maske entpuppt und man sich bereits Gedanken macht, wie man die Vermehrung dieser „minderwertigen Rasse“ verhindern kann.
In diesem Sinne konsequent fand ich das offene Ende, das für den einen oder anderen vielleicht etwas unbefriedigend wirkt. Aber in übertragenen Sinne ist Coras Reise noch nicht zu Ende. Solange es Rassismus gibt, ist es nur eine weitere Variante des gleichen Missstands – Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe nicht als gleichwertig und gleichberechtigt zu behandeln.

Große Hochachtung hatte ich beim Lesen auch vor den Menschen, die sich unter Lebensgefahr für die Befreiung der Sklaven eingesetzt haben. Whitehead hat hier der Underground Railroad nochmal ein literarisches Denkmal gesetzt und dafür gebührt ihm große Anerkennung. Er ist zwar kritisiert worden, dass er das Schleusernetzwerk allzu wörtlich genommen und daraus eine Eisenbahnlinie gemacht hat, aber für meinen Geschmack kommt es auf die Message dahinter an und die ist definitiv angekommen. Ein wichtiges Buch, dass mich sehr berührt hat und mich noch weiter beschäftigen wird.

Bewertung: 4.5 von 5.

Colson Whitehead: Underground Railroad. Frankfurt/M.: Fischer Verlag, 2019 (Originalausgabe 2016, deutsch bei Hanser 2017)

Yrsa Sigurdardóttir: Geisterfjord

Drei junge Leute haben sich auf der verlassenen Insel Hesteyri, die nur noch in der Saison touristisch genutzt wird, ein altes Haus gekauft. Ihr Plan: es noch in den Wintermonaten zu renovieren, im Sommer als neues Gasthaus zu eröffnen und ein richtig gutes Geschäft zu machen. Ein waghalsiges Unterfangen, denn die Insel kann bei dem rauen Wetter nur an bestimmten Tagen angefahren werden und sie sind ohne Strom und Heizung auf sich allein gestellt. Und die unheimlichen Geschichten, die über das alte Haus kursieren, sind alles andere als einladend…

Das Buch klang für mich auf den ersten Blick so vielversprechend, dass ich es mir kürzlich gekauft und direkt gelesen habe. Unheimliche Geschichten von einer verlassenen isländischen Insel, an einem kalten Winterabend bei Kerzenschein, das könnte doch richtig gemütlich sein. Theoretisch.
Denn wenn man mal genauer drüber nachdenkt, ist es schon reichlich hirnverbrannt, auf einer einsamen Insel im Winter ohne Strom ein altes Haus restaurieren zu wollen – vor allem, wenn man handwerklich keinen blassen Schimmer hat und der nächste Obi denkbar weit weg ist. Aber ok, beide Augen zugedrückt, man braucht das Szenario für die gruselige Story. Die von der Anlage her auch jede Menge Potential für eine wirklich unheimliche Geschichte gehabt hätte. Nur leider hatte ich hier das Gefühl, dass die Autorin sämtliche Elemente gruseliger Geschichten, von denen sie jemals gehört hat, in dieses Buch einbauen wollte und zwar mit der Holzhammermethode. Das wurde einem derart plump ab Kapitel eins in kurzen Abständen serviert, dass ich es beim besten Willen nicht gruselig fand. Alle Elemente für sich, langsam aufgebaut und entwickelt, hätten es sein können, aber das war schriftstellerisch gar nicht gelungen. Stephen King beherrscht diese Kunst meisterhaft, weswegen seine Bücher auch doppelt bis dreifach so dick sind, aber danach schließt man die Tür ab und schaut unters Bett. In diesem Fall hätte sich die Autorin auch die zahlreichen Wiederholungen gespart.

Ich hab nicht mitgezählt, wie oft der Boden in der Küche geknarrt oder der Hund geknurrt hat, aber es war schon sehr oft. Dazu gab es bereits im ersten Drittel des Buches Szenen, bei denen ich nur mit dem Kopf schütteln konnte, so komplett unwahrscheinlich war das. Und damit meine ich nicht die übersinnlichen Phänomene, sondern das komplett irrationale Verhalten einzelner Leute. Niemand vergisst einfach so, dass er nachts Stimmen aus der Küche gehört hat. Vor allem, wenn man sowieso vermutet, dass auf der Insel jemand rumschleicht. Da weckt man doch seine Freunde und fragt, ob sie auch was hören, man schaut gemeinsam nach, was weiß ich. Hier wird weitergepennt und erstmal vergessen… Dann geht der Nächste in einer schon reichlich verängstigten Stimmung alleine los, um erstmal Bier zu holen – ich könnte noch länger so weitermachen. Daher abschließend die Frage, warum hab ich überhaupt weitergelesen? Ich habe gehofft, es wird besser. Und dann war ich neugierig, wie die Geschichte aufgelöst wird. Hat sich für mich leider gar nicht gelohnt, da am Ball zu bleiben, aber das ist wie alles Geschmackssache.

Allerdings hat mich ein Punkt wirklich aufgeregt. Wenn man meint, man müsste für die Steigerung der Dramatik das Thema Diabetes und Insulinmangel einbauen, der kann das ja machen. Aber man sollte sich doch zumindest die Mühe machen, die medizinischen Zusammenhänge zu recherchieren. Hier war so vieles falsch, dass es mich wirklich geärgert hat.

Bewertung: 1.5 von 5.

Yrsa Siguradardóttir: Geisterfjord. Frankfurt/M.: Fischer Verlag, 2011

Uwe Wittstock: Februar 33 – Der Winter der Literatur

Neunzig Jahre ist es jetzt her, dass dieser Monat als Beginn der Naziherrschaft in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Innerhalb weniger Wochen wurden das Parlament und sämtliche Grundrechte außer Kraft gesetzt.
Was das für die Intellektuellen und Kulturschaffenden des Landes bedeutete und wie sie diese Tage durchlebten, davon erzählt dieses Buch.

Auch wenn ich schon einiges über diese Zeit gelesen habe, bin ich immer wieder auf’s Neue entsetzt, wie schnell Hitlers Machtergreifung von statten ging und wie naiv ihm führende Politiker und Funktionäre dafür den Weg bereitet haben. Naiv aus heutiger Sicht, denn auch viele Intektuelle haben diese Entwicklung nicht kommen sehen und gingen davon aus, dass der Spuk bald vorbei ist. Noch zu Beginn des Monats schlägt Heinrich Mann den dringenden Rat eines Freundes zur Flucht in den Wind und hält es für übertriebene Panikmache. Nur sieben Tage später muss er unter größter Geheimhaltung das Land verlassen, bevor ihm der Pass entzogen wird. Buchstäblich in letzter Minute, denn schon am nächsten Tag durchsucht die SA seine Wohnung. So weitsichtig wie Joseph Roth sind seinerzeit nur die Wenigsten – so unvorstellbar erscheint das, was kommen wird. In einem Brief an Stefan Zweig schreibt er bereits Ende Januar 33:
„Inzwischen wird es Ihnen klar sein, daß wir großen Katastrophen zutreiben. Abgesehen von den privaten – unsere literarische und materielle Existenz ist ja vernichtet – führt das Ganze zum neuen Krieg. Ich gebe keinen Heller mehr auf unser Leben. Es ist gelungen, die Barberei regieren zu lassen. Machen Sie sich keine Illusionen. Die Hölle regiert.“ (S. 31)

Das Buch spiegelt die ganze Palette der Einschätzungen der politischen Lage innerhalb der damaligen Künstlerszene wieder und die jeweiligen Handlungen, die daraus folgten. Einige passten sich den veränderten Bedingungen an, andere bezahlten für ihre politische Einstellung mit dem Leben. Für die meisten führte der Weg ins Exil.

Für mich ein ausgesprochen interessantes und lesenswertes Buch. Allerdings sollte man schon einiges an Vorwissen über die Kulturschaffenden dieser Zeit mitbringen, um das Geschriebene besser einordnen zu können. Es fallen viele Namen und es ist daher hilfreich, wenn man dazu ein Bild vor Augen hat oder den einen oder anderen Klassiker kennt.

Bewertung: 4 von 5.

Uwe Wittstock: Februar 33 – Der Winter der Literatur. München: Beck, 2021

Sayaka Murata: Zeremonie des Lebens

Während die Autorin im deutschsprachigen Raum nur durch ihre Romane ‚Das Seidenraupenzimmer‘ und ‚Die Ladenhüterin‘ bekannt ist, wird sie in Japan vor allem wegen ihrer Kurzgeschichten gefeiert. Das könnte sich in Zukunft ändern, denn der Aufbau Verlag hat mit der ‚Zeremonie des Lebens‘ einen Band mit zwölf Kurzgeschichten herausgegeben. Oder auch nicht, denn die Themen in diesen Geschichten sind…nun ja, etwas gewöhnungsbedürftig und vielleicht nicht nach jedermanns Geschmack. Denn hier werden Tabus und kulturelle Übereinkünfte gebrochen und am Rande der Rationalität und Realität entlangspaziert.
Bereits der Klappentext verrät, dass man sich hier auf einiges gefasst machen muss. Zum Beispiel einen Zukunftsentwurf, bei denen man die Toten nicht bestattet, sondern zu Gebrauchsgegenständen verarbeitet oder auch – in einer anderen Geschichte – rituell verspeist…

Ich muss sagen, gerade die genannten Geschichten fand ich sehr grenzwertig und das wirft die Frage auf, ob sie hier nicht übers Ziel hinausgeschossen ist – abstoßend ist es allemal. Allerdings entwirft die Autorin ein Szenario, in dem das geschilderte Verhalten sehr logisch und nachvollziehbar hergeleitet wird. Denn letztlich handelt es sich um kulturelle Vereinbarungen, die so oder auch ganz anders sein könnten. Das stößt zumindest Denkprozesse an, zum Beispiel, dass unser Umgang mit den Toten vielleicht gute Gründe hat. Und letztlich sind so ziemlich alle der hier versammelten Geschichten eine Kritik an der Entgrenzung und Entfremdung der japanischen Gesellschaft, sowohl im Hinblick auf die Moral als auch im Umgang mit der Natur. Nur hat Murata für diese Kritik den ganz großen Hammer ausgepackt und das ist natürlich Geschmackssache, ob man die Form als angemessen oder übers Ziel hinausgeschossen empfindet.
Ich bin da tatsächlich hin- und hergerissen und hätte mir gerade im Hinblick auf die Geschichte mit den Möbeln gewünscht, sie hätte sie nicht geschrieben. Vermutlich hätte sie das mit einem deutschen Background auch nicht.

Trotzdem habe ich die Geschichten gerne gelesen. Zum einen aufgrund der bereits erwähnten Denkprozesse, die dadurch angeregt werden. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es eine ideale Lektüre für eine Leserunde, denn hier ergibt sich Diskussionsstoff ohne Ende. Zum anderen mag ich Muratas klare, unverstellte Sprache. Die hat mich sogar darüber hinweggetröstet, dass viele der Geschichten kein wirklich abgeschlossenes (und damit zufriedenstellendes) Ende hatten und irgendwie abgebrochen wirkten. Und letztlich hat die Autorin es geschafft, mit jeder Geschichte mein Interesse zu wecken, was bei Kurzgeschichten ja auch nicht immer ganz einfach ist. Das unterstreicht in jedem Fall ihre schriftstellerischen Qualitäten.

Bewertung: 4 von 5.

Sayaka Murata: Zeremonie des Todes. Berlin: Aufbau Verlag, 2022

Seishi Yokomizo: Die rätselhaften Honjin-Morde



Auch wenn man ihn hierzulande wahrscheinlich kaum bis gar nicht kennt, gehört Seishi Yakomizo in Japan zu den beliebtesten Autoren klassischer Kriminalromane. Dieses Buch ist der Auftakt einer Serie um den Privatdetektiv Kosuke Kindaichi, die bereits 1946 in Japan erschienen ist.
Bei Blumenbar / Aufbau Verlage ist dieser Klassiker nun auch in deutscher Übersetzung erschienen.

Darin geht es um ein grausames Verbrechen im Hause der angesehen Familie Ichiyanagi im Winter 1937. Der älteste Sohn und seiner frischvermählte Ehefrau werden noch in der Hochzeitsnacht ermordet. Das mysteriöse an dem Fall: das Verbrechen fand in einem von innen verschlossenen Raum statt…

Gleich zu Beginn war ich schon mal von der Erzählweise sehr angetan, denn hier berichtet eine Art Chronist von den schrecklichen Ereignissen in dem nicht näher benannten Dorf O. Auf diese Weise wird das Verbrechen schrittweise vor den Leser:innen ausgebreitet und man kommt nicht umhin, selbst mitzurätseln, wie sich diese seltsamen Morde zugetragen haben und wer dafür verantwortlich ist.
Nun kennt ja jede:r diese Rätsel, in denen sich irgendwer tot in einem verschlossenen Raum befindet und man herausfinden soll, wie dieser Mensch zu Tode gekommen ist und so ähnlich ist es auch hier.
Um ehrlich zu sein bin ich normalerweise kein Fan von diesen Rätseln, aber hier ist es etwas anderes. Denn das Rätsel ist eine wirklich gut erzählte Geschichte eingebettet.
Nun liegt es in der Natur dieser ‚Locked-Room-Murder-Mysterys‘, dass sie nicht ganz einfach zu durchschauen sind und schon mal um die Ecke gedacht werden muss. Von daher liegt die Auflösung auch hier nicht auf der Hand, ist aber sehr klug durchdacht und absolut glaubwürdig. Und das gilt noch viel mehr für die abschließend pråsentierte sentierte Motivlage des Täters. Selten war für mich ein Verbrechen in seiner Motivation so überzeugend erklärt wie hier. In seiner Art sehr speziell und gar nicht auf der Hand liegend, aber sensationell gut erklärt und aus dem Charakter des Täters hergeleitet.

Bewertung: 4.5 von 5.

Seishi Yokomizo: Die rätselhaften Honjin-Morde. Berlin: Blumenbar /Aufbau Verlage, 2022